4. Kapitel
Worauf man zu achten hat / Dang Wu

[137] Beredsamkeit, die nicht mit der Logik übereinstimmt, Wahrhaftigkeit, die nicht mit der Vernunft übereinstimmt, Mut, der nicht mit der Gerechtigkeit übereinstimmt, Gesetzlichkeit, die nicht mit der sinngemäßen Anwendung übereinstimmt, sind wie ein irrender Wanderer auf schnellem Rosse oder wie ein Wahnsinniger, der ein scharfes Schwert schwingt. Was die Welt am meisten außer Rand[137] und Band bringt, sind diese vier Dinge. Was an der Beredsamkeit wichtig ist, ist ihre Übereinstimmung mit den Gesetzen der Logik; was am Mut wichtig ist, ist daß er das Rechte tut; was an der Gesetzlichkeit wichtig ist, ist ihre sinngemäße Anwendung.

Die Gesellen des Räubers Dschï9 fragten ihn einmal und sprachen: »Hat das Räuberhandwerk auch seine Moral?« Dschï sprach: »Aber selbstverständlich hat es seine Moral. Instinktiv erkennt der Räuber wo etwas verborgen ist: das ist seine Größe. Er geht zuerst hinein: das ist sein Mut. Er kommt zuletzt heraus: das ist sein Pflichtgefühl. Er erkennt die rechte Zeit: das ist seine Weisheit. Er muß gerecht verteilen: das ist seine Güte. Daß einer, der diese fünf Eigenschaf ten10 nicht besitzt, ein großer Räuber ward, ist auf Erden noch nie vorgekommen. Umgekehrt verhöhnte er all die sechs großen Könige und die fünf Führer der Fürsten. Yau stehe im Rufe der Lieblosigkeit11. Schun habe sich Unehrerbietigkeit gegen seine Eltern zuschulden kommen lassen12. Yü sei genußsüchtig gewesen13. Tang und Wu haben sich der Verbannung bzw. des Mords ihres Herrn schuldig gemacht14. Die fünf Führer der Fürsten haben Pläne geschmiedet zur Unterdrückung der Schwachen. Es sei ein großer Betrug, daß alle Zeitalter diese Männer loben und alle Menschen in Scheu vor ihnen stehen.« Als er starb, ließ er sich mit einem ehernen Hammer in der Hand begraben, indem er sprach: »Wenn ich drunten die sechs Könige und die fünf Führer der Fürsten treffe, so werde ich ihnen den Schädel einschlagen.« Eine solche Beredsamkeit ist schlimmer als keine Beredsamkeit.

In Tschu lebte ein ehrlicher Mensch. Als sein Vater ein Schaf gestohlen hatte, da zeigte er ihn beim Fürsten an. Der Fürst ließ den Vater ergreifen und wollte ihn hinrichten lassen. Da bat der Ehrliche, für ihn die Strafe erleiden zu dürfen. Zum Henker aber sagte er: »Wenn mein Vater ein Schaf stiehlt und ich zeige es an, ist das denn nicht wahrheitsliebend? Wenn der Vater hingerichtet werden soll und ich trete für ihn ein, ist das denn nicht pietätvoll? Wenn man aber zum Lohn für Wahrheit und Pietät hingerichtet werden soll, wer im Reiche soll dann nicht hingerichtet werden?«[138] Das hörte der König von Tschu und er wurde nicht hingerichtet. Meister Kung hörte es und sprach: »Seltsam ist die Wahrhaftigkeit dieses ehrlichen Menschen! An seinem Vater hat er sich zweimal einen guten Namen geholt.« Besser als die Wahrheitsliebe dieses ehrlichen Menschen ist es, nicht wahrheitsliebend zu sein15.

In Tsi lebten zwei Raufbolde. Der eine wohnte im Ostweiler und der andere wohnte im Westweiler. Schließlich trafen sie sich unterwegs und sagten: »Wir wollen einmal zusammen trinken.« Nachdem der Becher einigemale umgegangen war, sprach einer: »Du bestehst aus Fleisch und ich bestehe aus Fleisch. Wozu brauchen wir uns noch nach anderem Fleisch umzutun?« Darauf stellten sie nur Tunke zurecht. Dann nahmen sie ihre Messer und schnitten sich gegenseitig das Fleisch aus dem Leib und aßen es auf und machten es solange fort, bis sie beide tot waren. Ein solcher Mut ist schlimmer als gar kein Mut.

Der Tyrann Dschou Sin hatte zwei Brüder. Alle drei waren Söhne einer Mutter. Der älteste hieß We Dsï Ki, der zweite hieß Dschung Yän, der dritte hieß Schou De. Schou De war eben der Tyrann Dschou Sin. Er war der Jüngste. Als seine Mutter den We Dsï Ki und den Dschung Yän gebar, war sie noch Nebenfrau. Danach wurde sie Hauptfrau und gebar den Dschou Sin. Dschou Sins Vater und Mutter wollten beide den We Dsï Ki zum Kronprinzen einsetzen. Aber der Großmagier holte das Gesetz hervor und stritt dagegen, indem er sprach: »Solange der Sohn einer Hauptfrau vorhanden ist, darf man nicht den Sohn einer Nebenfrau einsetzen.« So wurde Dschou Sin Nachfolger. Eine derartige Anwendung des Gesetzes ist schlimmer als gar kein Gesetz.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 137-139.
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