4. Kapitel
Vom Treffen des rechten Tons / Schï Yin

[60] Die Natur des Ohres ist es, die Töne zu lieben; aber wenn das Herz nicht heiter ist, so mögen alle fünf Klänge ertönen, und man hört sie nicht. Die Natur des Auges ist es, die Farben zu lieben; aber wenn das Herz nicht heiter ist, so mögen alle fünf Farben vor Augen sein, und man sieht sie nicht. Die Natur der Nase ist es, Düfte zu lieben; aber wenn das Herz nicht heiter ist, so mögen alle Düfte einen umgeben, und man riecht sie nicht. Die Natur des Mundes ist es, Wohlgeschmäcke zu lieben, aber wenn das Herz nicht heiter ist, so mögen Speisen von allen fünf Geschmacksarten vor einem stehen, und man ißt sie nicht. Das Begehren wohnt in den Sinnen, die Heiterkeit oder Nichtheiterkeit aber liegt im Herzen. Das Herz muß in Harmonie und Ruhe sein, dann erst wird es heiter. Das Herz muß heiter sein, dann erst können sich die Neigungen der Sinne regen. Darum ist es zur Heiterkeit nötig, das Herz zur Harmonie zu bringen. Das Herz kommt zur Harmonie, wenn[60] der rechte Ton getroffen wird. Wenn die Heiterkeit den richtigen Ton trifft, so trifft auch das Herz den richtigen Ton.

Es liegt in der Natur des Menschen langes Leben zu lieben und vorzeitigen Tod zu scheuen, Sicherheit zu lieben und Gefahr zu scheuen, Ehre zu lieben und Schande zu scheuen, Ruhe zu lieben und die Mühsal zu scheuen. Wenn man die vier geliebten Dinge bekommt und frei bleibt von den vier Dingen, die man verabscheut, so findet das Herz die richtige Stimmung. Die Erfüllung der vier Wünsche beruht aber darauf, daß man die Vernunft walten läßt; läßt man die Vernunft walten bei der Bildung seiner Person, so wird das Leben vollkommen, und durch die Vollkommenheit des Lebens wird ein hohes Alter erreicht. Läßt man die Vernunft walten bei der Ordnung des Staates, so werden die Gesetze befestigt. Sind die Gesetze befestigt, so fügt sich die ganze Welt. Darum ist es wichtig, damit das Herz den richtigen Ton trifft, die Vernunft walten zu lassen.

Bei der Musik kommt es auch darauf an, daß man den rechten Ton trifft. Ist sie zu rauschend, so wird die Stimmung aufgeregt. Wenn man in aufgeregter Stimmung rauschende Musik hört, so vermag das Ohr sie nicht zu fassen. Wenn man sie nicht aufzufassen vermag, so gibt es Stauungen und durch die Stauung Erschütterung. Ist sie zu leise, so wird die Stimmung unbefriedigt. Hört man unbefriedigter Stimmung leise Musik, so füllt sich das Ohr nicht; füllt sich das Ohr nicht, so bleibt die Anregung ungenügend, und durch ungenügende Anregung bleibt eine innere Leere. Sind die Töne zu hoch, so wird die Stimmung zu gespannt, hört man gespannter Stimmung hohe Töne, so gellen die Ohren. Gellen die Ohren, so kann man die Töne nicht mehr unterscheiden, und durch diesen Mangel an Unterscheidung wird man erschöpft. Sind die Töne zu tief, so wird die Stimmung bedrückt. Hört man in bedrückter Stimmung tiefe Töne, so faßt sie das Ohr nicht auf. Kann man sie nicht auffassen, so wird man zerstreut und durch Zerstreuung ärgerlich. Darum: Sowohl zu rauschende als auch zu leise, sowohl zu hohe als auch zu tiefe Musik treffen nicht den rechten Ton.[61]

Was heißt den rechten Ton treffen? Die mittlere Lage ist der rechte Ton der Musik. Was heißt die mittlere Lage? Wenn die Größe der Instrumente ein Gün nicht übersteigt und ihre Schwere nicht über ein Schï hinausgeht: das ist die mittlere Lage der Größe und der Schwere25. Die Tonika der gelben Glocke ist die Grundlage der musikalischen Töne26. Sie hält die Mitte zwischen Höhe und Tiefe. Wenn man den rechten Ton in der rechten Weise hört, so stellt sich eine harmonische Stimmung ein. Das ist der Zustand, wo die Heiterkeit nicht zu groß ist, sondern ein harmonisches Gleichmaß vorhanden ist. Darum ist die Musik eines wohlgeordneten Zeitalters ruhig und heiter und die Regierung gleichmäßig. Die Musik eines unruhigen Zeitalters ist aufgeregt und grimmig und seine Regierung ist verkehrt. Die Musik eines verfallenden Staates ist sentimental und traurig, und seine Regierung ist gefährdet. Stets ist die Musik in Wechselwirkung mit der Regierungsart und beeinflußt die Gebräuche und mildert die Sitten. Wenn die Sitten gefestigt sind, so vermag die Musik sie zu beeinflussen. Darum genügt es in einem Zeitalter, da Ordnung herrscht, die Musik eines Landes zu beobachten, um seine Sitten zu kennen; seine Regierung zu beobachten, um seinen Herrscher zu kennen. Darum haben die alten Könige die Musik dazu benützt, um ihren Kultureinfluß zum Ausdruck zu bringen. Im reinen Tempel wird eine Harfe benützt mit roten Saiten und zarten Tönen. Nach jedem Vers, der gesungen wird, folgen drei Seufzer, das zeigt, daß es noch etwas Höheres gibt als Klangschönheit27. Beim großen Opfer ist es Sitte, daß der dunkle Kelch vorangestellt wird und rohe Fische auf der Platte dargebracht werden. Die große Fleischsuppe ist ungemischt, denn es gibt noch etwas Wichtigeres als den Geschmack28. Darum waren die alten Könige bei der Schaffung von Sitte und Musik nicht nur darauf aus, Ohr und Auge zu ergötzen und die Lüste von Mund und Magen zu befriedigen, sondern ihre Absicht war es, die Menschen zu lehren, ihre Zu- und Abneigungen zu mäßigen und vernunft- und pflichtgemäß zu wandeln.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 60-62.
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