3. Der innere musikalische Bau der Oper

[114] Obgleich die Überschrift deutlich genug zu sprechen scheint, will ich doch der Sicherheit wegen darauf aufmerksam machen, daß ich nichts weniger beabsichtige, als eine ästhetische Würdigung des Stückes Don Juan, oder einen Nachweis der dramatischen Struktur des Textes. Zumal bei einem klassischen Werke ist da vorsichtig zu unterscheiden. Was ich nämlich schon im vorhergehenden öfter hervorgehoben habe, will ich hier noch einmal hervorheben, daß Don Juan sich nur musikalisch ausdrücken läßt. Nachdem ich dies selbst, mittels der Musik, an mir erfahren, habe ich auf alle Weise darüber zu wachen, daß es nicht den Anschein gewinne, als ob die Musik auf äußerliche Weise hinzutrete. Behandelt man die Sache aus solchem Gesichtspunkte, so möge man die Musik in dieser Oper noch so sehr bewundern; ihre absolute Bedeutung versteht man nicht. Von einer solchen unwahren Abstraktion hat Hotho sich nicht frei gehalten, weshalb seine Erörterung, so talentvoll sie auch ist, uns nicht befriedigt. Sein Stil, seine Darstellung, seine Reproduktion ist lebhaft und bewegt. Aber seine Kategorien sind unbestimmt und schwebend; seine Auffassung Don Juans ist nicht von einem Gedanken durchdrungen, sondern in viele aufgelöst. Auch ihm ist Don Juan ein Verführer; es wird aber nicht bestimmt gesagt, in welchem Sinne derselbe es sei. Von diesem Verführer wird nun vieles an und für sich Wahre ausgesagt; aber bei dem Vorherrschen von lauter allgemeinen Vorstellungen wird ein solcher Verführer leicht so reflektiert, daß er aufhört absolut musikalisch zu sein. Szene für Szene geht Hotho das Stück durch; das Referat, das er gibt, ist von seiner Individualität frisch durchsäuert, an manchen Stellen vielleicht zu sehr. Danach folgen dann oft sympathetische Ergießungen darüber, wie schön, wie reich und mannigfaltig Mozart alles das ausgedrückt habe. Aber bei aller lyrischen Freude darüber und ungeachtet des ihr verliehenen vortrefflichen Ausdruckes, wird Mozarts Don Juan in seiner absoluten Geltung und Bedeutung nicht anerkannt. Nach dieser Anerkennung aber strebe ich, weil sie mit der richtigen Erkenntnis dessen, was den Gegenstand unsrer Untersuchung ausmacht, identisch[114] ist. Daher will ich nicht sowohl die ganze Oper, als die Oper im ganzen, in ihrer Totalität, zum Gegenstande der Betrachtung machen, und die einzelnen Teile nur in ihrer Verbindung mit dem Ganzen beleuchten.

In einem Drama konzentriert das Hauptinteresse sich ganz natürlich um das, was man den Helden des Stückes nennt; die übrigen Personen nehmen im Verhältnis zu ihm nur eine untergeordnete und relative Bedeutung in Anspruch. Je mehr indes die das Drama beherrschende Reflexion durchdringt, desto mehr erhalten auch die Nebenpersonen eine gewisse, so zu sagen relative Absolutheit. Dies ist keineswegs ein Fehler, sondern ein Vorzug; sowie eine Weltbetrachtung, welche nur die hervorragenden Individuen und ihre Bedeutung für die Entwickelung der Welt ins Auge faßt, aber der subalternen nicht acht hat, zwar in einem gewissen Sinne höher steht, aber im Grunde doch hinter derjenigen zurückbleibt, die das Geringere in seiner ebenso großen Bedeutung mit in Betracht zieht. Dem Dramatiker wird das nur in dem Grabe gelingen, wie die ganze Stimmung, auf welcher seine Dichtung beruht und aus welcher sie hervorgeht, in die eigentlich dramatische Stimmung, Handlung und Situation umgesetzt worden ist. Je völliger dies ihm gelingt, wird auch der Totaleindruck, den sein Werk zurückläßt, weniger eine bloße Stimmung sein, als ein Gedanke, eine Idee. Wo letzteres nicht der Fall ist, da leidet das Drama an einem Übergewicht des Lyrischen. Was nun ein Fehler wäre bei einem Drama, ist es durchaus nicht bei einer Oper. Was die Einheit der Oper aufrechthält, ist der das Ganze tragende Grundton.

Was ich hier von der dramatischen Totalwirkung gesagt habe, gilt weiter von den einzelnen Teilen des Dramas. Um die Wirkung des Dramas, sofern sie von der Wirkung jeder andern Dichtungsart sich unterscheidet, mit einem Worte zu bezeichnen, möchte ich sagen: Das Drama wirkt durch das Gleichzeitige. Im Drama sehe ich die auseinanderfallenden Momente in der Situation, der Einheit der Handlung, zusammenstehen und -wirken. Je mehr nun die verschiedenen Momente ausgesondert sind, je tiefer die dramatische Situation durchdacht ist, desto weniger wird die dramatische Einheit auf eine bloße Stimmung hinauskommen, desto mehr ein bestimmter Gedanke[115] sein. Allein sowie die Totalität der Oper nicht dermaßen von der Reflexion durchgearbeitet sein kann, wie es im eigentlichen Drama der Fall ist, so ist es gleichfalls mit der musikalischen Situation, welche zwar dramatisch ist, aber doch ihre Einheit in der Stimmung findet. Der musikalischen Situation ist, sowie jeder dramatischen Situation, das Gleichzeitige eigen; aber die Wirksamkeit der Kräfte ist ein Einklang, eine Übereinstimmung, eine Harmonie; und der Eindruck der musikalischen Situation ist die Einheit, welche durch das Zusammenhören des zugleich Ertönenden und Übereinstimmenden hervorgebracht wird. Je mehr das Drama durchreflektiert ist, desto völliger ist die Stimmung zur Handlung verklärt. Je weniger Handlung, desto mehr überwiegt das lyrische Moment. In der Oper ist dies ganz in der Ordnung. Die Oper hat nicht eine so reiche Charakterentwickelung und Hand lung zu ihrer eigentlichen Aufgabe; hierzu ist sie einmal nicht reflektiert genug. In der Oper findet dagegen eine reflexionslose, substantielle Leidenschaft ihren Ausdruck. Die musikalische Situation liegt in der Einheit der Stimmung, bei der diskreten Stimmenmehrheit. Hierin eben besteht das Eigentümliche der Musik, daß sie die Stimmenmehrheit bewahrt ungeachtet der Einheit der Stimmung. Redet man im gewöhnlichen Leben von Stimmenmehrheit, so pflegt man wohl dadurch eine gewisse Einheit, als schließliches Resultat, zu bezeichnen: in der Musik ist dies nicht so der Fall.

Das dramatische Interesse verlangt raschen Fortschritt, bewegten Takt. Je mehr das Drama von der Reflexion durchdrungen ist, desto unaufhaltsamer drängt es vorwärts. Ist dagegen das lyrische oder das epische Moment das einseitig überwiegende, so äußert es sich in einer gewissen Betäubung, welche die Situation gleichsam einschlummern läßt, welche den dramatischen Prozeß und Fortgang träge und schwerfällig macht. Im Wesen und Charakter der Oper liegt solche Eile nicht; ihr ist ein gewisses Verweilen und Zögern eigen, eine gewisse behagliche Ausbreitung in Zeit und Raum. Die Handlung hat nicht die Raschheit eines Sturzes, noch dessen Richtung, sondern bewegt sich mehr horizontal. Die Stimmung wird nicht in Charakter und Handlung sublimirt. Hieraus folgt, daß die Handlung der Oper nur eine unmittelbare Handlung, d.h. nicht[116] eine von langer Hand der angelegte und kombinierte. Sondern nur eine aus augenblicklichem Impulse erfolgende sein kann.

Wenden wir nun das Gesagte auf die Oper Don Juan an, so werden wir Veranlassung bekommen, diese in ihrem wahren, klassischen Werte zu erkennen. In Don Juan, als dem Helden der Oper, konzentriert sich das Hauptinteresse; aber nicht dies allein, vielmehr ist er es, welcher für alle andern Personen erst das Interesse weckt. Dies darf man indes nicht in äußerlichem Sinne verstehen; sondern das Geheimnis dieser Oper ist eben, daß der Held zugleich die Kraft der andern Personen ist, Don Juans Leben ihr Lebensprinzip. Seine Leidenschaft setzt die der übrigen in Bewegung; seine Leidenschaft klingt überall durch. Sie ist's, von welcher der Mark und Bein durchdringende Ernst des Kommodore getragen wird, sowie der Zorn der Elvira, der bittere Haß der Anna, die dem Ottavio zukommende Bedeutung, die Angst der Zerline, der Ärger Mazettos, endlich Leporellos Verwirrung. Don Juan kann füglich der Nenner des Stückes heißen; als der Held gibt er diesem seinen Namen; er ist so zu sagen der General-Nenner. Jede andre Existenz ist im Verhältnis zu der seinigen nur eine abgeleitete. Fordert man nun von einer Oper, daß ihre Einheit sich in einem Grundton kundgebe, so wird man leicht einsehen, daß eine vollkommenere Aufgabe sich für eine Oper kaum denken läßt, als Don Juan. Man vergleiche u. a. eine Oper, wie »die weiße Dame«; die Einheit derselben ist nur eine nähere Bestimmung des Lyrischen. In Don Juan ist der Grundton kein andrer, als die Lebenskraft der Oper selbst, nämlich Don Juan; er aber ist – gerade weil er nicht einen Charakter zur Erscheinung bringt, sondern hauptsächlich Leben – absolut musikalisch. Die übrigen Personen der Oper sind auch keine Charaktere, sondern wesentlich Leidenschaften, durch Don Juan entzündet und insofern wieder musikalisch. Sowie nämlich Don Juan alle umschlingt, so schlingen und ranken sich diese wieder um Don Juan. Diese absolute Zentralität, welche das musikalische Leben Don Juans in der Oper darstellt, macht es, daß diese eine Macht der Illusion ausübt, wie keine andre, daß das in ihr pulsierende Leben jeden mit fortreißt und mitten in das Leben des Dramas[117] hineinversetzt. Wegen der Allgegenwart des Musikalischen und Melodischen in dieser Oper kann man ein einzelnes Stück derselben genießen, und man wird augenblicklich hingenommen. Man trete mitten in die Aufführung ein, und sofort befindet man sich in dem Zentralen, weil dieses, nämlich Don Juans eigenstes Leben, eben überall ist. Es ist eine alte Erfahrung, daß es nicht angenehm ist, zwei Sinne auf einmal anzustrengen; man fühlt daher, wenn man Musik hören soll, die Neigung, die Augen zu schließen. Mehr oder weniger gilt dies von aller Musik, vom Don Juan sensu eminentiori. Sobald das Auge in Anspruch genommen ist, wird der Eindruck gestört: denn die ihm sich darbietende dramatische Einheit ist durchaus mangelhaft und untergeordnet in Vergleich mit der musikalischen Einheit, welche vom Gehöre aufgenommen wird. Hiervon hat mich meine Erfahrung überzeugt. Ich saß nahe bei der Bühne; ich entfernte mich weiter und weiter; ich suchte einen Winkel des Theaters, mit mich völlig in dieser Musik bergen und in sie vertiefen zu können. Je besser ich sie verstand oder zu verstehen glaubte, desto entfernter stellte ich mich, nicht aus Kälte, sondern aus Liebe: denn diese will aus der Ferne verstanden werden. Das hat etwas eigentümlich Rätselhaftes für mein Leben mit sich geführt. Ich habe Zeiten gehabt, wo ich für ein Theaterbillet alles gezahlt hätte: jetzt brauche ich seine Mark dafür zu geben. Ich stehe draußen im Korridor, lehne mich an die Wand, welche mich vom Zuschauerraume trennt. Hier wirkt die Musik am besten; es ist eine Welt für sich, mir zu Gefallen abgesondert. Ich sehe nichts, bin aber nahe genug, um zu hören, und doch so unendlich fern.

Da die in der Oper auftretenden Personen nicht so durchdacht zu sein brauchen, daß sie als Charaktere durchsichtig werden, so folgt auch hieraus, was schon vorher hervorgehoben wurde, daß die Situation sich nicht vollkommen entfalten kann, sondern bis zu einem gewissen Grade von der Stimmung getragen wird. Dasselbe gilt von der Handlung in der Oper. Was man in strengerem Sinne so nennt, die mit Bewußtsein eines Zweckes ausgeführte Handlung, kann in der Musik ihren Ausdruck nicht finden, wohl aber, was man unmittelbare Handlung nennen darf. Beides ist im Don Juan der[118] Fall. Daß die Handlung hier durchweg eine unmittelbare ist, ergibt sich aus dem, was von ihm als Verführer gesagt ist. Daher ist es auch völlig in der Ordnung, daß in dieser Oper die Ironie so vorherrschend ist: denn die Ironie ist und bleibt der Zuchtmeister des unmittelbaren, gedankenlosen Lebens. So ist die Erscheinung des Kommodore eine ungeheure Ironie: denn Don Juan kann zwar jedes Hindernis besiegen, aber ein Totengespenst läßt sich bekanntlich nicht totschlagen. Zum Beweise, daß die Situation durchweg von der Stimmung beherrscht ist, darf ich an die Bedeutung erinnern, die Don Juan durchgehend für das Ganze hat, und an die nur relative Existenz der übrigen Personen im Verhältnis zu ihm. An einer einzelnen Situation will ich nachweisen, was ich meine. Ich wähle Elviras erste Arie. Das Orchester stimmt das Vorspiel an; Elvira tritt auf. Die in ihrer Brust wütende Leidenschaft muß sich Lust machen, und ihr Gesang hilft ihr dazu. Dies wäre je doch zu lyrisch, um eigentlich eine Situation zu bilden; ihre Arie würde dann denselben Charakter tragen, wie ein Monolog im Drama. Der Unterschied bestände nur darin, daß der Monolog zunächst das Universelle in individueller Form gibt, die Arie aber das Individuelle in universeller Fassung. Dies würde, wie gesagt, für eine Situation zu wenig sein. Daher bleibt's auch nicht dabei. Im Hintergrunde sieht man Don Juan und Leporello, voll gespannter Erwartung, das die Dame, welche sie schon durchs Fenster bemerkt hatten, ihnen vor Augen trete. Wäre es nun ein wirkliches Drama, was wir vor uns haben, so würde die Situation nicht darin liegen, daß Elvira auf der Bühne steht. Don Juan im Hintergrunde, vielmehr in dem unerwarteten Zusammentreffen. Und das Interesse beruhte dann auf der Art und Weise, wie Don Juan sich heraushelfen würde. Auch in der Oper erhält das Zusammentreffen seine Bedeutung, aber eine sehr untergeordnete. Die Begegnung will gesehen, die Situation aber gehört werden. Die Einheit der letzteren ist nun die Harmonie, in welcher Elviras und Don Juans Stimmen ineinander tönen. Es ist daher auch ganz richtig, daß Don Juan sich so weit wie möglich zurückhält; denn er soll womöglich gar nicht gesehen werden, so wenig vom Publikum als von Elvira. Die Arie der letzteren[119] setzt sich fort. Ihre Leidenschaft weiß ich nur als Liebeshaß zu charakterisieren, eine gemischte, aber doch metallreiche, tönende Leidenschaft. Ihr Inneres ist in unruhiger Wallung. Nachdem sie sich Lust gemacht hat, ermattet sie einen Augenblick, sowie jeder leidenschaftliche Ausbruch ermattet: es folgt in der Musik eine Pause. Aber ihre innere Bewegung läßt ahnen, daß ihre Leidenschaft sich noch nicht erschöpft hat: das Zwerchfell ihres Zornes muß noch stärker erschüttert werden. Wodurch aber, durch welches Incitament kann diese neue Erschütterung bewirkt werden? Hierzu kann mir eines dienen – Don Juans Spott. Mozart hat daher – möchte ich ein Grieche sein! denn alsdann würde ich sagen: ganz göttlich – die Pause benutzt, um den Spott des Kavaliers anzubringen. Jetzt lodert die Leidenschaft stärker auf; noch gewaltiger bricht sie in ihrer Brust, noch gewaltiger in Tönen hervor. Einmal noch wiederholt sie sich; dann erbebt ihr Inneres, dann ergießen sich ihr Zorn, ihr Schmerz, einem Lavastrome gleich, in jener bekannten, den Schluß der Arie bildenden, Kadenz (Triller). Hier sieht man, was ich mit den Worten sagen wollte: Don Juan wecke in der Elvira seinen Widerhall, und daß dies etwas andres ist als bloße Phrase. Der Besucher der Oper soll Don Juan nicht zusammen mit Elvira sehen noch hören, in der Einheit der Situation soll er ihn in der Elvira, aus der Elvira hören. Wohl singt Don Juan, aber so, daß es dem seiner entwickelten Ohre klingt, als komme es von Elvira selbst. Sowie die Liebe ihren Gegenstand schafft, ebenso auch der bittere Groll. Sie ist von Don Juan besessen. Jene Pause und Don Juans Stimme machen die Situation dramatisch; aber durch die Leidenschaft Elviras, in welcher die des Don Juan widerhallt, wird die Situation erst musikalisch. Als solche beurteilt, ist sie unvergleichlich. Wird hingegen Don Juan als Charakter betrachtet, und Elvira ebenfalls, so muß die Situation für verfehlt gelten; dann ist es unrichtig, Elvira sich im Vordergrunde expektorieren und Don Juan im Hintergrunde spotten zu lassen; denn alsdann wird verlangt, daß ich sie zusammen hören soll, ohne daß doch das Mittel hierzu vorhanden ist, da sie beide Charaktere sind, die unmöglich einen solchen harmonischen Einklang herstellen können. Sind sie Charaktere, so bildet ihr Zusammenstoß die Situation.[120]

Wie vorhin bemerkt worden, ist in der Oper nicht jene dramatische Eile, das sich stets beschleunigende Vorwärts erforderlich, wie im Drama; und die Situation mag sich gern etwas in die Länge ziehen. Indessen darf dies nicht ausarten in einen anhaltenden Stillstand. Als Beispiel der wahren Mitte kann ich die eben besprochene Situation hervorheben, nicht als einziges oder vollkommenstes im Don Juan, sondern weil es dem Leser gegenwärtig ist. Und doch, hier komme ich zu einem mißlichen Punkte; denn ich gebe zu, da sind – zwei Arien, welche fort müßten, welche, so vollendet sie auch an und für sich sind, dennoch störend, retardierend wirken. Ich machte gern daraus ein Geheimnis, aber was hilft's? die Wahrheit muß an den Tag. Nimmt man jene beiden fort, so ist alles übrige ebenso schön und abgerundet. Die eine Arie ist die des Ottavio, die andre die der Anna, beides mehr Konzertnummern, als dramatische Musik, wie überhaupt Ottavio und Anna viel zu unbedeutende Personen sind, um den Fortgang des Ganzen aufzuhalten. Entfernt man sie, so hat die Oper vollkommene musikalisch-dramatische Fortbewegung, so vollkommen wie keine andre.

Es wäre wohl der Mühe wert, alle Situationen der Reihe nach durchzugehen, nicht um sie mit Ausrufungszeichen zu begleiten, sondern um bei jeder einzelnen ihre Bedeutung, ihren Wert als musikalische Situation zu zeigen, jedoch liegt das außerhalb der Grenzen gegenwärtiger, kleiner Untersuchung. Hier kam's vor allen Dingen darauf an, Don Juans Zentralität für die ganze Oper hervorzuheben. Ähnliches wiederholt sich hinsichtlich der einzelnen Situationen.

Jene erwähnte Zentralität Don Juans werde ich etwas näher beleuchten, indem ich die übrigen Personen des Stückes im Verhältnis zu ihm in Betracht ziehe. Wie in einem Sonnensysteme die dunklen Körper, welche ihr Licht von der Zentralsonne erhalten, beständig nur zur Hälfte hell sind, leuchtend auf der zur Sonne hingewandten Seite, gerade so ist's mit den Personen dieses Stückes: nur ihr Lebensmoment, die dem Don Juan zugekehrte Seite ist erleuchtet; übrigens sind sie dunkel und undurchsichtig. Man nehme dies nicht in dem eingeschränkten Sinne, als stelle jede dieser Personen die eine oder andre Leidenschaft dar, als wäre z.B. Anna der pure Haß, [121] Zerline der Leichtsinn. Solche Geschmacklosigkeiten gehören am wenigsten hierher. Die Leidenschaft des Einzelnen ist konkret, aber in sich selbst konkret; das übrige der Persönlichkeit ist von dieser Leidenschaft verschlungen. Das ist nun völlig in der Ordnung, weil wir es eben mit einer Oper zu thun haben. Jene Dunkelheit, jene teils sympathische, teils antipathische, geheimnisvolle Kommunikation mit Don Juan macht sie sämtlich musikalisch, und bewirkt, daß die ganze Oper in Don Juan zusammenklingt. Die einzige Figur im Stücke, welche eine Ausnahme zu machen scheint, ist natürlich der Kommodore. Aber darum ist es auch so weislich eingerichtet, daß er gewissermaßen außerhalb des Stückes steht, oder es begrenzt. Je mehr der Kommodore hervorgehoben und ins Stück hineingezogen würde, desto mehr würde die Oper aufhören, absolut musikalisch zu sein. Daher ist er beständig im Hintergrunde gehalten und so nebelhaft wie möglich. Der Kommodore ist der kraftvolle Vordersatz und der schroffe Schlußsatz, zwischen welchen beiden Don Juans Zwischensatz in der Mitte liegt; aber der reiche Inhalt dieses Zwischensatzes ist der Gehalt der Oper. Nur zweimal tritt der Kommodore auf. Das erste Mal ist es Nacht. Die Sache geht im Hintergrunde der Bühne vor sich; man kann ihn nicht sehen; man hört ihn fallen von dem Degen Don Juans. Schon hier offenbart sich sein Ernst, um so ergreifender bei dem paradoxierenden Spotte Don Juans, was Mozart vortrefflich in der Musik ausgedrückt hat. Schon hier ist sein Ernst ein zu tiefer, als daß er einem Menschen angehören konnte. Der Alte ist Geist, ehe er stirbt. Das zweite Mal erscheint er als Geist; und die Donnerstimme des Himmels erdröhnt in seiner ernsten, feierlichen Stimme. Sowie er aber persönlich verklärt ist, so ist seine Stimme umgewandelt: er redet nicht mehr, er richtet.

Die nächst Don Juan wichtigste Person des Stückes ist Leporello. Sein Verhältnis zum Herrn wird erst durch die Musik wahrhaft verständlich; ohne dieses bleibt es unverständlich. Ist Don Juan eine reflektierte Persönlichkeit, so wird Leporello beinahe ein noch größerer Schurke, als er ist; und man begreift nicht, wie Don Juan über ihn so viele Gewalt ausüben kann. Das einzige Motiv, das übrig bliebe, wäre, daß dieser ihn besser als alle andern bezahlen[122] konnte, ein Motiv, von dem sogar Moliére keinen Gebrauch machen wollte, welcher Don Juan in Geldnot geraten läßt. Erblicken wir dagegen in ihm beständig, was er wirklich ist: unmittelbares Leben, dann begreift man leicht, daß er einen entscheidenden Einfluß auf Leporello üben kann, daß er denselben sich assimiliert, ja fast zu seinem Organe macht. In gewissem Sinne ist Leporello eher zu einem persönlichen Bewußtsein angelegt, als Don Juan; um es aber so weit zu bringen, müßte er sich über sein Verhältnis zu letzterem klar werden; dies vermag er nicht, er vermag den Zauber nicht zu lösen. Auch in Leporellos Verhältnis zu Don Juan ist etwas Erotisches, eine Macht, mit welcher er ihn sogar wider seinen Willen gefangen hält. Aber unter aller dieser Zweideutigkeit bleibt er musikalisch, und beständig hören wir Don Juan aus ihm widerklingen. Hiervon später ein Beispiel, zum Beweise, daß dieses mehr als eine Phrase ist.

Den Kommodore ausgenommen, stehen alle Personen in einer Art erotischen Verhältnisses zu Don Juan. Über jenen, welcher in persönlichem Bewußtsein steht, kann er keine Macht ausüben; die übrigen stehen unter seiner Herrschaft. Elvira liebt ihn; dadurch ist sie in seiner Gewalt. Zerline fürchtet ihn; dadurch ist sie in seiner Gewalt. Ottavio und Mazetto gehen der Verschwägerung zuliebe mit: denn die Bande des Blutes sind zarter Art.

Der geneigte Leser wird vielleicht erkannt haben, daß im vorhergehenden von mehreren Seiten darauf hingewiesen ist, in welcher Stellung Don Juan zum Musikalischen steht, wie dieses das Konstituierende der ganzen Oper ist und sich in deren einzelnen Abteilungen spiegelt. Ich könnte hier aufhören; indes um weiterer Vollständigkeit willen will ich jene Behauptung an ein paar einzelnen Stücken näher beleuchten. Die Wahl sei keine willkürliche. Ich wähle die Ouvertüre, welche wohl zumeist den Grundton der Oper angibt in gedrängter Konzentration, und hebe zunächst das vor andern epische und am meisten lyrische Moment des Stückes hervor, um zu zeigen, wie selbst an der äußersten Grenze die innere Vollendung der Oper bewahrt, das Musikalisch-Dramatische aufrechtgehalten wird, wie Don Juan es ist, welcher die Oper musikalisch trägt.[123]

Schon der Umstand, daß eine Oper auch eine Ouvertüre erfordert, zeigt das Übergewicht des Lyrischen, und daß die beabsichtigte Wirkung diese ist, eine Stimmung hervorzurufen, etwas, worauf ein Drama sich nicht einlassen kann, da hier alles durchsichtig sein muß. Es ist daher in der Ordnung, daß die Ouvertüre zuletzt komponiert wird, damit der Künstler selbst von der Musik recht und völlig durchdrungen sei. Die Ouvertüre läßt uns daher in der Regel einen tiefen Blick in des Komponisten Inneres thun, und wie er innerlich zu seiner eignen Musik steht. Ist es ihm nicht gelungen, das Zentrale derselben zu er greifen, steht er nicht im tiefsten Rapport, mit der Grundstimmung der Oper, so wird sich dies unverkennbar in der Ouvertüre verraten; sie wird alsdann ein von loser Ideenassoziation durchzogenes Aggregat einzelner Akkorde, aber keine Totalität, so daß sie, wie sie sollte, die tiefsten Aufschlüsse über den Inhalt der Musik gäbe. Die Anlage einer solchen verfehlten Ouvertüre pflegt denn auch ganz willkürlich zu sein; sie kann so lang, oder so kurz ausfallen, wie sie will, und das zusammenhaltende und kontinuierliche Element kann, sofern es weiter nichts als eine Ideenassoziation ist, nach Belieben ausgesponnen werden. Daher ist die Ouvertüre für Komponisten untergeordneter Art eine gefährliche Versuchung; sie werden leicht verführt, ein Plagiat an sich selbst zu begehen, aus der eignen Tasche zu stehlen, etwas, was sehr störend wirkt. Während es aber einleuchtend ist, daß die Ouvertüre nicht dasselbe bringen soll, wie die Oper, so darf sie auch nicht einen absolut andersartigen Inhalt haben. Sie muß dasselbe enthalten, wie die Oper, nur in andrer Gestaltung; sie muß es in zentraler Fassung geben, und den Zuhörer mit der ganzen Macht des Zentralen ergreifen.

In dieser Hinsicht ist und bleibt die von jeher bewunderte Ouvertüre zum Don Juan ein vollendetes Meisterwerk, welches allein für Don Juans Klassizität zeugen könnte. Diese Ouvertüre ist kein Durcheinander von Themas; sie ist nicht labyrinthisch von Ideenassoziationen durchzogen; sie ist konzis, bestimmt, kräftig gebaut, und vor allem von dem Wesen dieser Oper ganz durchsäuert. Sie ertönt machtvoll, wie ein Gottesgedanke, bewegt wie das Leben einer Welt, erschütternd in ihrem Ernste, erbebend in ihrer Liebeslust,[124] niederschmetternd in ihrem furchtbaren Zorn, begeisternd in ihrer lebensfrischen Freude, dumpf in ihrem Strafurteile, langsam feierlich in ihrer imponierenden Würde, bewegt, flatternd, tanzend in ihrer Fröhlichkeit. Und dies hat sie keineswegs durch Aussaugen der Oper erreicht; nein, im Verhältnis zu dieser läßt sie sich als eine Weissagung betrachten. In der Ouvertüre entfaltet die Musik ihren ganzen Umfang, mit ein paar mächtigen Flügelschlägen schwingt sie sich gleichsam über sich selbst hinaus und schwebt über die Stätte hin, auf welche sie herabsteigen will. Es ist ein Kampf, aber ein Kampf in den höheren Regionen der Lust. Wer diese Ouvertüre hört, nachdem er mit der Oper schon eine nähere Bekanntschaft gemacht hat, dem wird es vielleicht vorkommen, als sei er zu der geheimen Werkstatt vorgedrungen, wo die Kräfte, die er im Stücke kennen gelernt hat, sich urkräftig regen, wo sie mit aller Gewalt sich gegeneinander brechen, jedoch, der Streit ist zu ungleich! die eine der Mächte ist schon vor der Schlacht Siegerin. Sie flieht und zieht sich zurück; aber ihre Flucht ist eben ihre Leidenschaft, die glühende Unruhe während ihrer kurzen Lebensfreude, der pochende Puls in seiner leidenschaftlichen Hitze. Hierdurch setzt sie die andre Macht in Bewegung und reißt sie mit fort. Diese, welche sich anfangs so unerschütterlich sicher zeigte, daß sie sich beinahe nicht zu regen schien, muß nun vorwärts, und bald wird die Bewegung so rasch, daß es ein wirklicher Streit zu sein scheint. Näher ausführen läßt sich dies nicht. Hier gilt es, die Musik zu hören: denn der Streit ist kein Wortstreit, sondern ein elementares Toben. Nur muß ich daran erinnern, daß Don Juan das Interesse der Oper ausmacht, nicht Don Juan und der Kommodore, was sich schon in der Ouvertüre zu erkennen gibt. Absichtlich scheint Mozart es so angelegt zu haben, daß jene tiefe Stimme, die sich im Anfange vernehmen läßt, allmählich immer schwächer wird, gleichsam ihre majestätische Haltung verliert, daß sie eilen muß, um der dämonischen Jagd folgen zu können, welche vor ihr entweicht, und dennoch sie fast dazu herabwürdigt, in der Kürze des Augenblickes ein Weltrennen mit ihr auszuführen. Hierdurch bahnt sich der Übergang zur Oper selbst nach und nach an. Demzufolge muß man das Finale sich im nahen Verhältnis denken[125] zu dem ersten Teile der Ouvertüre. Im Finale ist der Ernst wieder zu sich selbst gekommen, und hat hiermit jeden Ausweg zu einem neuen Wettlauf abgeschnitten.

Sonach ist die Ouvertüre, in dem einen Sinne allerdings selbständig, in einem andern als ein Anlauf zur Oper zu betrachten. Dies habe ich im vorhergehenden anzudeuten gesucht, indem ich die Erinnerung des Lesers auffrischte an das successive Decrescendo, worin die eine der Mächte dem Anfang des Stückes entgegengeht. Dasselbe zeigt sich, wenn man beachtet, wie die andre Macht sich in wachsender Progression kundgibt. Sie beginnt in der Ouvertüre, wächst und verstärkt sich. Bewundernswert ist besonders jener ihr Anfang ausgedrückt. Man hört sie, nur schwach, geheimnisvoll angedeutet; man hört sie, aber so rasch vorübergehend, daß man beinahe den Eindruck bekommt, man habe sie nicht gehört. Es erfordert ein aufmerksames, ein erotisches Ohr, um sogleich das erste Mal es zu erlauschen, wenn ein Wink des leichten Spieles dieser Liebeslust anklingt, welche nachher in so verschwenderischer Fülle zum Ausdruck kommt. Punkt für Punkt angeben, wo es geschieht, das kann ich, kein Musikkenner, freilich nicht; aber ich schreibe ja auch nur für Liebende, welche mich wohl verstehen werden, einige besser, als ich mich selbst verstehe. Ich bin indessen mit meinem bescheidenen Teil zufrieden, mit dieser rätselvollen Verliebtheit; und obgleich ich den Göttern danke, ein Mann geworden zu sein, und nicht ein Weib, so hat Mozarts Musik mich gelehrt, daß es schön ist und erquickend, ja unergründlich tief, zu lieben wie ein Weib. –

Die Bildersprache erregt leicht bei mir die Furcht, es sei darauf abgesehen, irgend eine Dunkelheit des Gedankens zu vertuschen. Daher will ich auch nicht einen unverständigen oder unfruchtbaren Versuch riskieren, die energische und bündige Kürze in weitläufige und nichtssagende Bildersprache zu übersetzen. Nur einen Punkt der Ouvertüre will ich hervorheben; und um auf denselben aufmerksam zu machen, werde ich mich eines Bildes bedienen, des einzigen Mittels, um mit ihm mich in Verbindung zu setzen. Dieser Punkt ist natürlich kein andrer, als Don Juans erstes Auftauchen, die sich regende Ahnung desselben als der Macht, mit weicher er später hindurchbricht. Die[126] Ouvertüre hebt an mit einigen tiefen, ernsten, einförmigen Tönen; dann ertönt zuerst aus weiter Ferne ein Wink, welcher jedoch, als wäre er zu frühe gekommen, in demselben Augenblicke zurückgerufen wird, bis man nachher, wieder und wieder, kühner und kühner, immer lauter, jene Stimme vernimmt, welche zuerst listig, kokett, und doch wie scheu, sich eindrängte, aber nicht durchzudringen vermochte. So erscheint zuweilen in der Natur der Horizont dunkel, bewölkt; zu schwer, sich selbst zu tragen, ruht er auf der Erde und hüllt alles in sein nächtiges Dunkel; man hört einzelne hohlklingende Töne, doch nicht in Bewegung, mehr wie ein dumpfes Murmeln mit sich selbst. Da erblickt man an der äußersten Grenze des Himmels, tief am Horizont, einen Lichtschimmer, welcher rasch um die Erde läuft; im selben Nil ist er erloschen. Bald aber zeigt er sich wieder, wächst an Stärke, beleuchtet momentan mit seiner Flamme den ganzen Himmel. Im nächsten Augenblicke scheint der Horizont noch finstrer; aber noch rascher, glutvoller lodert er auf; es ist, als verlöre die Finsternis selbst ihre Ruhe und gerate in Bewegung. Sowie das Auge in dem ersten aufblitzenden Schimmer die Feuersbrunst ahnt, so ahnt unser Ohr in jenen hinsterbenden Bogenstrichen das Ganze der Leidenschaft. In jenem aufblitzenden Lichtpunkte regt sich etwas wie Angst; es ist, als werde er unter dem tiefen Dunkel in Angst geboren – ebenso ist Don Juans Leben. In seiner Seele regt sich eine Angst, welche aber mit der Energie seines Wesens eng zusammenhängt, ja eins mit ihr ist. In der Ouvertüre läßt sich keineswegs, wie man wohl gesagt hat, die Stimme der Verzweiflung hören. Don Juans Leben ist fürwahr nicht Verzweiflung; vielmehr ist es die ganze Nacht der Sinnenlust, welche unter Ängsten geboren wird. Don Juans innerstes Wesen ist diese Angst, welche sich gerade als die dämonische Lebenslust äußert. Nachdem Mozart auf diese Art Don Juan hat entstehen lassen, so entwickelt er sein Leben vor uns in den tanzenden Violinklän gen, in denen er leicht und flüchtig über dem Abgrunde hin und her jagt. Wie wenn man einen Stein derart schleudert, daß er die Oberfläche des Wassers schneidet, dann eine Zeitlang in leichten Sätzen darüber weiter hüpfen kann, wogegen er augenblicklich in den Abgrund sinkt, sobald er zu hüpfen und zu[127] springen aufhört: ebenso tanzt er über dem Abgrunde, lustig jubelnd in der vergönnten kurzen Frist.

Wenn aber also die Ouvertüre für einen Anlauf zur Oper selbst gelten darf, wenn man alsdann mit der Ouvertüre von jenen höhern Regionen herabsteigt, so fragt sich, an welcher Stelle der Oper man am besten landet, mit andern Worten: womit soll diese ihren Anfang nehmen? – Hier hat Mozart das allein Richtige gesehen, nämlich mit Leporello anzufangen. Man bewundre auch hier Mozarts Meisterschaft. Die erste Dienersarie hat er in unmittelbare Verbindung mit der Ouvertüre gesetzt, welcher man sie mit Fug und Recht zurechnet. Diese Arie Leporellos entspricht dem nicht unberühmten Monologe Sganarels bei Molière. Diesem ist Witz durchaus nicht abzusprechen; dagegen ist die Situation mangelhaft. Ein Monolog ist immer mehr oder weniger ein Bruch mit dem Dramatischen; und wenn der Dichter, um eine Wirkung hervorzurufen, durch die Witze des Monologs, nicht durch den Charakter desselben, zu wirken sucht, so hat er selber den Stab über sich gebrochen und das dramatische Interesse preisgegeben. Anders in der Oper. Hier ist: die Situation absolut musikalisch. Was macht denn aber diese zu einer musikalischen Situation? Wenn Leporello auch, wie wir oben gesehen, eine musikalische Figur ist. So ist er's doch nicht, welcher die Situation trägt. Don Juan, der drinnen ist, macht sie musikalisch. Nicht auf Leporello, welcher hervortritt, ruht die Pointe, sondern in Don Juan, welchen man gar nicht sieht, wohl aber hört. Nämlich in Leporellos Munde ertönt ein Echo Don Juans. Ich mache auf die Übergänge aufmerksam ( vuol star dentro colla bella, »auch ich will etc.«), worin Leporello offenbar Don Juan reproduziert. Aber selbst hiervon abgesehen, ist die Situation so angelegt, daß man unwillkürlich Don Juan mit bekommt, daß man Leporello, welcher vor unsern Augen steht, über Don Juan vergißt, welcher drinnen ist. Überhaupt hat Mozart mit großer Genialität Leporello so behandelt, daß er Don Juan reproduziert, und hierdurch zweierlei erreicht: die musikalische Wirkung, daß man überall, wo er allein ist, Don Juan hört, und die parodische Wirkung, daß man, wenn Don Juan mit dabei ist, hört, wie Leporello ihn repetiert und[128] hiermit unbewußt parodiert. Als Beispiel führe ich kurz den Schluß des Balletts an.

Fragt man, welches Moment in der Oper das am meisten epische sei, so ist die Antwort leicht und unzweifelhaft. Es ist Leporellos zweite Arie, der Vortrag des »kurzen Registers«. Schon im vorhergehenden ist hervorgehoben, welche absolute Bedeutung die Musik habe, daß diese gerade dadurch, daß sie uns Don Juan mit allen Variationen seiner Stimmung hören läßt, eine Wirkung hervorrufe, wie das Wort oder die Replik dazu nicht im stande ist. Hier ist es wichtig, die Situation und das Musikalische derselben zu betonen. Sehen wir uns auf dem Schauplatze um, so besteht das szenische Ensemble aus Leporello, Elvira und dem treuen Diener. Der ungetreue Liebhaber ist dagegen nicht am Platze; wie Leporello treffend sagt – »er ist fort«. Und doch erwähne ich hier seine Person und führe ihn mit hinein in die Situation. Bei näherer Erwägung wird man dies völlig in der Ordnung finden und hier ein Beispiel sehen, wie genau und nach dem Wortlaute es verstanden werden muß, daß Don Juan in der Oper allgegenwärtig sei. Stärker kann dies kaum bezeichnet werden, als so: selbst wenn er fort ist, sei er dennoch zugegen. In welchem Sinne, davon später. Wir fassen zuvor die drei auf der Bühne befindlichen Personen ins Auge. Elvira ist es, durch welche die Situation zustandekommt; aber durch ihre Gegenwart wird die Situation, nämlich das Aufrollen des Registers, auch zu einer peinlichen. Ist doch überhaupt der mit Elviras Liebe getriebene Spott beinahe ein grausamer. So im zweiten Akte, wo sie in dem entscheidenden Augenblicke, als Ottavio endlich Mut gefaßt und den Degen gezogen, um ihn Don Juan in die Brust zu stoßen, sich dazwischen stürzt und nun entdeckt, daß es nicht Don Juan sei, sondern Leporello! Ein Unterschied, den Mozart durch einen gewissen ächzenden Klageton angedeutet hat. Und was kann schmerzlicher für sie sein, als anzuhören, daß in Spanien 1003 auf die Liste der Opfer gesetzt sind? Ja, im deutschen Texte, welcher sich bekanntlich durch seine Geschmacklosigkeit auszeichnet, wird ihr vor den Kopf gesagt, daß sie eins der Opfer sei. – Für Elvira gibt hier Leporello eine epische Übersicht über das Leben seines Herrn; und was[129] man nicht leugnen kann, es ist ganz in der Ordnung, daß Leporello die Rolle des Vortragenden, Elvira die der Zuhörerin hat. Beide sind ja in hohem Grade dabei interessiert. Sowie man daher in der ersten Arie beständig Don Juan hört, so hier an einzelnen Stellen Elvira, welche sichtbar auf der Bühne zugegen ist, als ein Zeuge instar omnium, nicht wegen eines persönlichen Vorzuges, sondern weit die Methode wesentlich dieselbe bleibt und so eine für alle gelten darf. Wäre Leporello als dramatischer Charakter und als reflektierende Persönlichkeit anzusehen, so ließe sich schwerlich ein solcher Monolog denken; aber darum eben, weil er eine musikalische Figur ist, welche gänzlich in Don Juan aufgeht, daher kommt dieser Arie eine so große Bedeutung zu. Sie gibt eine Reproduktion des ganzen Lebens Don Juans. Leporello ist der epische Erzähler, welcher sich in gewissen Akkorden gleich anfangs ankündigt. Ein solcher darf zwar nicht kalt oder gleichgültig sein gegen den Inhalt seiner Erzählung; jedoch muß er eine objektive Haltung ihm gegenüber bewahren. Dies ist bei Leporello nicht der Fall. Er wird von dem Leben, das er schildert, ganz hingerissen; er vergißt sich selbst über Don Juan. Wiederum ein erläuterndes Beispiel zu dem Satze, daß Don Juan überall durchtönt. Die Situation beruht also nicht sowohl auf Leporellos und Elviras Unterhaltung über Don Juan, als vielmehr auf der Stimmung, die das Ganze trägt, auf Don Juans unsichtbarer, geistiger Gegenwart. Die Übergänge in dieser Arie näher zu entwickeln, wie sie ruhig und weniger bewegt anhebt, aber je mehr und mehr Don Juans Leben und Treiben in ihr wiedertönt, wie Leporello immer völliger davon hingenommen wird und sich von diesen erotischen Schwingungen gleichsam wiegen läßt, wie dieselben in verschiedener Weise nüanciert werden, in dem Maße wie die Differenzen weiblicher Art und Weise, die für Don Juan zugänglich waren, in der Arie zu Gehör kommen – dafür fehlt hier der Raum.

Fragt man, wo das lyrische Moment in der Oper am stärksten hervortrete, so kann hier, wo alles sich dem einen Don Juan unterordnet, seine Nebenperson dermaßen in den Vordergrund treten, daß sie unsre ganze Aufmerksamkeit hinnimmt. Dies hat auch Mozart[130] wohl beachtet. Es kann bei jener Frage entweder nur der erste Teil des großen Finale, also die Tafelszene in Betracht kommen, oder die bekannte Champagner-Arie. Was die erstere betrifft, so läßt sie sich wohl bis zu einem gewissen Grade als lyrisches Moment betrachten; und die berauschende Herzstärkung der Mahlzeit, der schäumende Wein, die fernen Festklänge der Musik, alles vereinigt sich, um Don Juans Stimmung zu potenzieren, sowie denn seine eigne festliche Haltung ein gesteigertes Licht über die ganze Genußszene verbreitet. Und dies wirkt dergestalt, daß selbst Leporello in diesem Augenblicke über sich hinaus gehoben wird, einem Augenblicke, welcher das letzte Lächeln der Freude, den Abschiedsgruß des Genußlebens bedeutet. Indes ist dies doch mehr eine Situation, als ein bloß lyrisches Moment. Das beruht natürlich nicht darauf, daß auf der Bühne gegessen und getrunken wird: denn dadurch wird noch bei weitem keine Situation zuwegegebracht. Die Situation liegt darin, daß Don Juan hinausgedrängt ist bis auf die äußerste Klippe des Lebens. Verfolgt von der ganzen Welt, hat jener siegreiche Don Juan jetzt keinen Aufenthalt außer einem abseits gelegenen Zimmerchen. Diese äußerste Spitze auf dem Schaukelbrette des Lebens einnehmend, aller lustigen Gesellschaft entbehrend, entflammt er noch einmal alle Lebenslust in seiner Brust. Wäre »Don Juan« ein Drama, so würde die innere Unruhe der Situation erfordern, daß sie so kurz wie möglich ausfiele. Für die Oper dagegen ist es in der Ordnung, daß die Situation festgehalten, in möglichster Üppigkeit verherrlicht wird. Diese rauscht desto wilder an uns vorüber, weil sie unserm Ohre widerhallt aus dem Abgrunde, über welchem Don Juan schwebt.

Anders verhält es sich mit der Champagner-Arie. Eine dramatische Situation wird man, wie ich glaube, hier vergeblich suchen; desto mehr Bedeutung hat sie aber als lyrische Herzensergießung. Don Juan ist der vielen sich kreuzenden Intriguen müde. Indes ist er selbst keineswegs ermattet; seine Seele ist noch so lebenskräftig wie je; ihn verlangt nach muntrer Gesellschaft, nicht um hier das Geschäume des Weins zu sehen und zu hören, oder um hierdurch sich zu beleben: nein, die innere Vitalität bricht aus ihm stärker und reicher als je hervor. Ideal ist er durchgehends von Mozart aufgefaßt,[131] nämlich als Leben, als Macht, aber ideal einer Wirklichkeit gegenüber. Hier ist er gleichsam ideal in und aus sich selbst berauscht. Wenn alle Mädchen der Welt in diesem Augenblicke ihn umgäben, so würde er ihnen nicht gefährlich sein: denn er ist gewissermaßen zu stark, um sie jetzt bethören zu wollen; selbst die wechselvollsten Genüsse der Wirklichkeit dünken ihm zu gering, verglichen nämlich mit dem, was er in sich selbst genießt. Hier offenbart es sich recht, was es heißt, daß Don Juans Wesen Musik ist. Er löst sich für uns gleichsam in Musik auf; er entfaltet sich von innen heraus zu einer Welt von Tönen. Die Bezeichnung, die man dieser Arie gegeben hat: »Champagner-Arie«, ist unleugbar sehr treffend. Was aber vor anderm beachtenswert ist: sie steht zu Don Juan nicht in einem zufälligen Verhältnis. Geradeso ist sein Leben, brausend und schäumend, wie Champagner im Kelche. Und sowie in diesem Weine, während er in innerer Glut siedet, die Perlen, tonreich in ihrer eignen Melodie, emporsteigen und immer aufs neue emporsteigen: also tönt in der elementarischen Wallung, aus welcher sein Leben besteht, die sinnliche Lust des Genusses wider. Was daher dieser Arie dramatische Bedeutung gibt, ist nicht die Situation, sondern dies, daß der Grundton der Oper hier in sich selbst erklingt und widerklingt.

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 114-132.
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