Vorschlag zu einer Untersuchung der Kritik, auf welche das Urteil folgen kann

[259] Ich bin dem gelehrten Publikum auch vor das Stillschweigen verbunden, womit es eine geraume Zeit hindurch meine Kritik beehrt hat; denn dieses beweiset doch einen Aufschub[259] des Urteils, und also einige Vermutung, daß in einem Werke, was alle gewohnte Wege verläßt, und einen neuen einschlägt, in den man sich nicht so fortfinden kann, doch vielleicht etwas liegen möge, wodurch ein wichtiger, aber jetzt abgestorbener Zweig menschlicher Erkenntnisse neues Leben und Fruchtbarkeit bekommen könne, mithin eine Behutsamkeit, durch kein übereiltes Urteil den noch zarten Propfreis abzubrechen und zu zerstören. Eine Probe eines aus solchen Gründen verspäteten Urteils kommt mir nur eben jetzt in der Gothaischen gelehrten Zeitung vor Augen, dessen Gründlichkeit (ohne mein hiebei verdächtiges Lob in Betracht zu ziehen) aus der faßlichen und unverfälschten Vorstellung eines zu den ersten Prinzipien meines Werks gehörigen Stücks jeder Leser von selbst wahrnehmen wird.

Und nun schlage ich vor, da ein weitläuftig Gebäude unmöglich durch einen flüchtigen Überschlag so fort im Ganzen beurteilt werden kann, es von seiner Grundlage an, Stück vor Stück zu prüfen, und hiebei gegenwärtige Prolegomena als einen allgemeinen Abriß zu brauchen, mit welchem denn gelegentlich das Werk selbst verglichen werden könnte. Dieses Ansinnen, wenn es nichts weiter, als meine Einbildung von Wichtigkeit, die die Eitelkeit gewöhnlicher maßen allen eigenen Produkten leihet, zum Grunde hätte, wäre unbescheiden, und verdiente, mit Unwillen abgewiesen zu werden. Nun aber stehen die Sachen der ganzen spekulativen Philosophie so, daß sie auf dem Punkte sind, völlig zu erlöschen, obgleich die menschliche Vernunft an ihnen mit nie erlöschender Neigung hängt, die nur darum, weil sie unaufhörlich getäuscht wird, es jetzt, obgleich vergeblich, versucht, sich in Gleichgültigkeit zu verwandeln.

In unserm denkenden Zeitalter läßt sich nicht vermuten, daß nicht viele verdiente Männer jede gute Veranlassung benutzen sollten, zu dem gemeinschaftlichen Interesse der sich immer mehr aufklärenden Vernunft mit zu arbeiten, wenn sich nur einige Hoffnung zeigt, dadurch zum Zweck zu gelangen. Mathematik, Naturwissenschaft, Gesetze, Künste, selbst Moral etc. füllen die Seele noch nicht gänzlich aus; es bleibt immer noch ein Raum in ihr übrig, der[260] vor die bloße reine und spekulative Vernunft abgestochen ist, und dessen Leere uns zwingt, in Fratzen oder Tändelwerk, oder auch Schwärmerei, dem Scheine nach, Beschäftigung und Unterhaltung, im Grunde aber nur Zerstreuung zu suchen, um den beschwerlichen Ruf der Vernunft zu übertäuben, die ihrer Bestimmung gemäß etwas verlangt, was sie vor sich selbst befriedige, und nicht bloß zum Behuf anderer Absichten, oder zum Interesse der Neigungen in Geschäftigkeit versetze. Daher hat eine Betrachtung, die sich bloß mit diesem Umfange der vor sich selbst bestehenden Vernunft beschäftigt, darum, weil eben in demselben alle andere Kenntnisse, so gar Zwecke zusammenstoßen, und in ein Ganzes vereinigen müssen, wie ich mit Grunde vermute, vor jedermann, der es nur versucht hat, seine Begriffe so zu erweitern, einen großen Reiz, und ich darf wohl sagen, einen größeren, als jedes andere theoretische Wissen, welches man gegen jenes nicht leichtlich eintauschen würde.

Ich schlage aber darum diese Prolegomena zum Plane und Leitfaden der Untersuchung vor, und nicht des Werks selbst, weil ich mit diesem zwar, was den Inhalt, die Ordnung und Lehrart und die Sorgfalt betrifft, die auf jeden Satz gewandt worden, um ihn genau zu wägen und zu prüfen, ehe ich ihn hinstellete, auch noch jetzt ganz wohl zufrieden bin (denn es haben Jahre dazu gehört, mich nicht allein von dem Ganzen, sondern bisweilen auch nur von einem einzigen Satze in Ansehung seiner Quellen völlig zu befriedigen), aber mit meinem Vortrage in einigen Abschnitten der Elementarlehre, z.B. der Deduktion der Verstandesbegriffe, oder dem von den Paralogismen d. r. V., nicht völlig zufrieden bin, weil eine gewisse Weitläuftigkeit in denselben die Deutlichkeit hindert, an deren statt man das, was hier die Prolegomenen in Ansehung dieser Abschnitte sagen, zum Grunde der Prüfung legen kann.

Man rühmt von den Deutschen, daß, wozu Beharrlichkeit und anhaltender Fleiß erforderlich sind, sie es darin weiter als andere Völker bringen können. Wenn diese Meinung gegründet ist, so zeigt sich hier nun eine Gelegenheit, ein Geschäfte,[261] an dessen glücklichem Ausgange kaum zu zweifeln ist, und woran alle denkende Menschen gleichen Anteil nehmen, welches doch bisher, nicht gelungen war, zur Vollendung zu bringen, und jene vorteilhafte Meinung zu bestätigen; vornehmlich, da die Wissenschaft, welche es betrifft, von so besonderer Art ist, daß sie auf einmal zu ihrer ganzen Vollständigkeit und in denjenigen beharrlichen Zustand gebracht werden kann, da sie nicht im mindesten weiter gebracht, und durch spätere Entdeckung weder vermehrt, noch auch nur verändert werden kann (den Ausputz durch hin und wieder vergrößerte Deutlichkeit oder angehängten Nutzen in allerlei Absicht rechne ich hieher nicht), ein Vorteil, den keine andere Wissenschaft hat, noch haben kann, weil keine ein so völlig isoliertes, von andern unabhängiges und mit ihnen unvermengtes Erkenntnisvermögen betrifft. Auch scheint dieser meiner Zumutung der jetzige Zeitpunkt nicht ungünstig zu sein, da man jetzt in Deutschland fast nicht weiß, womit man sich, außer den so genannten nützlichen Wissenschaften noch sonst beschäftigen könne, so daß es doch nicht bloßes Spiel, sondern zugleich Geschäfte sei, wodurch ein bleibender Zweck erreicht wird.

Wie die Bemühungen der Gelehrten zu einem solchen Zweck vereinigt werden könnten, dazu die Mittel zu ersinnen, muß ich andern überlassen. Indessen ist meine Meinung nicht, irgend jemanden eine bloße Befolgung meiner Sätze zuzumuten, oder mir auch nur mit der Hoffnung derselben zu schmeicheln, sondern, es mögen sich, wie es zutrifft, Angriffe, Wiederholungen, Einschränkungen, oder auch Bestätigung, Ergänzung und Erweiterung, dabei zutragen: wenn die Sache nur von Grund aus untersucht wird, so kann es jetzt nicht mehr fehlen, daß nicht ein Lehrgebäude, wenn gleich nicht das meinige, dadurch zu Stande komme, was ein Vermächtnis vor die Nachkommenschaft werden kann, davor sie Ursache haben wird, dankbar zu sein.

Was, wenn man nur allererst mit den Grundsätzen der Kritik in Richtigkeit ist, vor eine Metaphysik, ihr zu Folge, könne erwartet werden und wie diese keinesweges dadurch, daß man ihr die falsche Federn abgezogen, armselig und zu[262] einer nur kleinen Figur herabgesetzt erscheinen dürfe, sondern in anderer Absicht reichlich und anständig ausgestattet erscheinen könne: würde hier zu zeigen zu weitläuftig sein; allein andere große Nutzen, die eine solche Reform nach sich ziehen würde, fallen so fort in die Augen. Die gemeine Metaphysik schaffte dadurch doch schon Nutzen, daß sie die Elementarbegriffe des reinen Verstandes aufsuchte, um sie durch Zergliederung deutlich und durch Erklärungen bestimmt zu machen. Dadurch ward sie eine Kultur vor die Vernunft, wohin diese sich auch nachher zu wenden gut finden möchte; allein das war auch alles Gute, was sie tat. Denn dieses ihr Verdienst vernichtete sie dadurch wieder, daß sie durch waghalsige Behauptungen den Eigendünkel, durch subtile Ausflüchte und Beschönigung die Sophisterei, und durch die Leichtigkeit, über die schwersten Aufgaben mit ein wenig Schulweisheit wegzukommen, die Seichtigkeit begünstigte, welche desto verführerischer ist, je mehr sie einerseits etwas von der Sprache der Wissenschaft, andererseits von der Popularität anzunehmen die Wahl hat und dadurch allen alles, in der Tat aber überall nichts ist. Durch Kritik dagegen wird unserem Urteil der Maßstab zugeteilt, wodurch Wissen von Scheinwissen mit Sicherheit unterschieden werden kann, und diese gründet dadurch, daß sie in der Metaphysik in ihre volle Ausübung gebracht wird, eine Denkungsart, die ihren wohltätigen Einfluß nachher auf jeden andern Vernunftgebrauch erstreckt und zuerst den wahren philosophischen Geist einflößt. Aber auch der Dienst, den sie der Theologie leistet, indem sie solche von dem Urteil der dogmatischen Spekulation unabhängig macht und sie eben dadurch wider alle Angriffe solcher Gegner völlig in Sicherheit stellt, ist gewiß nicht gering zu schätzen. Denn gemeine Metaphysik, ob sie gleich jener viel Vorschub verhieß, konnte doch dieses Versprechen nachher nicht erfüllen, und hatte noch überdem dadurch, daß sie spekulative Dogmatik zu ihrem Beistand aufgeboten, nichts anders getan, als Feinde wider sich selbst zu bewaffnen. Schwärmerei, die in einem aufgeklärten Zeitalter nicht aufkommen kann, als nur wenn sie sich hinter einer Schulmetaphysik[263] verbirgt, unter deren Schutz sie es wagen darf, gleichsam mit Vernunft zu rasen, wird durch kritische Philosophie aus diesem ihrem letzten Schlupfwinkel vertrieben, und über das alles kann es doch einem Lehrer der Metaphysik nicht anders als wichtig sein, einmal mit allgemeiner Beistimmung sagen zu können, daß, was er vorträgt, nun endlich auch Wissenschaft sei, und dadurch dem gemeinen Wesen würklicher Nutzen geleistet werde.[264]


Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977.
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