5. Kapitel
Verschiedene Art der Betätigung / I Yung

[127] Die Dinge sind verschieden und der Mensch betätigt sich ihnen gegenüber auf unterschiedliche Weise. Das ist der Grund, warum entweder Ordnung in einem Staate herrscht oder Verwirrung, warum eine Familie entweder besteht oder zugrunde geht, warum ein Mensch entweder stirbt oder am Leben bleibt. Ein[127] Reich mit weitem Gebiet, starkem Militär und großem Reichtum hat nicht notwendig Frieden. Ehre und Größe bedeuten nicht notwendig Ruhm. Es kommt auf die Art der Betätigung an. Die Tyrannen Giä und Dschou Sin benützten ihre Hilfsmittel, um ihren Untergang zu vollenden. Die Könige Tang und Wu benützten ihre Hilfsmittel, um ihre Weltherrschaft zu vollenden31.

Tang sah, wie die Leute Netze aufstellten. Sie stellten sie nach allen vier Himmelsrichtungen auf und die Beschwörung lautete: »Was vom Himmel herunterkommt, was aus der Erde hervorkommt, was aus allen vier Himmelsrichtungen herbeikommt, möge alles meinem Netz verfallen sein.« Tangsprach: »Ach, auf diese Weise wird ja alles ausgerottet; wer außer Giä könnte so etwas tun?« Tang entfernte bei seinen Netzjagden drei Seiten und stellte das Netz nur in einer Richtung auf. Er ordnete eine neue Beschwörung an, die lautete: »Dschu Mo hat einst die Netze und Reußen erfunden. Die Leute von heutzutage haben gelernt, sie zu weben. Was nach links will, möge nach links gehen; was nach rechts will, möge nach rechts gehen; was darüber hinweg will, möge darüber hinweg gehen; was darunter hindurch will, möge darunter hindurch gehen. Ich fange nur die Tiere, die meinem Befehl sich widersetzen.« Die Staaten südlich vom Han-Fluß hörten das und sprachen: »Tangs Gnade kommt selbst dem Wild zugut.« Darauf fielen ihm vierzig Staaten zu. Wer sein Netz nach allen vier Himmelsrichtungen ausspannt, ist darum doch noch keineswegs sicher, Vögel zu fangen. Tang entfernte drei Seiten davon und stellte es nur in einer Richtung auf und fing auf diese Weise vierzig Staaten, nicht nur Vögel.

Der König Wen von Dschou ließ einst einen Teich graben. Dabei stieß man auf die Überreste eines verstorbenen Menschen. Der Aufseher teilte es dem König Wen mit. Der König Wen sprach: »Bestattet ihn an einem anderen Ort.« Der Aufseher sprach: »Er ist ohne Angehörige.« König Wen sprach: »Wer die Weltherrschaft besitzt, dessen Angehörige sind alle Bürger der Welt, wer einen Staat hat, dessen Angehörige sind alle Bürger dieses Staates. Sollte ich darum nicht für ihn als meinen Angehörigen sorgen?«[128] Darauf befahl er dem Aufseher, ihn mit Totengewändern und einem Sarg zu versehen und ihn aufs neue bestatten zu lassen. Die Leute auf Erden hörten es und sprachen: »König Wen ist ein würdiger Fürst. Seine Gnade kommt selbst den Leichen zugut, wieviel mehr den Menschen.« Ein anderer mag wohl einen Schatz finden und sein Land dadurch gefährden. König Wen fand einige verweste Knochen und erfreute dadurch der Menschen Herz. So ist für den Weisen kein Ding ohne Wert.

Wenn den Meister Kung ein Schüler aus der Ferne besuchte32, so nahm der Meister Kung seinen Stab über die Schultern und fragte ihn: »Geht es Deinem Großvater wohl?« Darauf nahm er seinen Stab in beide Hände, machte eine Verbeugung und sprach: »Geht es Deinen Eltern wohl?« Darauf stellte er den Stab beiseite und fragte: »Geht es Deinen Brüdern wohl?« Darauf bewegte er sich, auf den Stab gestützt, einige Schritte vorwärts und fragte: »Geht es Deiner Frau und Deinen Kindern wohl?« So gelang es dem Meister Kung mit Hilfe seines sechs Fuß langen Stabes die Stufen der Stellung und die entsprechenden Pflichten der Anhänglichkeit klarzumachen. Wieviel mehr erst ist das möglich durch Verleihung von Rang und Einkommen. Die Leute des Altertums nahmen das Bogenschießen für wichtig, weil dadurch die Möglichkeit gegeben war, die Jugend im Zaum zu halten und das Alter zu pflegen33. Die Leute von heutzutage nehmen das Schießen für wichtig, um kriegerische Unternehmungen, Vergewaltigungen, oder wenigstens Einschüchterungen der Schwachen und anmaßendes Auftreten gegen die wenigen Mächtigen zu ermöglichen. Denn sie sind auf Raub und Bereicherung aus.

Wenn ein guter Mensch Reisbrei bekommt, so denkt er zunächst daran, daß man damit die Kranken und Alten versorgen könne34. Wenn Räuber wie Dschï und Ki Dsu Reisbrei bekommen, so denken sie nur daran, daß man damit Schlüssel schmieren kann, um die Türen auf- und zuzuschließen.

Fußnoten

1 Das Zeichen We, Schwanz, ist im Skorpion. Das Zeichen We, Abgrund, ist in der Gegend des Pegasus. Die sieben Sterne sind der Kopf der Hydra am südlichen Sternhimmel. Der Winter ist dem Wasser zugeordnet. Er entspricht dem Norden. Vom Zehnerzyklus haben die beiden Zeichen Jen und Gui die Bedeutung des Wassers.


2 Dschuan Hü ist der Sage nach der Enkel des Huang Di (Gau Yung Schï), der in der Kraft des Wassers die Welt beherrschte. Nach seinem Tod wurde er als Gott des Nordens und des Wassers verehrt.


3 Hüan Ming gilt als Sohn des Schau Hau. Er wird als Schutzgeist der Finsternis und des Wassers verehrt. Die Schaltiere stehen unter der Herrschaft der Schildkröte, die als dunkler Krieger den nördlichen Himmelsquadranten bildet.


4 Ying Dschung, wörtlich Echoglocke, ist eine weibliche Tonart. Die Tonart entspricht dem Sammeln und Bergen des Winters.


5 Das Wasser ist das erste der fünf Elemente, die Erde das fünfte. 5 + 1 = 6.


6 Nach anderer Lesart den Brunnengeistern.


7 Dreißig Tage nach dem Herbstäquinoktium ist das Herabsteigen des Reifs. Fünfzehn Tage danach der Winteranfang.


8 Das große Wasser ist der Huai-Fluß.


9 Der Regenbogen entsteht durch die Vereinigung der lichten und der dunklen Kraft. Da in diesem Monat die dunkle Kraft die Alleinherrschaft hat, wird er nicht mehr gesehen.


10 Die dunkle Halle ist der nördliche Flügel der Ming Tang. Das linke Gemach ist das westliche.


11 Das Schwein ist unter den Haustieren ebenfalls dem Wasser zugeordnet.


12 Im Dschou Li hatte der Großorakelmeister die drei Arten des Dschau- Orakels zu befragen. Die erste Art war das Yü Dschau = Nephritorakel. Die zweite Art war das Wa Dschau = Ziegelorakel. Die dritte Art war das Yüan Dschau = ursprüngliche Orakel. Außerdem werden die drei Bücher der Wandlungen befragt: Das Buch Liän-Schan, das Buch Gui-Dsang und das Buch der Wandlungen der Dschou-Dynastie. Die Orakel werden auch unterschieden in Dschau, die mit Hilfe der Schildkröte gewonnen werden und in Gua, die mit Hilfe der Schafgarbe (Achillea) gewonnen werden. Für die letztere Art ist als Textbuch das I Ging (Buch der Wandlungen) bestimmt.


13 Vgl. I Ging Zeichen 12: Pi die Stockung.


14 Damit die Felder nicht damit geschädigt werden.


15 Da in diesem Monat die Ackerarbeiten vollendet sind, so versammelt der Himmelssohn und die Landesfürsten ihre Beamten zu einem großen Trinkgelage, bei dem die Rangordnung nach dem Alter vorgeschrieben ist. Die Fleischstücke werden zerlegt und auf den Opferplatten dargebracht. Der Himmelssohn bittet um Segen für das nächste Jahr bei den himmlischen Ahnen. Im Schu Ging werden deren sechs genannt, nämlich nach der einen Erklärung Himmel, Erde und die vier Jahreszeiten, denn der Himmel erzeugt die Dinge und die Erde trägt die Dinge, der Frühling bewegt die Dinge, der Sommer bringt Wachstum, der Herbst Reife und der Winter sammelt in die Scheunen.


16 Der Gott der kaiserlichen Altäre ist Hou Tu, der Herr Erde, ein männlicher Erdgott, von dem schon weiter oben die Rede war. Die fünf Hausgottheiten oder Laren sind erstens: der Holzgenius Gou Mang, ihm wird geopfert an der Tür, zweitens: der Feuergenius Dschou Yung, ihm wird geopfert auf dem Herd, drittens: der Erdgenius Hou Tu, ihm wird geopfert am Impluvium, viertens: der Metallgenius Jou Schou, ihm wird geopfert am Tor, fünftens: der Wassergenius Hüan Ming, ihm wird geopfert am Brunnen.


17 Wenn man nämlich den Toten zu begehrenswerte Schätze mitgibt, so sind die genannten Gefahren nicht zu vermeiden.


18 Die Worte Füchsen, Grundwassern sind zu streichen. Sie sind von oben hier eingedrungen.


19 Die Kohle, vielleicht wäre besser Kalk zu lesen, soll dazu dienen, das Grab gegen Feuchtigkeit zu schützen und Baumwurzeln am Eindringen zu hindern.


20 Vom Sarg gingen im alten China zwei Stricke aus, an denen das Leichengefolge sich hielt.


21 Es sind hier natürlich in erster Linie die Gräber der herrschenden Dynastie gemeint, die, wenn ein Dynastiewechsel durch den Kampf sich vollzog, häufig geplündert wurden.


22 Wörtlich, von Landleuten, die nur Töpfe und Kessel haben, d.h. keine Schüsseln und Teller.


23 Nach Dso Dschuan ist Yau in Tschong Yang begraben, am Fuße des Tschong Yang-Berges gibt es einen Gu-Wald.


24 Der Kuai Gi-Berg im heutigen Tschekiang ist mit der Sage von Yü verknüpft.


25 Der östliche Gräberhain war das Grab des Herzogs Wen.


26 Vgl. Schï Ging, Siau Ya Buch V, 1.


27 Die folgenden Sätze stehen völlig außer Zusammenhang mit dem Thema. Sie scheinen aus dem Kapitel Bu Örl in den Text eingedrungen zu sein, vgl. XVII, 7.


28 Huai Nan Dsï 18; Han Fe Dsï 7.


29 Der Abschnitt steht mit geringen Abweichungen Liä Dsï Buch VIII, 17.


30 Wu Yün oder Wu Dsï Sü war ein Bürger von Tschu. Er mußte aber sein Vaterland verlassen und wandte sich nach Wu, dem er bei seinem Kampfe gegen Tschu eine große Hilfe war.


31 Sin Sü 5; Schï Dsi A; Sui Schui 7 und 6; Schï Gi 3.


32 Sin Schu 6.


33 Die Schießübungen des Altertums waren gesellschaftliche Vereinigungen friedlicher Art.


34 Huai Nan Dsï 17.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 127-129.
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