§ 3. Anmerkung zur allgemeinen Einteilung der Urteile in analytische und synthetische

[129] Diese Einteilung ist in Ansehung der Kritik des menschlichen Verstandes unentbehrlich, und verdient daher in ihr klassisch zu sein; sonst wüßte ich nicht, daß sie irgend anderwärts einen beträchtlichen Nutzen hätte. Und hierin finde ich auch die Ursache, weswegen dogmatische Philosophen, die die Quellen metaphysischer Urteile immer nur in der Metaphysik selbst, nicht aber außer ihr, in den reinen Vernunftgesetzen überhaupt, suchten, diese Einteilung, die sich von selbst darzubieten scheint, vernachlässigten, und wie der berühmte Wolff, oder der seinen Fußstapfen folgende scharfsinnige Baumgarten den Beweis von dem Satze des zureichenden Grundes, der offenbar synthetisch ist, im Satze des Widerspruchs suchen konnten. Dagegen treffe ich schon in Lockes Versuchen über den menschlichen Verstand einen Wink zu dieser Einteilung an. Denn im vierten Buch, dem dritten Hauptstück § 9 u. f., nachdem er schon vorher von der verschiedenen Verknüpfung der Vorstellungen in Urteilen und deren Quellen geredet hatte, wovon er die eine in der Identität oder Widerspruch[129] setzt (analytische Urteile), die andere aber in der Existenz der Vorstellungen in einem Subjekt (synthetische Urteile), so gesteht er § 10, daß unsere Erkenntnis (a priori) von der letztern sehr enge und beinahe gar nichts sei. Allein es herrscht in dem, was er von dieser Art der Erkenntnis sagt, so wenig Bestimmtes und auf Regeln Gebrachtes, daß man sich nicht wundern darf, wenn niemand, sonderlich nicht einmal Hume, Anlaß daher genommen hat, über Sätze dieser Art Betrachtungen anzustellen. Denn dergleichen allgemeine und dennoch bestimmte Prinzipien lernt man nicht leicht von andern, denen sie nur dunkel obgeschwebt haben. Man muß durch eigenes Nachdenken zuvor selbst darauf gekommen sein, hernach findet man sie auch anderwärts, wo man sie gewiß nicht zuerst würde angetroffen haben, weil die Verfasser selbst nicht einmal wußten, daß ihren eigenen Bemerkungen eine solche Idee zum Grunde liege. Die, so niemals selbst denken, besitzen dennoch die Scharfsichtigkeit, alles, nachdem es ihnen gezeigt worden, in demjenigen, was sonst schon gesagt worden, aufzuspähen, wo es doch vorher niemand sehen konnte.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 129-130.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Philosophische Bibliothek, Bd.40, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Philosophische Bibliothek, Bd.540, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Prolegomena Zu Einer Jeden Künftigen Metaphysik Die Als Wissenschaft Wird Auftreten Können (German Edition)