Dritter Abschnitt.
Enthält einige Betrachtungen, welche zu der Anwendung des gedachten Begriffs auf die Gegenstände der Weltweisheit vorbereiten können

[801] Was ich bisdaher vorgetragen habe, sind nur die erste Blicke, die ich auf einen Gegenstand von Wichtigkeit, aber[801] nicht minderer Schwierigkeit werfe. Wenn man von den angeführten Beispielen, die begreiflich genug sind, zu allgemeinen Sätzen hinaufsteigt, so hat man Ursache, äußerst besorgt zu sein, daß sich auf einer unbetretenen Bahn Fehltritte zutragen können, die vielleicht nur im Fortgange bekannt werden. Ich gebe demnach dasjenige, was ich noch hierüber zu sagen habe, nur vor einen Versuch aus, der sehr unvollkommen ist, ob ich mir gleich von der Aufmerksamkeit, die man darauf etwa verwenden möchte, mannigfaltigen Nutzen verspreche. Ich weiß wohl: daß ein dergleichen Geständnis eine sehr schlechte Empfehlung zum Beifalle ist, vor diejenige, die einen dreisten dogmatischen Ton verlangen, um sich in eine jede Richtung bringen zu lassen, darin man sie haben will. Aber, ohne das mindeste Bedauren über den Verlust des Beifalls von dieser Art zu empfinden, sehe ich es einer so schlüpfrigen Erkenntnis, wie die metaphysische ist, vor viel gemäßer an, seine Gedanken zuvörderst der öffentlichen Prüfung darzulegen in der Gestalt unsicherer Versuche, als sie sogleich mit allem Ausputz von angemaßter Gründlichkeit und vollständiger Überzeugung anzukündigen, weil alsdenn gemeiniglich alle Besserung von der Hand gewiesen und ein jedes Übel, das darin anzutreffen ist, unheilbar wird.

1. Jedermann versteht leicht warum etwas nicht ist, in so ferne nämlich der positive Grund dazu mangelt, aber wie dasjenige, was da ist, aufhöre zu sein, dieses ist so leicht nicht verstanden. Es existiert z. E. anjetzo in meiner Seele die Vorstellung der Sonne durch die Kraft meiner Einbildung. Den folgenden Augenblick höre ich auf, diesen Gegenstand zu gedenken. Diese Vorstellung, welche war, hört in mir auf zu sein, und der nächste Zustand ist das Zero vom vorigen. Wollte ich zum Grunde hievon angeben: daß darum der Gedanke aufgehört wäre, weil ich im folgenden Augenblicke unterlassen hätte, ihn zu bewirken, so wäre die Antwort von der Frage gar nicht unterschieden; denn es ist eben hievon die Rede, wie eine Handlung, die wirklich geschieht, könne unterlassen werden, d.i. aufhören könne zu sein.[802]

Ich sage demnach: ein jedes Vergehen ist ein negatives Entstehen, d.i. es wird, um etwas Positives was da ist aufzuheben, eben so wohl ein wahrer Realgrund erfordert, als um es hervorzubringen wenn es nicht ist. Der Grund hievon ist in dem vorigen enthalten. Es sei a gesetzt; so ist nur a – a = 0, d.i. nur in so ferne ein gleicher aber entgegengesetzter Realgrund mit dem Grunde von a verbunden ist, kann a aufgehoben werden. Die körperliche Natur bietet allerwärts Beispiele davon dar. Eine Bewegung hört niemals gänzlich oder zum Teil auf, ohne daß eine Bewegkraft, welche derjenigen gleich ist, die die verlorene Bewegung hätte hervorbringen können, damit in der Entgegensetzung verbunden wird. Allein auch die innere Erfahrung über die Aufhebung der durch die Tätigkeit der Seele wirklich gewordenen Vorstellungen und Begierden stimmet damit sehr wohl zusammen. Man empfindet es in sich selbst sehr deutlich: daß, um einen Gedanken voll Gram bei sich vergehen zu lassen und aufzuheben, wahrhafte und gemeiniglich große Tätigkeit erfodert wird. Es kostet wirkliche Anstrengung, eine zum Lachen reizende lustige Vorstellung zu vertilgen, wenn man sein Gemüt zur Ernsthaftigkeit bringen will. Eine jede Abstraktion ist nichts anders, als eine Aufhebung gewisser klaren Vorstellungen, welche man gemeiniglich darum anstellt, damit dasjenige, was übrig ist, desto klarer vorgestellt werde. Jedermann weiß aber, wie viel Tätigkeit hiezu erfodert wird, und so kann man die Abstraktion eine negative Aufmerksamkeit nennen, das ist, ein wahrhaftes Tun und Handlen, welches derjenigen Handlung, wodurch die Vorstellung klar wird, entgegengesetzt ist, und durch die Verknüpfung mit ihr das Zero, oder den Mangel der klaren Vorstellung zuwege bringt. Denn sonst, wenn sie eine Verneinung und Mangel schlechthin wäre, so würde dazu eben so wenig Anstrengung einer Kraft erfodert werden, als dazu, daß ich etwas nicht weiß, weil niemals ein Grund dazu war, Kraft nötig ist.

Eben dieselbe Notwendigkeit eines positiven Grundes zu Aufhebung eines inneren Akzidens der Seele zeiget sich in der Überwindung der Begierden, wobei man sich der oben[803] angeführten Beispiele bedienen kann. Überhaupt aber, auch außer den Fällen da man sich dieser entgegengesetzten Tätigkeit so gar bewußt ist und die wir angeführt haben, hat man keinen genugsamen Grund, sie alsdenn in Abrede zu ziehen, wenn wir sie nicht in uns klar bemerken. Ich gedenke z. E. anjetzt an den Tiger. Dieser Gedanke verliert sich und es fällt mir dagegen der Schakal ein. Man kann freilich bei dem Wechsel der Vorstellungen eben keine besondere Bestrebung der Seele in sich wahrnehmen, die da wirkte, um eine von den gedachten Vorstellungen aufzuheben. Allein welche bewundernswürdige Geschäftigkeit ist nicht in den Tiefen unsres Geistes verborgen, die wir mitten in der Ausübung nicht bemerken, darum weil der Handlungen sehr viel sind, jede einzelne aber nur sehr dunkel vorgestellt wird. Die Beweistümer davon sind jedermann bekannt; man mag unter diesen nur die Handlungen in Erwägung ziehen, die unbemerkt in uns vorgehen, wenn wir lesen, so muß man darüber erstaunen. Man kann unter andern hierüber die Logik des Reimarus nachsehen, welcher hierüber Betrachtung anstellt. Und so ist zu urteilen, daß das Spiel der Vorstellungen und überhaupt aller Tätigkeiten unserer Seele, in so ferne ihre Folgen, nachdem sie wirklich waren, wieder aufhören, entgegengesetzte Handlungen voraussetzen, davon eine die Negative der andern ist, zu Folge den gewissen Gründen die wir angeführt haben, ob uns gleich nicht immer die innere Erfahrung davon belehren kann.

Wenn man die Gründe in Erwägung zieht, auf welchen die hier angeführte Regel beruht, so wird man alsbald inne: daß, was die Aufhebung eines existierenden Etwas anlangt, unter den Akzidenzien der geistigen Naturen desfalls kein Unterschied sein könne von denen Folgen wirksamer Kräfte in der körperlichen Welt, nämlich daß sie niemals anders aufgehoben werden als durch eine wahre entgegengesetzte Bewegkraft eines andern, und ein inneres Akzidens, ein Gedanke der Seele, kann nicht aufhören zu sein, ohne eine wahrhaftig tätige Kraft eben desselben denkenden[804] Subjekts. Der Unterschied betrifft hier nur die verschiedene Gesetze, welchen diese zweierlei Arten von Wesen untergeordnet sein; indem der Zustand der Materie niemals anders als durch äußere Ursache, der eines Geistes aber auch durch eine innere Ursache verändert werden kann; die Notwendigkeit der Realentgegensetzung bleibt indessen bei diesem Unterschiede immer dieselbe.

Ich bemerke nochmals, daß es ein betrügerischer Begriff sei, wenn man die Aufhebung der positiven Folgen der Tätigkeit unserer Seele glaubt verstanden zu haben, wenn man sie Unterlassungen nennt. Es ist überaus merkwürdig: daß je mehr man seine gemeinste und zuversichtlichste Urteile durchforscht, desto mehr man solche Blendwerke entdeckt, da wir mit Worten zufrieden sein, ohne etwas von den Sachen zu verstehen. Daß ich jetzo einen gewissen Gedanken nicht habe, ist, wenn er vorher auch nicht gewesen ist, daraus freilich verständlich genug, wenn ich sage, ich unterlasse dieses zu denken; denn dieses Wort bedeutet alsdenn den Mangel des Grundes, woraus der Mangel der Folge begriffen wird. Heißt es aber: woher ist ein Gedanke in mir nicht mehr, der kurz vorher war? so ist die vorige Antwort ganz nichtig. Denn dieses Nichtsein ist nunmehro eine Beraubung und das Unterlassen hat anjetzt einen ganz andern Sinn7, nämlich die Aufhebung einer Tätigkeit, die kurz vorher war. Dieses ist aber die Frage, die ich tue und bei der ich mich durch ein Wort nicht so leicht abspeisen lasse. Bei der Anwendung der gedachten Regel auf allerlei Fälle der Natur hat man viel Behutsamkeit nötig, damit man nicht fälschlich etwas Verneinendes vor positiv halte, welches leicht geschieht. Denn der Sinn des Satzes, den ich hier angeführt habe, gehet auf das Entstehen und Vergehen von etwas, das da positiv ist. Z. E. Das Vergehen einer Flamme, weil die Nahrung erschöpft ist, ist kein negatives Entstehen, d.i. es gründet sich nicht auf eine wahrhafte Bewegkraft, die derjenigen wodurch sie entsteht entgegengesetzt ist. Denn die Fortdauer einer Flamme ist nicht die Dauer einer Bewegung, die schon da ist, sondern die beständige Erzeugung[805] neuer Bewegungen anderer brennbarer Dunstteilchen8. Demnach ist das Aufhören der Flamme nicht das Aufheben einer wirklichen Bewegung, sondern der Mangel neuer Bewegungen und mehrerer Trennungen, darum weil die Ursache dazu fehlt, nämlich die fernere Nahrung des Feuers, welches alsdenn nicht als ein Aufheben einer existierenden Sache, sondern als der Mangel des Grundes zu einer möglichen Position (der weiteren Absonderung) muß angesehen werden. Doch genug hievon. Ich schreibe dieses, um den Versuchten in dergleichen Art von Erkenntnis Anlaß zu weiterer Betrachtung zu geben; die Unerfahrenen würden freilich mehr Erläuterung zu fodern berechtigt sein.

2. Die Sätze, die ich in dieser Nummer vorzutragen gedenke, scheinen mir von der äußersten Wichtigkeit zu sein. Vorher aber muß ich noch zu dem allgemeinen Begriffe der negativen Größen eine Bestimmung hinzutun, welche ich mit Bedacht oben bei Seite gesetzt habe, um die Gegenstände einer angestrengten Aufmerksamkeit nicht zu sehr zu häufen. Ich habe bisher die Gründe der realen Entgegensetzung nur erwogen, in so ferne sie Bestimmungen, deren eine die Negative der andern ist, wirklich in einem und eben demselben Dinge setzen, z. E. Bewegkräfte eben desselben Körpers nach einander gerade entgegengesetzten Richtungen, und da heben die Gründe ihre beiderseitige Folgen, nämlich die Bewegungen wirklich auf. Daher will ich vorjetzt diese Entgegensetzung die wirkliche nennen (oppositio actualis). Dagegen nennet man mit Recht solche Prädikate, die zwar verschiedenen Dingen zukommen, und eins die Folge des andern unmittelbar nicht aufheben, dennoch eins die Negative des andern, in so ferne ein jedes so beschaffen ist, daß es doch entweder die Folge des andern, oder wenigstens etwas, was eben so bestimmt ist wie diese Folge und ihr gleich ist, aufheben könnte. Diese Entgegensetzung[806] kann die mögliche heißen (oppositio potentialis). Beide sind real, d.i. von der logischen Opposition unterschieden, beide sind in der Mathematik beständig im Gebrauche und beide verdienen es auch in der Philosophie zu sein. An zwei Körpern, die gegen einander in eben derselben geraden Linie mit gleichen Kräften bewegt sein, können diese Kräfte, da sie sich im Stoße beiden Körpern mitteilen, eine der andern Negative genannt werden, und zwar im erstern Verstande durch die wirkliche Entgegensetzung. Bei zwei Körpern, die auf derselben geraden Linie in entgegenstehender Richtung sich mit gleichen Kräften von einander entfernen, ist eine der andern Negative; allein, da sie ihre Kräfte sich in diesem Falle nicht mitteilen, so stehen sie nur in potentialer Entgegensetzung, weil ein jeder eben so viel Kraft, als in dem andern Körper ist, wenn er auf einen solchen, der in derselben Richtung wie jener bewegt wäre, stieße, in ihm aufheben würde. So werde ich es auch in dem Nächstfolgenden von allen Gründen der realen Entgegensetzung in der Welt, und nicht bloß von denen, die den Bewegkräften zukommen, verstehen. Um aber auch von den übrigen ein Beispiel zu geben, so würde man sagen können, daß die Lust die ein Mensch hat und eine Unlust die ein ander hat in potentialer Entgegensetzung stehen, wie sie denn auch würklich gelegentlich eine die Folge der andern aufheben, indem bei diesem realen Widerstreit oftmals einer dasjenige vernichtigt, was der andere seiner Lust gemäß schaffet. Indem ich nun die Gründe, welche einander in beiderlei Verstande real entgegen gesetzt sein, ganz allgemein nehme, so verlange man von mir nicht, daß ich durch Beispiele in concreto diese Begriffe jederzeit augenscheinlich mache. Denn eben so klar und faßlich wie alles, was zu den Bewegungen gehört, der Anschauung kann gemacht werden, so schwer und undeutlich sind bei uns die Realgründe, die nicht mechanisch sein, um die Verhältnisse derselben zu ihren Folgen in der Entgegensetzung oder Zusammenstimmung begreiflich zu machen. Ich begnüge mich demnach, folgende Sätze in ihrem allgemeinen Sinne darzutun.

[807] Der erste Satz ist dieser. In allen natürlichen Veränderungen der Welt wird die Summe des Positiven, in so ferne sie dadurch geschätzt wird, daß einstimmige (nicht entgegengesetzte) Positionen addiert und real entgegengesetzte von einander abgezogen werden, weder vermehrt noch vermindert.

Alle Veränderung besteht darin: daß entweder etwas Positives was nicht war gesetzt, oder dasjenige was da war aufgehoben wird. Natürlich aber ist die Veränderung, in so ferne der Grund derselben eben so wohl wie die Folge zur Welt gehört. In dem ersten Falle demnach, da eine Position die nicht war gesetzt wird, ist die Veränderung ein Entstehen. Der Zustand der Welt vor dieser Veränderung ist in Ansehung dieser Position dem Zero = 0 gleich und durch dies Entstehen ist die reale Folge = A. Ich sage aber: daß, wenn A entspringt, in einer natürlichen Weltveränderung auch – A entspringen müsse, d.i. daß kein natürlicher Grund einer realen Folge sein könne, ohne zugleich ein Grund einer andern Folge zu sein, die die Negative von ihr ist.9 Denn dieweil die Folge nichts = 0 ist, außer in so ferne der Grund gesetzt ist, so enthält die Summe der Position in der Folge nicht mehr, als in dem Zustande der Welt enthalten war, in so ferne sie den Grund dazu enthielte. Es enthielt aber dieser Zustand von derjenigen Position, die in der Folge ist, das Zero, das heißt, in dem vorigen Zustande war die Position nicht, die in der Folge anzutreffen ist, folglich kann die Veränderung, die daraus fließt, im Ganzen der Welt, nach ihren würklichen oder potentialen Folgen, auch nicht anders als dem Zero gleich sein. Da nun einerseits die Folge positiv und = A ist, gleichwohl aber der ganze Zustand des Universum wie vorher in Ansehung der Veränderung A soll Zero = 0 sein, dieses aber unmöglich ist, außer in so fern A – A zusammenzunehmen ist, so fließt: daß niemals eine positive Veränderung[808] natürlicher Weise in der Welt geschehe, deren Folge nicht im Ganzen in einer würklichen oder potentialen Entgegensetzung die sich aufhebt bestehe. Diese Summe gibt aber Zero = 0 und vor der Veränderung war sie ebenfalls = 0, so daß sie dadurch weder vermehrt noch vermindert wor den.

In dem zweiten Fall, da die Veränderung in dem Aufbeben von etwas Positivem besteht, ist die Folge = 0. Es war aber der Zustand des gesamten Grundes nach der vorigen Nummer nicht bloß = A sondern A – A = 0. Also ist nach der Art zu schätzen, die ich hier voraus setze, die Position in der Welt weder vermehrt noch vermindert worden.

Ich will diesen Satz, der mir wichtig zu sein scheinet, zu erläutern suchen. In den Veränderungen der Körperwelt steht er als eine schon längst bewiesene mechanische Regel fest. Sie wird so ausgedrückt: Quantitas motus, summando vires corporum in easdem partes et subtrahendo eas quae vergunt in contrarias, per mutuam illorum actionem (conflictum, pressionem, attractionem) non mutatur. Aber, ob man diese Regel gleich nicht in der reinen Mechanik unmittelbar aus dem metaphysischen Grunde herleitet, woraus wir den allgemeinen Satz abgeleitet haben, so beruhet seine Richtigkeit doch in der Tat auf diesem Grunde. Denn das Gesetz der Trägheit, welches in dem gewöhnlichen Beweise die Grundlage ausmacht, entlehnt seine Wahrheit bloß von dem angeführten Beweisgrunde, wie ich leicht zeigen könnte, wenn ich weitläuftig sein dörfte.

Die Erläuterung der Regel, mit der wir uns beschäftigen, in denen Fällen der Veränderungen, die nicht mechanisch sind, z. E. derer in unserer Seele, oder die von ihr überhaupt abhängen, ist ihrer Natur nach schwer, wie überhaupt diese Würkungen so wohl als ihre Gründe bei weitem so faßlich und anschauend deutlich nicht können dargestellt werden, als die in der Körperwelt. Gleichwohl will ich, so viel es mir möglich zu sein scheint, hierin Licht zu verschaffen suchen.[809]

Die Verabscheuung ist eben so wohl was Positives als die Begierde. Die erste ist eine Folge einer positiven Unlust, wie diese die Folge einer Lust ist. Nun in so ferne wir an eben demselben Gegenstande Lust und Unlust zugleich empfinden, so sind die Begierden und Verabscheuungen desselben in einer würklichen Entgegensetzung. Allein in so ferne eben derselbe Grund, der an einem Objekte Lust veranlaßt, zugleich der Grund einer wahren Unlust an andern wird, so sind die Gründe der Begierden zugleich Gründe der Verabscheuungen, und es ist der Grund einer Begierde zugleich der Grund von etwas, das in einer realen Opposition damit steht, ob diese gleich nur potential ist. So wie die Bewegungen der Körper, die in derselben geraden Linie in entgegengesetzter Richtung sich von einander entfernen, ob sie gleich einer des andern Bewegung selber aufzuheben nicht bestrebt sein, dennoch eine als die Negative des andern angesehen wird, weil sie potential einander entgegen gesetzt sind. Diesemnach, ein so großer Grad der Begierde in jemand zum Ruhme entspringt, ein eben so großer Grad des Abscheues entsteht zugleich in Beziehung auf das Gegenteil, und dieser Abscheu ist zwar nur potential, so lange noch die Umstände nicht in der wirklichen Entgegensetzung in Ansehung der Ruhmbegierde stellen, gleichwohl ist durch eben dieselbe Ursache der Ruhmbegierde ein positiver Grund eines gleichen Grades der Unlust in der Seele festgesetzt, in so ferne sich die Umstände der Welt denen entgegengesetzt zutragen möchten, die die erstere begünstigen.10 Wir werden bald sehen, daß es in dem vollkommensten Wesen nicht so bewandt sei, und daß der Grund seiner höchsten Lust so gar alle Möglichkeit der Unlust ausschließe.

Bei den Handlungen des Verstandes finden wir so gar, daß, in je höherem Grade eine gewisse Idee klar oder deutlich[810] gemacht wird, desto mehr werden die übrige verdunkelt und ihre Klarheit verringert, so daß das Positive, was bei einer solchen Veränderung würklich wird, mit einer realen und wirklichen Entgegensetzung verbunden ist, die, wenn man alles nach der erwähnten Art zu schätzen zusammen nimmt, den Grad des Positiven durch die Veränderung weder vermehrt noch vermindert.

Der zweite Satz ist folgender: Alle Realgründe des Universum, wenn man diejenige summiert welche einstimmig sein und die von einander abzieht die einander entgegengesetzt sein, geben ein Fazit, das dem Zero gleich ist. Das Ganze der Welt ist an sich selbst nichts, außer in so ferne es durch den Willen eines andern etwas ist. Es ist demnach die Summe aller existierenden Realität, in so ferne sie in der Welt gegründet ist, vor sich selbst betrachtet dem Zero = 0 gleich. Ob nun gleich alle mögliche Realität in Verhältnis auf den göttlichen Willen ein Fazit gibt das positiv ist, so wird gleichwohl dadurch das Wesen einer Welt nicht aufgehoben. Aus diesem Wesen aber fließt notwendiger Weise, daß die Existenz desjenigen, was in ihr gegründet ist, an und vor sich allein dem Zero gleich sei. Also ist die Summe des Existierenden in der Welt in Verhältnis auf denjenigen Grund der außer ihr ist positiv, aber in Verhältnis der inneren Realgründe gegen einander dem Zero gleich. Da nun in dem ersten Verhältnisse niemals eine Entgegensetzung der Realgründe der Welt gegen den göttlichen Willen statt finden kann, so ist in dieser Absicht keine Aufhebung und die Summe ist positiv. Weil aber in dem zweiten Verhältnisse das Fazit Zero ist, so folgt, daß die positiven Gründe in einer Entgegensetzung stehen müssen, in welcher sie betrachtet und summiert Zero geben.


Anmerkung zur zweiten Nummer

Ich habe diese zwei Sätze in der Absicht vorgetragen, um den Leser zum Nachdenken über diesen Gegenstand einzuladen. Ich gestehe auch, daß sie vor mich selbst nicht licht genug, noch mit genugsamer Augenscheinlichkeit aus ihren Gründen einzusehen sind. Indessen bin ich gar sehr überführt,[811] daß unvollendete Versuche, im abstrakten Erkenntnisse problematisch vorgetragen, dem Wachstum der höhern Weltweisheit sehr zuträglich sein können; weil ein anderer sehr oft den Aufschluß in einer tief verborgenen Frage leichter antrifft, als derjenige, der ihm dazu Anlaß gibt und dessen Bestrebungen vielleicht nur die Hälfte der Schwierigkeiten haben überwinden können. Der Inhalt dieser Sätze scheint mir eine gewisse Würde an sich zu haben, welche wohl zu einer genauen Prüfung derselben aufmuntern kann, wofern man nur ihren Sinn wohl begreift, welches in dergleichen Art von Erkenntnis nicht so leicht ist.

Ich will indessen noch einigen Mißdeutungen vorzukommen suchen. Man würde mich ganz und gar nicht verstehen, wenn man sich einbildete, ich hätte durch den ersten Satz sagen wollen: daß überhaupt die Summe der Realität durch die Weltveränderungen gar nicht vermehrt noch vermindert werde. Dieses ist so ganz und gar nicht mein Sinn, daß auch die zum Beispiel angeführte mechanische Regel gerade das Gegenteil verstattet. Denn durch den Stoß der Körper wird die Summe der Bewegungen bald vermehrt bald vermindert, wenn man sie vor sich betrachtet, allein das Fazit, nach der zugleich beigefügten Art geschätzet, ist dasjenige, was einerlei bleibt. Denn die Entgegensetzungen sind in vielen Fällen nur potential, wo die Bewegkräfte einander würklich nicht aufheben und wo also eine Vermehrung statt findet. Allein nach der einmal zur Richtschnur angenommenen Schätzung müssen doch auch diese von einander abgezogen werden.

Eben so muß man bei der Anwendung dieses Satzes auf unmechanische Veränderungen urteilen. Ein gleicher Mißverstand würde es sein, wenn man sich einfallen ließe, daß nach eben demselben Satze die Vollkommenheit der Welt gar nicht wachsen könnte. Denn es wird ja durch diesen Satz gar nicht geleugnet, daß die Summe der Realität überhaupt nicht natürlicher Weise sollte vermehrt werden können. Überdem besteht in diesem Conflictus der entgegengesetzten Realgründe gar sehr die Vollkommenheit der Welt überhaupt, gleichwie der materiale Teil derselben ganz offenbar[812] bloß durch den Streit der Kräfte in einem regelmäßigen Laufe erhalten wird. Und es ist immer ein großer Mißverstand, wenn man die Summe der Realität mit der Größe der Vollkommenheit als einerlei ansieht. Wir haben oben gesehen, daß Unlust eben so wohl positiv sei wie Lust, wer würde sie aber eine Vollkommenheit nennen?

3. Wir haben schon angemerkt, daß es oftmals schwer sei auszumachen, ob gewisse Verneinungen der Natur bloße Mängel um eines fehlenden Grundes willen, oder Beraubungen sein aus der Realentgegensetzung zweier positiven Gründe. In der materialen Welt sind die Beispiele hievon häufig. Die zusammenhängende Teile eines jeden Körpers drucken gegen einander mit wahren Kräften (der Anziehung), und die Folge dieser Bestrebungen würde die Verringerung des Raumesinhalts sein, wenn nicht eben so wahrhafte Tätigkeiten ihnen im gleichen Grade entgegenwürkten, durch die Zurückstoßung der Elemente, deren Würkung der Grand der Undurchdringlichkeit ist. Hier ist Ruhe, nicht weil Bewegkräfte fehlen, sondern weil sie einander entgegen würken. Eben so ruhen die Gewichte an beiden Waagearmen, wenn sie nach den Gesetzen des Gleichgewichts am Hebel angebracht sind. Man kann diesen Begriff weit über die Grenzen der materialen Welt ausdehnen. Es ist eben nicht nötig, daß, wann wir glauben in einer gänzlichen Untätigkeit des Geistes zu sein, die Summe der Realgründe des Denkens und Begehrens kleiner sei als in dem Zustande, da sich einige Grade dieser Würksamkeit dem Bewußtsein offenbaren. Saget dem gelehrtesten Manne in den Augenblicken, da er müßig und ruhig ist, daß er etwas erzählen und von seiner Einsicht soll hören lassen. Er weiß nichts, und ihr findet ihn in diesem Zustande leer, ohne bestimmte Erwägungen oder Beurteilungen. Gebt ihm nur Anlaß durch eine Frage, oder durch eure eigene Urteile. Seine Wissenschaft offenbart sich in einer Reihe von Tätigkeiten, die eine solche Richtung haben, daß sie ihm und euch das Bewußtsein dieser seiner Einsicht möglich machen. Ohne Zweifel waren die Realgründe dazu lange in ihm anzutreffen, aber da die Folge in Ansehung des Bewußtseins Zero war, so mußten sie einander[813] in so ferne entgegen gesetzt gewesen sein. So liegt derjenige Donner, den die Kunst zum Verderben erfand, in dem Zeughause eines Fürsten aufbehalten zu einem künftigen Kriege, in drohender Stille, bis, wenn ein verräterischer Zunder ihn berührt, er im Blitze auffährt und um sich her alles verwüstet. Die Spannfedern, die unaufhörlich bereit waren aufzuspringen, lagen in ihm durch mächtige Anziehung gebunden, und erwarteten den Reiz eines Feuerfunkens, um sich zu befreien. Es steckt etwas Großes, und, wie mich dünkt, sehr Richtiges in dem Gedanken des Herrn von Leibniz: Die Seele befasset das ganze Universum mit ihrer Vorstellungskraft, obgleich nur ein unendlich kleiner Teil dieser Vorstellungen klar ist. In der Tat müssen alle Arten von Begriffen nur auf der innern Tätigkeit unsers Geistes, als auf ihrem Grunde, beruhen. Äußere Dinge können wohl die Bedingung enthalten, unter welcher sie sich auf eine oder andere Art hervortun, aber nicht die Kraft, sie würklich hervorzubringen. Die Denkungskraft der Seele muß Realgründe zu ihnen allen enthalten, so viel ihrer natürlicher Weise in ihr entspringen sollen, und die Erscheinungen der entstehenden und vergehenden Kenntnisse sind allem Ansehen nach nur der Einstimmung oder Entgegensetzung aller dieser Tätigkeit beizumessen. Man kann diese Urteile als Erläuterungen des ersten Satzes der vorigen Nummer ansehen.

In moralischen Dingen ist das Zero gleichfalls nicht immer als eine Verneinung des Mangels zu betrachten, und eine positive Folge von mehr Größe nicht jederzeit ein Beweis von einer größeren Tätigkeit, die in der Richtung auf diese Folge angewandt worden. Gebet einem Menschen zehn Grade Leidenschaft, die in einem gewissen Falle den Regeln der Pflicht widerstreitet, z. E. Geldgeiz. Lasset ihn zwölf Grade Bestrebung nach Grundsätzen der Nächstenliebe anwenden; die Folge ist von zwei Graden, so viel als er wohltätig und hülfreich sein wird. Gedenket euch einen andern von drei Graden Geldbegierde, und von sieben Graden Vermögen, nach Grundsätzen der Verbindlichkeit zu handeln. Die Handlung wird vier Grade groß sein, als so viel nach dem Streite seiner Begierde er einem andern Menschen nützlich sein[814] wird. Es ist aber unstreitig: daß, in so ferne die gedachte Leidenschaft als natürlich und unwillkürlich kann angesehen werden, der moralische Wert der Handlung des ersteren größer sei als des zweiten, obzwar, wenn man sie durch die lebendige Kraft schätzen wollte, die Folge in dem letzteren Fall jene übertrifft. Um des willen ist es Menschen unmöglich, den Grad der tugendhaften Gesinnung anderen aus ihren Handlungen sicher zu schließen, und es hat auch derjenige das Richten sich allein vorbehalten, der in das Innerste der Herzen sieht.

4. Wenn man es wagen will, diese Begriffe auf das so gebrechliche Erkenntnis anzuwenden, welches Menschen von der unendlichen Gottheit haben können, welche Schwierigkeiten umgeben alsdenn nicht unsere äußerste Bestrebungen? Da wir die Grundlage zu diesen Begriffen nur von uns selbst hernehmen können, so ist es in den mehresten Fällen dunkel, ob wir diese Idee eigentlich oder nur vermittelst einiger Analogie auf diesen unbegreiflichen Gegenstand übertragen sollen. Simonides ist noch immer ein Weiser, der nach vielfältiger Zögerung und Aufschub seinem Fürsten die Antwort gab: je mehr ich über Gott nachsinne, desto weniger vermag ich ihn einzusehen. So lautet nicht die Sprache des gelehrten Pöbels. Er weiß nichts, er versteht nichts, aber er redet von allem, und was er redet, darauf pochet er. In dem höchsten Wesen können keine Gründe der Beraubung, oder einer Realentgegensetzung statt finden. Denn weil in ihm und durch ihn alles gegeben ist, so ist durch den Allbesitz der Bestimmungen in seinem eigenen Dasein keine innere Aufhebung möglich. Um deswillen ist das Gefühl der Unlust kein Prädikat, welches der Gottheit geziemend ist. Der Mensch hat niemals eine Begierde zu einem Gegenstande, ohne das Gegenteil positiv zu verabscheuen, d.i. nicht allein so, daß die Beziehung seines Willens das kontradiktorische Gegenteil der Begierde, sondern ihr Realentgegengesetztes (Abscheu), nämlich eine Folge aus positiver Unlust ist. Bei jeder Begierde, die ein treuer Führer hat, seinen Schüler wohl zu ziehen, ist ein jeder Erfolg, der seinem Begehren[815] nicht gemäß ist, ihm positiv entgegen und ein Grund der Unlust. Die Verhältnisse der Gegenstände auf den göttlichen Willen sind von ganz anderer Art. Eigentlich ist kein äußeres Ding ein Grund weder der Lust noch Unlust in demselben; denn er hängt nicht im mindesten von etwas andern ab, und es wohnet dem durch sich selbst Seligen nicht diese reine Lust bei, weil das Gute außer ihm existiert, sondern es existiert dieses Gute darum, weil die ewige Vorstellung seiner Möglichkeit und die damit verbundene Lust ein Grund der vollzogenen Begierde ist. Wenn man die konkrete Vorstellung von der Natur des Begehrens alles Erschaffenen hiemit vergleicht, so wird man gewahr, daß der Wille des Unerschaffenen wenig Ähnliches damit haben könne; welches denn auch in Ansehung der übrigen Bestimmungen demjenigen nicht unerwartet sein wird, welcher dieses wohl faßt, daß der Unterschied in der Qualität unermeßlich sein müsse, wenn man Dinge vergleicht, deren die einen vor sich selbst nichts sein, das andre aber, durch welches allein alles ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 801-816.
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