Viertes Hauptstück.
Theoretischer Schluß aus den gesamten Betrachtungen des ersten Teils

[960] Die Trüglichkeit einer Waage, die nach bürgerlichen Gesetzen ein Maß der Handlung sein soll, wird entdeckt, wenn man Ware und Gewichte ihre Schalen vertauschen läßt, und die Parteilichkeit der Verstandeswaage offenbaret sich durch eben denselben Kunstgriff, ohne welchen man auch in philosophischen Urteilen nimmermehr ein einstimmiges Fazit aus den verglichenen Abwiegungen herausbekommen kann. Ich habe meine Seele von Vorurteilen gereinigt, ich habe eine jede blinde Ergebenheit vertilgt, welche sich jemals einschlich, um manchem eingebildeten Wissen in mir Eingang zu verschaffen. Jetzo ist mir nichts angelegen, nichts ehrwürdig, als was durch den Weg der Aufrichtigkeit in einem ruhigen und vor alle Gründe zugänglichem Gemüte Platz nimmt; es mag mein voriges Urteil bestätigen oder aufheben, mich bestimmen oder unentschieden lassen. Wo ich etwas antreffe, das mich belehrt, da eigne ich es mir zu. Das Urteil desjenigen, der meine Gründe widerlegt, ist mein Urteil, nachdem ich es vorerst gegen die Schale der Selbstliebe und nachher in derselben gegen meine vermeintliche Gründe abgewogen und in ihm einen größeren Gehalt gefunden habe. Sonst betrachtete ich den allgemeinen menschlichen Verstand bloß aus dem Standpunkte des meinigen: jetzt setze ich mich in die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft, und beobachte meine Urteile samt ihren geheimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte anderer. Die Vergleichung beider Beobachtungen gibt zwar starke Parallaxen, aber sie ist auch das einzige Mittel, den optischen Betrug zu verhüten, und die Begriffe an die wahre Stellen zu[960] setzen, darin sie in Ansehung der Erkenntnisvermögen der menschlichen Natur stehen. Man wird sagen, daß dieses eine sehr ernsthafte Sprache sei, vor eine so gleichgültige Aufgabe, als wir abhandeln, die mehr ein Spielwerk als eine ernstliche Beschäftigung genannt zu werden verdient, und man hat nicht Unrecht, so zu urteilen. Allein, ob man zwar über eine Kleinigkeit keine große Zurüstung machen darf, so kann man sie doch gar wohl bei Gelegenheit derselben machen, und die entbehrliche Behutsamkeit beim Entscheiden in Kleinigkeiten kann zum Beispiele in wichtigen Fällen dienen. Ich finde nicht, daß irgend eine Anhänglichkeit, oder sonst eine vor der Prüfung eingeschlichene Neigung meinem Gemüte die Lenksamkeit nach allerlei Gründen vor oder dawider benehme, eine einzige ausgenommen. Die Verstandeswaage ist doch nicht ganz unparteiisch, und eine Arm derselben, der die Aufschrift führet: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen Vorteil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Spekulationen von an sich größeren Gewichte auf der andern Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann, und die ich in der Tat auch niemals heben will. Nun gestehe ich, daß alle Erzählungen vom Erscheinen abgeschiedener Seelen oder von Geistereinflüssen, und alle Theorien von der mutmaßlichen Natur geistiger Wesen und ihrer Verknüpfung mit uns, nur in der Schale der Hoffnung merklich wiegen; dagegen in der der Spekulation aus lauter Luft zu bestehen scheinen. Wenn die Ausmittelung der aufgegebenen Frage nicht mit einer vorher schon entschiedenen Neigung in Sympathie stände, welcher Vernünftige würde wohl unschlüssig sein, ob er mehr Möglichkeit darin finden sollte, eine Art Wesen anzunehmen, die mit allem, was ihm die Sinne lehren, gar nichts Ähnliches haben, als einige angebliche Erfahrungen dem Selbstbetruge und der Erdichtung beizumessen, die in mehreren Fällen nicht ungewöhnlich sind?

Ja dieses scheint auch überhaupt von der Beglaubigung der Geistererzählungen, welche so allgemeinen Eingang finden,[961] die vornehmste Ursache zu sein, und selbst die ersten Täuschungen von vermeinten Erscheinungen abgeschiedener Menschen sind vermutlich aus der schmeichelhaften Hoffnung entsprungen, daß man noch auf irgend eine Art nach dem Tode übrig sei, da denn bei nächtlichen Schatten oftmals der Wahn die Sinne betrog, und aus zweideutigen Gestalten Blendwerke schuf, die der vorhergehenden Meinung gemäß waren, woraus denn endlich die Philosophen Anlaß nahmen, die Vernunftidee von Geistern auszudenken und sie in Lehrverfassung zu bringen. Man sieht es auch wohl meinem anmaßlichen Lehrbegriff von der Geistergemeinschaft an, daß er eben dieselbe Richtung nehme, in den die gemeine Neigung einschlägt. Denn die Sätze vereinbaren sich sehr merklich nur dahin, um einen Begriff zu geben, wie der Geäst des Menschen aus dieser Welt herausgehe,12 d.i. vom Zustande nach dem Tode; wie er aber hineinkomme, d.i. von der Zeugung und Fortpflanzung, davon erwähne ich nichts; ja so gar nicht einmal, wie er in dieser Welt gegenwärtig sei, d.i. wie eine immaterielle Natur in einem Körper und durch denselben wirksam sein könne; alles um einer sehr gültigen Ursache willen, welche diese ist, daß ich hievon insgesamt nichts verstehe, und folglich mich wohl hätte bescheiden können, eben so unwissend in Ansehung des künftigen Zustandes zu sein, wofern nicht die Parteilichkeit einer Lieblingsmeinung denen Gründen die sich darboten, so schwach sie auch sein mochten, zur Empfehlung gedienet hätte.

Eben dieselbe Unwissenheit macht auch, daß ich mich nicht unterstehe, so gänzlich alle Wahrheit an den mancherlei Geistererzählungen abzuleugnen, doch mit dem gewöhnlichen[962] obgleich wunderlichen Vorbehalt, eine jede einzelne derselben in Zweifel zu ziehen, allen zusammen genommen aber einigen Glauben beizumessen. Dem Leser bleibt das Urteil frei; was mich aber anlangt, so ist zum wenigsten der Ausschlag auf die Seite der Gründe des zweiten Hauptstücks bei mir groß gnug, mich bei Anhörung der mancherlei befremdlichen Erzählungen dieser Art ernsthaft und unentschieden zu erhalten. Indessen da es niemals an Gründen der Rechtfertigung fehlt, wenn das Gemüt vorher eingenommen ist, so will ich dem Leser mit keiner weiteren Verteidigung dieser Denkungsart beschwerlich fallen.

Da ich mich itzt beim Schlüsse der Theorie von Geistern befinde, so unterstehe ich mir noch zu sagen: daß diese Betrachtung, wenn sie von dem Leser gehörig genutzt wird, alle philosophische Einsicht von dergleichen Wesen vollende, und daß man davon vielleicht künftighin noch allerlei meinen, niemals aber mehr wissen könne. Dieses Vorgeben klingt ziemlich ruhmrätig. Denn es ist gewiß kein den Sinnen bekannter Gegenstand der Natur, von dem man sagen könnte, man habe ihn durch Beobachtung oder Vernunft jemals erschöpft, wenn es auch ein Wassertropfen, ein Sandkorn, oder etwas noch Einfacheres wäre; so unermeßlich ist die Mannigfaltigkeit desjenigen, was die Natur in ihren geringsten Teilen einem so eingeschränkten Verstande, wie der menschliche ist, zur Auflösung darbietet. Allein mit dem philosophischen Lehrbegriff von geistigen Wesen ist es ganz anders bewandt. Er kann vollendet sein, aber im negativem Verstande, indem er nämlich die Grenzen unserer Einsicht mit Sicherheit festsetzt, und uns überzeugt: daß die verschiedene Erscheinungen des Lebens in der Natur und deren Gesetze alles sein, was uns zu erkennen vergönnet ist, das Principium dieses Lebens aber, d.i. die geistige Natur, welche man nicht kennet, sondern vermutet, niemals positiv könne gedacht werden, weil keine Data hiezu in unseren gesamten Empfindungen anzutreffen sein, und daß man sich mit Verneinungen behelfen müsse, um etwas von allem Sinnlichen so sehr Unterschiedenes zu denken, daß aber selbst die Möglichkeit solcher Verneinungen weder auf[963] Erfahrung, noch auf Schlüssen, sondern auf einer Erdichtung beruhe, zu denen eine von allen Hülfsmitteln entblößte Vernunft ihre Zuflucht nimmt. Auf diesen Fuß kann die Pneumatologie der Menschen ein Lehrbegriff ihrer notwendigen Unwissenheit, in Absicht auf eine vermutete Art Wesen genannt werden, und als ein solcher der Aufgabe leichtlich adäquat sein.

Nunmehro lege ich die ganze Materie von Geistern, ein weitläuftig Stück der Metaphysik, als abgemacht und vollendet bei Seite. Sie geht mich künftig nichts mehr an. Indem ich den Plan meiner Nachforschung auf diese Art besser zusammenziehe, und mich einiger gänzlich vergeblichen Untersuchungen entschlage, so hoffe ich meine geringe Verstandesfähigkeit auf die übrige Gegenstände vorteilhafter anlegen zu können. Es ist mehrenteils umsonst, das kleine Maß seiner Kraft auf alle windichte Entwürfe ausdehnen zu wollen. Daher gebeut die Klugheit, sowohl in diesem als in andern Fällen, den Zuschnitt der Entwürfe den Kräften angemessen zu machen, und, wenn man das Große nicht füglich erreichen kann, sich auf das Mittelmäßige einzuschränken.[964]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 960-965.
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