I. Psychologische Ideen

[204] (Kritik, S. 341 u. f.)


§ 46

Man hat schon längst angemerkt, daß uns an allen Substanzen das eigentliche Subjekt, nämlich das, was übrig bleibt, nachdem alle Akzidenzen (als Prädikate) abgesondert worden, mithin das Substantiale selbst, unbekannt sei, und über diese Schranken unsrer Einsicht vielfältig Klagen geführt. Es ist aber hiebei wohl zu merken, daß der menschliche Verstand darüber nicht in Anspruch zu nehmen sei: daß er das Substantiale der Dinge nicht kennt, d.i. vor sich allein bestimmen kann, sondern vielmehr darüber, daß er es, als eine bloße Idee, gleich einem gegebenen Gegenstande bestimmt, zu erkennen verlangt. Die reine Vernunft fodert, daß wir zu jedem Prädikate eines Dinges sein ihm zugehöriges Subjekt, zu diesem aber, welches notwendiger Weise wiederum nur Prädikat ist, fernerhin sein Subjekt und so forthin ins Unendliche (oder so weit wir reichen) suchen sollen. Aber hieraus folgt, daß wir nichts, wozu wir gelangen können, vor ein letztes Subjekt halten sollen, und daß das Substantial selbst niemals von unserm noch so tief eindringenden[204] Verstande, selbst wenn ihm die ganze Natur aufgedeckt wäre, gedacht werden könne; weil die spezifische Natur unseres Verstandes darin besteht, alles diskursiv, d.i. durch Begriffe, mithin auch durch lauter Prädikate zu denken, wozu also das absolute Subjekt jederzeit fehlen muß. Daher sind alle reale Eigenschaften, dadurch wir Körper erkennen, lauter Akzidenzen, so gar die Undurchdringlichkeit, die man sich immer nur als die Wirkung einer Kraft vorstellen muß, dazu uns das Subjekt fehlt.

Nun scheint es, als ob wir in dem Bewußtsein unserer selbst (dem denkenden Subjekt) dieses Substantiale haben, und zwar in einer unmittelbaren Anschauung; denn alle Prädikate des innern Sinnes beziehen sich auf das Ich, als Subjekt, und dieses kann nicht weiter als Prädikat irgend eines andern Subjekts gedacht werden. Also scheint hier die Vollständigkeit in der Beziehung der gegebenen Begriffe als Prädikate auf ein Subjekt nicht bloß Idee, sondern der Gegenstand, nämlich das absolute Subjekt selbst, in der Erfahrung gegeben zu sein. Allein diese Erwartung wird vereitelt. Denn das Ich ist gar kein Begriff18, sondern nur Bezeichnung des Gegenstandes des innern Sinnes, so fern wir es durch kein Prädikat weiter erkennen, mithin kann es zwar an sich kein Prädikat von einem andern Dinge sein, aber eben so wenig auch ein bestimmter Begriff eines absoluten Subjekts, sondern nur, wie in allen andern Fällen, die Beziehung der innern Erscheinungen auf das unbekannte Subjekt derselben. Gleichwohl veranlaßt diese Idee (die gar wohl dazu dient, als regulatives Prinzip alle materialistische Erklärungen der innern Erscheinungen unserer Seele gänzlich zu vernichten)19 durch einen ganz natürlichen Mißverstand ein sehr scheinbares Argument, um, aus diesem vermeinten Erkenntnis von dem Substantiale unseres denkenden[205] Wesens, seine Natur, so fern die Kenntnis derselben ganz außer den Inbegriff der Erfahrung hinausfällt, zu schließen.




§ 47

Dieses denkende Selbst (die Seele) mag nun aber auch als das letzte Subjekt des Denkens, was selbst nicht weiter als Prädikat eines andern Dinges vorgestellt werden kann, Substanz heißen: so bleibt dieser Begriff doch gänzlich leer, und ohne alle Folgen, wenn nicht von ihm die Beharrlichkeit, als das, was den Begriff der Substanzen in der Erfahrung fruchtbar macht, bewiesen werden kann.

Die Beharrlichkeit kann aber niemals aus dem Begriffe einer Substanz, als eines Dinges an sich, sondern nur zum Behuf der Erfahrung bewiesen werden. Dieses ist bei der ersten Analogie der Erfahrung hinreichend dargetan worden (Kritik, S. 182), und, will man sich diesem Beweise nicht ergeben, so darf man nur den Versuch selbst anstellen, ob es gelingen werde, aus dem Begriffe eines Subjekts, was selbst nicht als Prädikat eines andern Dinges existiert, zu beweisen, daß sein Dasein durchaus beharrlich sei, und daß es, weder an sich selbst, noch durch irgend eine Naturursache entstehen, oder vergehen könne. Dergleichen synthetische Sätze a priori können niemals an sich selbst, sondern jederzeit nur in Beziehung auf Dinge, als Gegenstände einer möglichen Erfahrung, bewiesen werden.


§ 48

Wenn wir also aus dem Begriffe der Seele als Substanz auf Beharrlichkeit derselben schließen wollen: so kann dieses von ihr doch nur zum Behuf möglicher Erfahrung, und nicht von ihr, als einem Dinge an sich selbst und über alle mögliche Erfahrung hinaus gelten. Nun ist die subjektive Bedingung aller unserer möglichen Erfahrung das Leben: folglich kann nur auf die Beharrlichkeit der Seele im Leben geschlossen werden, denn der Tod des Menschen ist das Ende aller Erfahrung, was die Seele als einen Gegenstand derselben[206] betrifft, wofern nicht das Gegenteil dargetan wird, als wovon eben die Frage ist. Also kann die Beharrlichkeit der Seele nur im Leben des Menschen (deren Beweis man uns wohl schenken wird) aber nicht nach dem Tode (als woran uns eigentlich gelegen ist) dargetan werden, und zwar aus dem allgemeinen Grunde, weil der Begriff der Substanz, so fern er mit dem Begriff der Beharrlichkeit als notwendig verbunden angesehen werden soll, dieses nur nach einem Grundsatze möglicher Erfahrung und also auch nur zum Behuf derselben sein kann.20


§ 49

Daß unseren äußeren Wahrnehmungen etwas Wirkliches außer uns, nicht bloß korrespondiere, sondern auch korrespondieren müsse, kann gleichfalls niemals als Verknüpfung der Dinge an sich selbst, wohl aber zum Behuf der Erfahrung bewiesen werden. Dieses will so viel sagen: daß etwas auf empirische Art, mithin als Erscheinung im Raume außer[207] uns sei, kann man gar wohl beweisen; denn mit andern Gegenständen, als denen, die zu einer möglichen Erfahrung gehören, haben wir es nicht zu tun, eben darum, weil sie uns in keiner Erfahrung gegeben werden können, und also vor uns nichts sein. Empirisch außer mir ist das, was im Raume angeschaut wird, und da dieser samt allen Erscheinungen, die er enthält, zu den Vorstellungen gehört, deren Verknüpfung nach Erfahrungsgesetzen eben sowohl ihre objektive Wahrheit beweiset, als die Verknüpfung der Erscheinungen des innern Sinnes die Wirklichkeit meiner Seele (als eines Gegenstandes des innern Sinnes), so bin ich mir vermittelst der äußern Erfahrung eben sowohl der Wirklichkeit der Körper, als äußerer Erscheinungen im Raume, wie vermittelst der innern Erfahrung des Daseins meiner Seele in der Zeit, bewußt, die ich auch nur, als einen Gegenstand des innern Sinnes, durch Erscheinungen, die einen innern Zustand ausmachen, erkennen, und wovon mir das Wesen an sich selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegt, unbekannt ist. Der Cartesianische Idealism unterscheidet also nur äußere Erfahrung vom Traume, und die Gesetzmäßigkeit, als ein Kriterium der Wahrheit der erstern, von der Regellosigkeit und dem falschen Schein der letztern. Er setzt in beiden Raum und Zeit als Bedingungen des Daseins der Gegenstände voraus, und frägt nur, ob die Gegenstände äußerer Sinne wirklich im Raum anzutreffen sein, die wir darin im Wachen setzen, so wie der Gegenstand des innern Sinnes, die Seele, wirklich in der Zeit ist, d.i. ob Erfahrung sichere Kriterien der Unterscheidung von Einbildung bei sich führe. Hier läßt sich der Zweifel nun leicht heben, und wir heben ihn auch jederzeit im gemeinen Leben dadurch, daß wir die Verknüpfung der Erscheinungen in beiden nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung untersuchen, und können, wenn die Vorstellung äußerer Dinge damit durchgehends übereinstimmt, nicht zweifeln, daß sie nicht wahrhafte Erfahrung ausmachen sollten. Der materiale Idealism, da Erscheinungen als Erscheinungen nur nach ihrer Verknüpfung[208] in der Erfahrung betrachtet werden, läßt also sich sehr leicht heben, und es ist eine eben so sichere Erfahrung, daß Körper außer uns (im Raume) existieren, als daß ich selbst, nach der Vorstellung des innern Sinnes (in der Zeit) da bin: Denn der Begriff: außer uns, bedeutet nur die Existenz im Raume. Da aber das Ich, in dem Satze: Ich bin, nicht bloß den Gegenstand der innern Anschauung (in der Zeit), sondern das Subjekt des Bewußtseins, so wie Körper nicht bloß die äußere Anschauung (im Raume) sondern auch das Ding an sich selbst bedeutet, was dieser Erscheinung zum Grunde liegt: so kann die Frage: ob die Körper (als Erscheinungen des äußern Sinnes) außer meinen Gedanken als Körper existieren, ohne alles Bedenken in der Natur verneinet werden; aber darin verhält es sich gar nicht anders mit der Frage, ob ich selbst als Erscheinung des innern Sinnes (Seele nach der empirischen Psychologie) außer meiner Vorstellungskraft in der Zeit existiere, denn diese muß eben so wohl verneinet werden. Auf solche Weise ist alles, wenn es auf seine wahre Bedeutung gebracht wird, entschieden, und gewiß. Der formale Idealism (sonst von mir transzendentale genannt) hebt wirklich den materiellen oder Cartesianischen auf. Denn wenn der Raum nichts als eine Form meiner Sinnlichkeit ist, so ist er als Vorstellung in mir eben so wirklich, als ich selbst, und es kommt nur noch auf die empirische Wahrheit der Erscheinungen in demselben an. Ist das aber nicht, sondern der Raum und Erscheinungen in ihm sind etwas außer uns Existierendes, so können alle Kriterien der Erfahrung außer unserer Wahrnehmung niemals die Wirklichkeit dieser Gegenstände außer uns beweisen.

18

Wäre die Vorstellung der Apperzeption, das Ich, ein Begriff, wodurch irgend etwas gedacht würde, so würde es auch als Prädikat von andern Dingen gebraucht werden können, oder solche Prädikate in sich enthalten. Nun ist es nichts mehr als Gefühl eines Daseins ohne den mindesten Begriff und nur Vorstellung desjenigen, worauf alles Denken in Beziehung (relatione accidentis) steht.

19

[In der Originalausgabe fehlt der Text zu diesem Anmerkungszeichen.]

20

Es ist in der Tat sehr merkwürdig, daß die Metaphysiker jederzeit so sorglos über den Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanzen weggeschlüpft sind, ohne jemals einen Beweis davon zu versuchen; ohne Zweifel, weil sie sich, so bald sie es mit dem Begriffe Substanz anfingen, von allen Beweistümern gänzlich verlassen sahen. Der gemeine Verstand, der gar wohl inne ward, daß ohne diese Voraussetzung keine Vereinigung der Wahrnehmungen in einer Erfahrung möglich sei, ersetzte diesen Mangel durch ein Postulat; denn aus der Erfahrung selbst konnte er diesen Grundsatz nimmermehr ziehen, teils weil sie die Materien (Substanzen), bei allen ihren Veränderungen und Auflösungen, nicht so weit verfolgen kann, um den Stoff immer unvermindert anzutreffen, teils weil der Grundsatz Notwendigkeit enthält, die jederzeit das Zeichen eines Prinzips a priori ist. Nun wandten sie diesen Grundsatz getrost auf den Begriff der Seele als einer Substanz an, und schlossen auf eine notwendige Fortdauer derselben nach dem Tode des Menschen (vornehmlich da die Einfachheit dieser Substanz, welche aus der Unteilbarkeit des Bewußtseins gefolgert ward, sie wegen des Unterganges durch Auflösung sicherte). Hätten sie die echte Quelle dieses Grundsatzes gefunden, welches aber weit tiefere Untersuchungen erforderte, als sie jemals anzufangen Lust hatten, so würden sie gesehen haben: daß jenes Gesetz der Beharrlichkeit der Substanzen nur zum Behuf der Erfahrung stattfinde, und daher nur auf Dinge, so fern sie in der Erfahrung erkannt und mit andern verbunden werden sollen, niemals aber von ihnen auch unangesehen aller möglichen Erfahrung, mithin auch nicht von der Seele nach dem Tode gelten könne.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 204-209.
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