Der transzendentalen Hauptfrage dritter Teil.
Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?
§ 40

[197] Reine Mathematik und reine Naturwissenschaft hätten zum Behuf ihrer eigenen Sicherheit und Gewißheit keiner dergleichen Deduktion bedurft, als wir bisher von beiden zu Stande gebracht haben; denn die erstere stützt sich auf ihre eigene Evidenz; die zweite aber, obgleich aus reinen Quellen des Verstandes entsprungen, dennoch auf Erfahrung und deren durchgängige Bestätigung, welcher letztern Zeugnis sie darum nicht gänzlich ausschlagen und entbehren kann, weil sie mit aller ihrer Gewißheit dennoch, als Philosophie, es der Mathematik niemals gleich tun kann. Beide Wissenschaften hatten also die gedachte Untersuchung nicht vor sich, sondern vor eine andere Wissenschaft, nämlich Metaphysik, nötig.

Metaphysik hat es, außer mit Naturbegriffen, die in der Erfahrung jederzeit ihre Anwendung finden, noch mit reinen Vernunftbegriffen zu tun, die niemals in irgend einer nur immer möglichen Erfahrung gegeben werden, mithin mit Begriffen, deren objektive Realität (daß sie nicht bloße Hirngespinste sind), und mit Behauptungen, deren Wahrheit oder Falschheit durch keine Erfahrung bestätigt, oder aufgedeckt werden kann, und dieser Teil der Metaphysik ist überdem gerade derjenige, welcher den wesentlichen Zweck derselben, wozu alles andre nur Mittel ist, ausmacht, und so bedarf diese Wissenschaft einer solchen Deduktion um ihrer selbst willen. Die uns jetzt vorgelegte dritte Frage betrifft also gleichsam den Kern und das Eigentümliche der Metaphysik, nämlich die Beschäftigung der Vernunft bloß mit sich selbst, und, indem sie über ihre eigene Begriffe brütet, die unmittelbar daraus vermeintlich entspringende Bekanntschaft mit Objekten, ohne dazu der Vermittelung der Erfahrung nötig zu haben, noch überhaupt durch dieselbe dazu gelangen zu können.16[197]

Ohne Auflösung dieser Frage tut sich Vernunft niemals selbst gnug. Der Erfahrungsgebrauch, auf welchen die Vernunft den reinen Verstand einschränkt, erfüllt nicht ihre eigene ganze Bestimmung. Jede einzelne Erfahrung ist nur ein Teil von der ganzen Sphäre ihres Gebietes, das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist aber selbst keine Erfahrung, und dennoch ein notwendiges Problem vor die Vernunft, zu dessen bloßer Vorstellung sie ganz anderer Begriffe nötig hat, als jener reinen Verstandesbegriffe, deren Gebrauch nur immanent ist, d.i. auf Erfahrung geht, so weit sie gegeben werden kann, indessen daß Vernunftbegriffe auf die Vollständigkeit, d.i. die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung und dadurch über jede gegebne Erfahrung hinausgehen, und transzendent werden.

So wie also der Verstand der Kategorien zur Erfahrung bedurfte, so enthält die Vernunft in sich den Grund zu Ideen, worunter ich notwendige Begriffe verstehe, deren Gegenstand gleichwohl in keiner Erfahrung gegeben werden kann. Die letztern sind eben sowohl in der Natur der Vernunft, als die erstere in der Natur des Verstandes gelegen, und, wenn jene einen Schein bei sich führen, der leicht verleiten kann, so ist dieser Schein unvermeidlich, obzwar »daß er nicht verführe« gar wohl verhütet werden kann.

Da aller Schein darin besteht, daß der subjektive Grund des Urteils vor objektiv gehalten wird, so wird ein Selbsterkenntnis der reinen Vernunft, in ihrem transzendenten (überschwenglichen) Gebrauch das einzige Verwahrungsmittel gegen die Verirrungen sein, in welche die Vernunft gerät, wenn sie ihre Bestimmung mißdeutet, und dasjenige transzendenter Weise aufs Objekt an sich selbst bezieht, was nur ihr eigenes Subjekt und die Leitung desselben in allem immanenten Gebrauche angeht.
[198]



§ 41

Die Unterscheidung der Ideen, d.i. der reinen Vernunftbegriffe, von den Kategorien, oder reinen Verstandesbegriffen, als Erkenntnissen von ganz verschiedener Art, Ursprung und Gebrauch, ist ein so wichtiges Stück zur Grundlegung einer Wissenschaft, welche das System aller dieser Erkenntnisse a priori enthalten soll, daß, ohne eine solche Absonderung Metaphysik schlechterdings unmöglich oder höchstens ein regelloser stümperhafter Versuch ist, ohne Kenntnis der Materialien, womit man sich beschäftigt, und ihrer Tauglichkeit zu dieser oder jener Absicht ein Kartengebäude zusammenzuflicken. Wenn Kritik d. r. V. auch nur das allein geleistet hätte, diesen Unterschied zuerst vor Augen zu legen, so hätte sie dadurch schon mehr zur Aufklärung unseres Begriffs und der Leitung der Nachforschung im Felde der Metaphysik beigetragen, als alle fruchtlose Bemühungen, den transzendenten Aufgaben der r. V. ein Gnüge zu tun, die man von je her unternommen hat, ohne jemals zu wähnen, daß man sich in einem ganz andern Felde befände, als dem des Verstandes, und daher Verstandes- und Vernunftbegriffe, gleich als ob sie von einerlei Art wären, in einem Striche hernannte.


§ 42

Alle reine Verstandeserkenntnisse haben das an sich, daß sich ihre Begriffe in der Erfahrung geben, und ihre Grundsätze durch Erfahrung bestätigen lassen; dagegen die transzendenten Vernunfterkenntnisse sich, weder, was ihre Ideen betrifft, in der Erfahrung geben, noch ihre Sätze jemals durch Erfahrung bestätigen, noch widerlegen lassen; daher der dabei vielleicht einschleichende Irrtum durch nichts anders, als reine Vernunft selbst, aufgedeckt werden kann, welches aber sehr schwer ist, weil eben diese Vernunft vermittelst ihrer Ideen natürlicher Weise dialektisch wird, und dieser unvermeidliche Schein durch keine objektive und dogmatische Untersuchungen der Sachen, sondern bloß[199] durch subjektive, der Vernunft selbst, als einem Quell der Ideen, in Schranken gehalten werden kann.




§ 43

Es ist jederzeit in der Kritik mein größtes Augenmerk gewesen, wie ich nicht allein die Erkenntnisarten sorgfältig unterscheiden, sondern auch allein zu jeder derselben gehörige Begriffe aus ihrem gemeinschaftlichen Quell ableiten könnte, damit ich nicht allein dadurch, daß ich unterrichtet wäre, woher sie abstammen, ihren Gebrauch mit Sicherheit bestimmen könnte, sondern auch den noch nie vermuteten, aber unschätzbaren Vorteil hätte, die Vollständigkeit in der Aufzählung, Klassifizierung und Spezifizierung der Begriffe a priori, mithin nach Prinzipien zu erkennen. Ohne dieses ist in der Metaphysik alles lauter Rhapsodie, wo man niemals weiß, ob dessen, was man besitzt, gnug ist, oder ob, und wo, noch etwas fehlen möge. Freilich kann man diesen Vorteil auch nur in der reinen Philosophie haben, von dieser aber macht derselbe auch das Wesen aus.

Da ich den Ursprung der Kategorien in den vier logischen Funktionen aller Urteile des Verstandes gefunden hatte, so war es ganz natürlich, den Ursprung der Ideen in den drei Funktionen der Vernunftschlüsse zu suchen; denn wenn einmal solche reine Vernunftbegriffe (transz. Ideen) gegeben sind, so könnten sie, wenn man sie nicht etwa vorangeboren halten will, wohl nirgends anders, als in derselben Vernunfthandlung angetroffen werden, welche, so fern sie bloß die Form betrifft, das Logische der Vernunftschlüsse, so fern sie aber die Verstandesurteile in Ansehung einer oder der andern Form a priori als bestimmt vorstellt, transzendentale Begriffe der reinen Vernunft ausmacht.

Der formale Unterschied der Vernunftschlüsse macht die Einteilung derselben in kategorische, hypothetische und disjunktive notwendig. Die darauf gegründete Vernunftbegriffe enthalten also erstlich die Idee des vollständigen Subjekts (Substantiale), zweitens die Idee der vollständigen[200] Reihe der Bedingungen, drittens die Bestimmung aller Begriffe in der Idee eines vollständigen Inbegriffs des Möglichen17. Die erste Idee war physiologisch, die zweite kosmologisch, die dritte theologisch, und, da alle drei zu einer Dialektik Anlaß geben, doch jede auf ihre eigene Art, so gründete sich darauf die Einteilung der ganzen Dialektik der reinen Vernunft: in den Paralogismus, die Antinomie, und endlich das Ideal derselben, durch welche Ableitung man völlig sicher gestellt wird, daß alle Ansprüche der reinen Vernunft hier ganz vollständig vorgestellt sind, und kein einziger fehlen kann, weil das Vernunftvermögen selbst, als woraus sie allen ihren Ursprung nehmen, dadurch gänzlich ausgemessen wird.


§ 44

Es ist bei dieser Betrachtung im allgemeinen noch merkwürdig : daß die Vernunftidee nicht etwa, so wie die Kategorien, uns zum Gebrauche des Verstandes in Ansehung der Erfahrung irgend etwas nutzen, sondern in Ansehung desselben völlig entbehrlich, ja wohl gar den Maximen des Vernunfterkenntnisses der Natur entgegen und hinderlich, gleichwohl aber doch in anderer noch zu bestimmender Absicht notwendig sein. Ob die Seele eine einfache Substanz sei, oder nicht, das kann uns zur Erklärung der Erscheinungen derselben ganz gleichgültig sein; denn wir können den Begriff eines einfachen Wesens durch keine mögliche Erfahrung sinnlich, mithin in concreto verständlich machen,[201] und so ist er, in Ansehung aller verhofften Einsicht in die Ursache der Erscheinungen, ganz leer, und kann zu keinem Prinzip der Erklärung dessen, was innere oder äußere Erfahrung an die Hand gibt, dienen. Eben so wenig können uns die kosmologischen Ideen vom Weltanfange, oder der Weltewigkeit (a parte ante) dazu nutzen, um irgend eine Begebenheit in der Welt selbst daraus zu erklären. Endlich müssen wir, nach einer richtigen Maxime der Naturphilosophie, uns aller Erklärung der Natureinrichtung, die aus dem Willen eines höchsten Wesens gezogen worden, enthalten, weil dieses nicht mehr Naturphilosophie ist, sondern ein Geständnis, daß es damit bei uns zu Ende gehe. Es haben also diese Ideen eine ganz andere Bestimmung ihres Gebrauchs, als jene Kategorien, durch die, und die darauf gebauten Grundsätze, Erfahrung selbst allererst möglich ward. Indessen würde doch unsre mühsame Analytik des Verstandes, wenn unsre Absicht auf nichts anders als bloße Naturerkenntnis, so wie sie in der Erfahrung gegeben werden kann, gerichtet wäre, auch ganz überflüssig sein; denn Vernunft verrichtet ihr Geschäfte, so wohl in der Mathematik als Naturwissenschaft, auch ohne alle diese subtile Deduktion ganz sicher und gut: also vereinigt sich unsre Kritik des Verstandes mit den Ideen der reinen Vernunft zu einer Absicht, welche über den Erfahrungsgebrauch des Verstandes hinausgesetzt ist, von welchem wir doch oben gesagt haben, daß er in diesem Betracht gänzlich unmöglich, und ohne Gegenstand oder Bedeutung sei. Es muß aber dennoch zwischen dem, was zur Natur der Vernunft und des Verstandes gehört, Einstimmung sein, und jene muß zur Vollkommenheit der letztern beitragen, und kann sie unmöglich verwirren.

Die Auflösung dieser Frage ist folgende: Die reine Vernunft hat unter ihren Ideen nicht besondere Gegenstände, die über das Feld der Erfahrung hinauslägen, zur Absicht, sondern fodert nur Vollständigkeit des Verstandesgebrauchs im Zusammenhange der Erfahrung. Diese Vollständigkeit aber kann nur eine Vollständigkeit der Prinzipien, aber nicht der Anschauungen und Gegenstände sein. Gleichwohl, um sich jene bestimmt vorzustellen, denkt sie sich solche,[202] als die Erkenntnis eines Objekts, dessen Erkenntnis in Ansehung jener Regeln vollständig bestimmt ist, welches Objekt aber nur eine Idee ist, um die Verstandeserkenntnis der Vollständigkeit, die jene Idee bezeichnet, so nahe wie möglich zu bringen.

16

Wenn man sagen kann, daß eine Wissenschaft wenigstens in der Idee aller Menschen wirklich sei, so bald es ausgemacht ist, daß die Aufgaben, die darauf führen, durch die Natur der menschlichen Vernunft jedermann vorgelegt, und daher auch jederzeit darüber viele, obgleich fehlerhafte, Versuche unvermeidlich sind, so wird man auch sagen müssen: Metaphysik sei subiective (und zwar notwendiger Weise) wirklich, und da fragen wir also mit Recht, wie sie (obiective) möglich sei.

17

Im disjunktiven Urteile betrachten wir alle Möglichkeit, respektiv auf einen gewissen Begriff, als eingeteilt. Das ontologische Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines Dinges überhaupt (von allen möglichen entgegengesetzten Prädikaten kommt jedem Dinge eines zu), welches zugleich das Prinzip aller disjunktiven Urteile ist, legt den Inbegriff aller Möglichkeit zum Grunde, in welchem die Möglichkeit jedes Dinges überhaupt als bestimmter angesehen wird. Dieses dient zu einer kleinen Erläuterung des obigen Satzes: daß die Vernunfthandlung in disjunktiven Vernunftschlüssen der Form nach mit derjenigen einerlei sei, wodurch sie die Idee eines Inbegriffs aller Realität zu Stande bringt, welche das Positive aller einander entgegengesetzten Prädikate in sich enthält.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 197-203.
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