Zweiter Abschnitt,
in welchem Beispiele aus der Weltweisheit angeführt werden, darin der Begriff der negativen Größen vorkommt

[791] 1. Ein jeder Körper widersteht durch Undurchdringlichkeit der Bewegkraft eines andern, in den Raum einzudringen, den er einnimmt. Da er bei der Kraft des andern zur Bewegung gleichwohl ein Grund seiner Ruhe ist, so folgt aus dem vorigen: daß die Undurchdringlichkeit eben so wohl eine wahre Kraft in den Teilen des Körpers voraussetze, vermittelst deren sie zusammen einen Raum einnehmen, als diejenige immer sein mag, womit ein anderer in diesen Raum sich zu bewegen bestrebt ist.

Stellet euch zur Erläuterung zwei Federn vor, die gegen einander streben. Ohne Zweifel halten sie sich durch gleiche Kräfte in Ruhe. Setzet zwischen beide eine Feder von gleicher Spannkraft: so wird diese durch ihre Bestrebung die nämliche Wirkung leisten und beide Federn nach der Regel der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung in Ruhe erhalten. An die Stelle dieser Feder bringet dagegen einen jeden festen Körper dazwischen, so wird durch ihn eben dasselbe geschehen und die vorher gedachte Federn werden durch seine Undurchdringlichkeit in Ruhe erhalten werden. Die Ursache der Undurchdringlichkeit ist demnach eine wahre Kraft, denn sie tut dasselbe, was eine wahre Kraft tut. Wenn ihr nun Anziehung eine Ursache, welche es auch sein mag, nennet, vermöge deren ein Körper andere nötigt, gegen den Raum den er einnimmt zu drücken, oder sich zu bewegen (es ist aber hier genug, sich diese Anziehung nur zu gedenken), so ist die Undurchdringlichkeit eine negative[791] Anziehung. Dadurch wird alsdenn angezeigt: daß sie ein eben so positiver Grund sei als eine jede andere Bewegkraft in der Natur, und da die negative Anziehung eigentlich eine wahre Zurückstoßung ist, so wird in den Kräften der Elemente, vermöge deren sie einen Raum einnehmen, doch aber so daß sie diesem selbst Schranken setzen, durch den Conflictus zweier Kräfte, die einander entgegengesetzt sein, Anlaß zu vielen Erläuterungen gegeben, worin ich glaube zu einer deutlichen und zuverlässigen Erkenntnis gekommen zu sein, die ich in einer andern Abhandlung bekannt machen werde.

2. Wir wollen ein Beispiel aus der Seelenlehre nehmen. Es ist die Frage: Ob Unlust lediglich ein Mangel der Lust, oder ein Grund der Beraubung derselben, der an sich selbst zwar was Positives, und nicht lediglich das kontradiktorische Gegenteil von Lust, ihr aber im Realverstande entgegengesetzt sei, und also ob die Unlust eine negative Lust könne genannt wer den. Nun lehret gleich anfangs die innere Empfindung: daß die Unlust mehr als eine bloße Verneinung sei. Denn was man auch nur vor Lust haben mag, so fehlt hiebei doch immer einige mögliche Lust, so lange wir eingeschränkte Wesen sind. Derjenige, welcher ein Medikament, das wie das reine Wasser schmeckt, einnimmt, hat vielleicht eine Lust über die erwartete Gesundheit; in dem Geschmacke hingegen fühlet er eben keine Lust: dieser Mangel ist aber noch nicht Unlust. Gebet ihm ein Arzneimittel von Wermut. Diese Empfindung ist sehr positiv. Hier ist nicht ein bloßer Mangel von Lust, sondern etwas, was ein wahrer Grund des Gefühls ist, welches man Unlust nennet.

Allein man kann aus der angeführten Erläuterung allenfalls nur erkennen: daß die Unlust nicht lediglich ein Mangel sondern eine positive Empfindung sei; daß sie aber so wohl etwas Positives, als auch der Lust real entgegen gesetzt sei, erhellet am deutlichsten auf folgende Art. Man bringt einer spartanischen Mutter die Nachricht, daß ihr Sohn im Treffen vor das Vaterland heldenmütig gefochten habe. Das angenehme Gefühl der Lust bemächtigt sich ihrer Seele. Es wird hinzugefügt, er habe hiebei einen rühmlichen Tod erlitten.[792] Dieses vermindert gar sehr jene Lust und setzt sie auf einen geringem Grad. Nennet die Grade der Lust aus dem ersten Grunde allein 4 a und die Unlust sei bloß eine Verneinung = 0, so ist nachdem beides zusammen genommen worden der Wert des Vergnügens 4 a + 0 = 4 a und also wäre die Lust durch die Nachricht des Todes nicht vermindert worden, welches falsch ist. Es sei demnach die Lust aus seiner bewiesenen Tapferkeit = 4 a und was da übrig bleibt, nachdem aus der andern Ursache die Unlust mitgewirkt hat, = 3 a, so ist die Unlust = a und sie ist die Negative der Lust, nämlich – a und daher 4 a – a = 3 a.

Die Schätzung des ganzen Werts der gesamten Lust in einem vermischten Zustande würde auch sehr ungereimt sein, wenn Unlust eine bloße Verneinung und dem Zero gleich wäre. Jemand hat ein Landgut gekauft, dessen Ertrag jährlich 2000 Rthlr. ist. Man drucke den Grad der Lust über diese Einnahme in so ferne sie rein ist mit 2000 aus. Alles, was er aber von dieser Einnahme abgeben muß, ohne es zu genießen, ist ein Grund der Unlust: Grundzins 200 Rthl., Gesindelohn 100 Rthl., Reparatur 150 Rthlr. jährlich. Ist die Unlust eine bloße Verneinung = 0, so ist alles in einander gerechnet die Lust, die er an seinem Kauf hat, 2000 + 0 + 0 + 0 = 2000, d.i. eben so groß, als wenn er den Ertrag ohne Abgaben genießen könnte. Nun ist aber offenbar, daß er sich nicht mehr über diese Einkünfte zu erfreuen hat, als in so ferne ihm nach Abzug der Abgaben was übrig bleibt, und es ist der Grad des Wohlgefallens 2000 – 200 – 100 – 150 = 1550. Es ist demnach die Unlust nicht bloß ein Mangel der Lust, sondern ein positiver Grund, diejenige Lust, die aus einem andern Grunde statt findet, ganz oder zum Teil aufzuheben, und ich nenne sie daher eine negative Lust. Der Mangel der Lust so wohl als der Unlust, in so ferne er aus dem Mangel der Gründe hiezu herzuleiten ist, heißt Gleichgültigkeit (indifferentia). Der Mangel der Lust so wohl als Unlust, in so fern er eine Folge aus der Realopposition gleicher Gründe abhängt, heißt das Gleichgewicht (aequilibrium); beides ist Zero, das erstere aber[793] einer Verneinung schlechthin, das zweite eine Beraubung. Der Zustand des Gemüts, in welchem, bei ungleicher entgegengesetzter Lust und Unlust, von einer dieser beiden Empfindungen etwas übrig bleibt, ist das Übergewicht der Lust oder Unlust (suprapondium voluptatis vel taedii). Nach dergleichen Begriffen suchte der Herr v. Maupertuis in seinem Versuche der moralischen Weltweisheit die Summe der Glückseligkeit des menschlichen Lebens zu schätzen, und sie kann auch nicht anders geschätzt werden, nur daß diese Aufgabe vor Menschen unauflöslich ist, weil nur gleichartige Empfindungen können in Summen gezogen werden, das Gefühl aber in dem sehr verwickelten Zustande des Lebens nach der Mannigfaltigkeit der Rührungen sehr verschieden scheint. Der Kalkül gab diesem gelehrten Manne ein negatives Fazit, worin ich ihm gleichwohl nicht beistimme.

Aus diesen Gründen kann man die Verabscheuung eine negative Begierde, den Haß eine negative Liebe, die Häßlichkeit eine negative Schönheit, den Tadel einen negativen Ruhm etc. nennen. Man könnte hiebei vielleicht denken: daß dieses alles nur eine Krämerei mit Worten sei. Allein nur diejenige werden so urteilen, die nicht wissen, welcher Vorteil darin steckt, wenn die Ausdrücke zugleich die Verhältnis zu schon bekannten Begriffen anzeigen, wovon die mindeste Erfahrenheit in der Mathematik jedermann leicht belehren kann. Der Fehler, darin um dieser Vernachlässigung willen viele Philosophen verfallen sind, liegt am Tage. Man findet, daß sie mehrenteils die Übel wie bloße Verneinungen behandeln, ob es gleich nach unsern Erläuterungen offenbar ist: daß es Übel des Mangels (mala defectus) und Übel der Beraubung (mala privationis) gibt. Die erstern sind Verneinungen, zu deren entgegengesetzter Position kein Grund ist, die letztern setzen positive Gründe voraus, dasjenige Gute aufzuheben, wozu wirklich ein anderer Grund ist, und sind ein negatives Gute. Dieses letztere ist ein viel größeres Übel als das erstere. Nicht geben ist in Verhältnis auf den der bedürftig ist ein Übel, aber Nehmen, Erpressen, Stehlen ist in Absicht auf ihn ein viel größeres,[794] und Nehmen ist ein negatives Geben. Man könnte ein Ähnliches bei logischen Verhältnissen zeigen. Irrtümer sind negative Wahrheiten (man vermenge dieses nicht mit der Wahrheit negativer Sätze), eine Widerlegung ist ein negativer Beweis; allein ich besorge, mich hiebei zu lange aufzuhalten. Es ist meine Absicht nur, diese Begriffe in den Gang zu bringen, der Nutze wird sich durch den Gebrauch finden und ich werde davon im dritten Abschnitt einige Aussichten geben.

3. Die Begriffe der realen Entgegensetzung haben auch ihre nützliche Anwendung in der praktischen Weltweisheit. Untugend (demeritum)ist nicht lediglich eine Verneinung; sondern eine negative Tugend (meritum negativum). Denn Untugend kann nur Statt finden, in so ferne als in einem Wesen ein inneres Gesetz ist (entweder bloß das Gewissen oder auch das Bewußtsein eines positiven Gesetzes), welchem entgegengehandelt wird. Dieses innere Gesetz ist ein positiver Grund einer guten Handlung, und die Folge kann bloß darum Zero sein, weil diejenige, welche aus dem Bewußtsein des Gesetzes allein fließen würde, aufgehoben wird. Es ist also hier eine Beraubung, eine reale Entgegensetzung und nicht bloß ein Mangel. Man bilde sich nicht ein, daß dieses lediglich auf die Beziehungsfehler (demerita commissionis) und nicht zugleich auf die Unterlassungsfehler (demerita omissionis) gehe. Ein unvernünftig Tier verübt keine Tugend. Es ist diese Unterlassung aber nicht Untugend (demeritum). Denn es ist keinem inneren Gesetze entgegen gehandelt worden. Es ward nicht durch inneres moralisches Gefühl zu einer guten Handlung getrieben, und dadurch, daß es ihm widerstanden, oder vermittelst eines Gegengewichts wurde das Zero, oder die Unterlassung als eine Folge nicht bestimmt. Sie ist hier eine Verneinung schlechthin, aus Mangel eines positiven Grundes, und keine Beraubung. Setzet dagegen einen Menschen, der denjenigen, dessen Not er sieht und dem er leicht helfen kann, nicht hilft. Hier ist, wie in dem Herzen eines jeden Menschen, so auch[795] bei ihm ein positives Gesetz der Nächstenliebe. Dieses muß überwogen werden. Es gehört hiezu eine wirkliche innere Handlung aus Bewegungsursachen, damit die Unterlassung möglich sei. Dieses Zero ist die Folge einer realen Entgegensetzung. Es kostet auch wirklich einigen Menschen im Anfange merkliche Mühe, einiges Gute zu unterlassen, wozu sie die positive Antriebe in sich bemerken; die Gewohnheit erleichtert alles und diese Handlung wird zuletzt wenig mehr wahrgenommen. Es sind demnach die Begehungssünden von den Unterlassungssünden moralisch nicht der Art, sondern der Größe nach nur unterschieden. Physisch, nämlich den äußern Folgen nach, sind sie auch wohl der Art nach verschieden. Derjenige, der nichts bekommt, leidet ein Übel des Mangels, und, dem genommen wird, ein Übel der Beraubung. Allein, was den moralischen Zustand desjenigen, dem die Unterlassungssünde zukommt, anlanget, so wird zur Begehungssünde nur ein größerer Grad der Handlung erfodert. So wie das Gegengewichte am Hebel eine wahrhafte Kraft anwendet, um die Last bloß in Ruhe zu erhalten, und nur einiger Vermehrung bedarf, um es auf die andere Seite wirklich zu bewegen. Eben also, wer nicht bezahlt was er schuldig ist, der wird in gewissen Umständen betrügen, um zu gewinnen, und wer nicht hilft wenn er kann, der wird, so bald sich die Bewegursachen vergrößern, den andern verderben. Liebe und nicht Liebe sind eins das kontradiktorische Gegenteil vom andern. Nicht Liebe ist eine wahrhafte Verneinung, aber in Ansehung dessen, wozu man sich einer Verbindlichkeit zu lieben bewußt ist, ist diese Verneinung nur durch reale Entgegensetzung und mithin nur als eine Beraubung möglich. Und in einem solchen Falle ist nicht zu lieben und zu hassen nur eine Verschiedenheit in Graden. Alle Unterlassungen, die zwar Mängel einer größeren moralischen Vollkommenheit sind, aber nicht Unterlassungssünden, sind dagegen nichts als Verneinungen schlechthin einer gewissen Tugend und nicht Beraubungen oder Untugend. Von dieser Art sind die Mängel der Heiligen und die Fehler edler Seelen. Es fehlt ein gewisser größerer Grund[796] der Vollkommenheit und der Mangel äußert sich nicht um der Entgegenwirkung willen.

Man könnte die Anwendung der angeführten Begriffe auf die Gegenstände der praktischen Weltweisheit noch sehr erweitern. Verbote sind negative Gebote, Strafen negative Belohnungen u.s.w. Allein meine Absicht ist vorjetzt erreicht, wenn nur der Gebrauch dieses Gedankens überhaupt verstanden wird. Ich bemerke wohl: daß Lesern von aufgeklärter Einsicht die bisherige Erläuterung weitläuftiger vorkommen werde als nötig ist. Allein man wird mich entschuldigen, so bald man bedenkt, daß es sonsten noch ein sehr ungelehriges Geschlecht von Beurteilern gebe, welche, indem sie ihr Leben nur mit einem einzigen Buche zubringen, nichts verstehen, als was darin enthalten ist, und in Ansehung deren die äußerste Weitläuftigkeit nicht überflüssig ist.

4. Wir wollen noch ein Beispiel aus der Naturwissenschaft entlehnen. In der Natur gibt es viel Beraubungen aus dem Conflictus zweier wirkenden Ursachen, deren eine die Folge der andern durch reale Entgegensetzung aufhebt. Es ist aber oftmals ungewiß, ob es nicht vielleicht bloß die Verneinung des Mangels sei, weil eine positive Ursache fehlt, oder ob es die Folge der Opposition wahrhafter Kräfte sei, so wie die Ruhe entweder der fehlenden Bewegursache, oder dem Streit zweier einander aufhaltenden Bewegkräfte beizumessen ist. Es ist z. E. eine berühmte Frage, ob die Kälte eine positive Ursache erheische, oder ob sie, als ein Mangel schlechthin, der Abwesenheit der Ursache der Wärme beizumessen sei. Ich halte mich, so weit es zu meinem Zwecke dient, hiebei ein wenig auf. Ohne Zweifel ist die Kälte selber nur eine Verneinung der Wärme, und es ist leicht einzusehen, daß sie an sich selbst auch ohne positiven Grund möglich sei. Eben so leicht ist es aber zu verstehen: daß sie auch von einer positiven Ursache herrühren können und wirklich bisweilen daraus entspringe, was man auch vor eine Meinung vom Ursprunge der Wärme annehmen mag. Man kennet keine absolute Kälte in der Natur, und wenn man von ihr redet, so versteht man sie nur vergleichungsweise. Nun stimmen Erfahrung[797] und Vernunftgründe zusammen, den Gedanken des berühmten von Musschenbroek zu bestätigen: daß die Erwärmung nicht in der innern Erschütterung sondern in dem wirklichen Übergange des Elementarfeuers aus einer Materie in die andere bestehe, obgleich dieser Übergang vermutlich mit einer innern Erschütterung begleitet sein mag, imgleichen diese erregte Erschütterung den Austritt des Elementarfeuers aus den Körpern befördert. Auf diesen Fuß, wenn das Feuerelement unter den Körpern in einem gewissen Raum im Gleichgewichte ist, so sind sie verhältnisweise gegen einander weder kalt noch warm. Ist dieses Gleichgewicht gehoben, so ist diejenige Materie, in die das Elementarfeuer übergeht, verhältnisweise gegen den, der dadurch desselben beraubt wird, kalt, dieser dagegen heißt, in so ferne er in jenen diese Materie der Wärme überläßt, in Ansehung desselben, warm. Der Zustand in dieser Veränderung heißt bei jenem Erwärmung, bei diesem Erkältung, bis alles wiederum im Gleichgewichte ist.

Nun ist wohl nichts natürlicher zu gedenken, als daß die Anziehungskräfte der Materie dieses subtile und elastische Flüssige so lange in Bewegung setzen und die Masse der Körper damit anfüllen, bis es allerwärts im Gleichgewichte ist, wenn nämlich die Räume in der Verhältnis der Anziehungen, die daselbst wirken, damit angefüllet sein. Und hier fällt es deutlich in die Augen: daß eine Materie, die eine andere in der Berührung erkältet, durch wahrhafte Kraft (der Anziehung) das Elementarfeuer raube, womit die Masse des andern erfüllet war, und daß die Kälte jenes Körpers eine negative Wärme genannt werden könne, weil die Verneinung, die in den wärmeren Körper daraus folgt, eine Beraubung ist. Allein hier würde die Einführung dieser Benennung ohne Nutzen und nicht viel besser als ein Wortspiel sein. Meine Absicht ist hiebei nur auf dasjenige was folgt gerichtet.

Es ist lange bekannt, daß die magnetische Körper zwei einander entgegenstehende Enden haben, die man Pole nennt und deren der eine den gleichnamigen Punkt an dem[798] andern zurückstößt und den andern anzieht. Allein der berühmte Prof. Aepinus zeigte in einer Abhandlung, von der Ähnlichkeit der elektrischen Kraft mit der magnetischen: daß elektrisierte Körper bei einer gewissen Behandlung eben so wohl zwei Pole an sich zeigen, deren einen er den positiven, den andern den negativen Pol nennt, und wovon der eine dasjenige anzieht, was der andre zurückstößt. Diese Erscheinung wird am deutlichsten wahrgenommen, wenn eine Röhre einem elektrischen Körper nahe genug gebracht wird, doch so, daß sie keinen Funken aus ihm zieht. Ich behaupte nun: daß bei den Erwärmungen oder Erkältungen, d.i. bei allen Veränderungen der Wärme oder Kälte, vornehmlich den schnellen, die in einem zusammenhangenden Mittelraum oder in die Länge ausgebreiteten Körper an einem Ende geschehen, jederzeit gleichsam zwei Pole der Wärme anzutreffen sind, wovon der eine positiv, d.i. über den vorigen Grad des gedachten Körpers, der andere negativ, nämlich unter diesen Grad warm, d.i. kalt wird. Man weiß, daß verschiedene Erdgrüfte inwendig desto stärkeren Frost zeigen, je mehr draußen die Sonne Luft und Erde erwärmt, und Matthias Bel, der die im karpatischen Gebürge beschreibt, fügt hinzu, daß es eine Gewohnheit der Bauren in Siebenbürgen sei, ihr Getränke kalt zu machen, wenn sie es in die Erde verscharren und ein schnell brennendes Feuer drüber machen. Es scheint, daß die Erdschichte in dieser Zeit auf der oberen Fläche nicht positiv warm werden könne, ohne in etwas größerer Tiefe die Negative davon zu sein. Boerhave führt sonst an, daß das Feuer der Schmiedeherde in einem gewissen Abstande Kälte verursacht habe. In der freien Luft über der Erdfläche scheint eben so wohl diese Entgegensetzung vornehmlich bei den schnellen Veränderungen zu herrschen. Herr Jacobi führt irgendwo in dem Hamb. Magazin an: daß bei der strengen Kälte, die oftermals weitgestreckte Länder angreift, doch gemeiniglich in einem langen Striche ansehnliche Plätze zwischen inne liegen, wo es temperiert und gelinde ist. Eben so fand Herr Aepinus bei der Röhre deren ich gedachte: daß, von dem positiven Pol des einen Endes, bis zum negativen des andern,[799] in gewissen Weiten die positiv- und negativ-elektrische Stellen abwechselten. Es scheinet, es könne in irgend einer Region der Luft die Erwärmung nicht anheben, ohne in einer andern gleichsam die Wirkung eines negativen Pols, d.i. Kälte eben dadurch zu veranlassen, und auf diesen Fuß wird umgekehrt die an einem Orte behende zunehmende Kälte die Wärme in einer andern Gegend zu vermehren dienen, gleichwie, wenn ein an einem Ende erhitzter metallner Stab plötzlich im Wasser abgekühlt wird, die Wärme des andern Endes zunimmt.6 Demnach hört der Unterschied der Wärmpole alsbald auf, wenn die Mitteilung oder Beraubung Zeit genug gehabt hat, sich durch die ganze Materie gleichförmig zu verbreiten, gleichwie die Röhre des Herren Professor Aepinus nur einerlei Elektrizität zeigt, so bald sie den Funken gezogen hat. Vielleicht daß auch die große Kälte der obern Luftgegend nicht lediglich dem Mangel der Erwärmungsmittel, sondern einer positiven Ursache beizumessen ist, nämlich daß sie in Ansehung der Wärme nachdem Maße negativ wird, als die untere Luft und Boden es positiv sein. Überhaupt scheinen die magnetische Kraft, die Elektrizität und die Wärme durch einerlei Mittelmaterie zu geschehen. Alle ingesamt können durch Reiben erregt werden, und ich vermute,[800] daß die Verschiedenheit der Pole und die Entgegensetzung der positiven und negativen Wirksamkeit durch eine geschickte Behandlung eben so wohl bei den Erscheinungen der Wärme dürften bemerkt werden. Die schiefe Fläche des Galilei, der Perpendikel des Huygens, die Quecksilberröhre des Torricelli, die Luftpumpe des Otto Guericke, und das gläserne Prisma des Newton haben uns den Schlüssel zu großen Naturgeheimnissen gegeben. Die negative und positive Wirksamkeit der Materien, vornehmlich bei der Elektrizität, verbergen allem Ansehen nach wichtige Einsichten und eine glücklichere Nachkommenschaft, in deren schöne Tage wir hinaussehen, wird hoffentlich davon allgemeine Gesetze erkennen, was uns vorjetzt in einer noch zweideutigen Zusammenstimmung erscheint.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 791-801.
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