3. Kapitel
Zeitgemässheit / Schou Schï

[183] Der Weise scheint in seinem Handeln langsam und ist doch schnell, er scheint zögernd und ist doch geschwind: weil er auf die rechte Zeit wartet.

Der Vater des Königs Wen, der König Gi Li, mußte sich zu Tode mühen. Das lag dem König Wen gar schwer auf, außerdem hatte er auch den Schimpf seiner Gefangenhaltung in Yu Ki keineswegs[183] vergessen. Aber die Zeit war noch nicht erfüllt. König Wu selbst mußte früh und spät ihm (dem Tyrannen Dschou Sin) unermüdlich dienen, obwohl auch er die Schande, daß man zu Ehren des Tyrannen ein Nephrittor hatte errichten müssen, nicht vergessen hatte. Aber er saß zwölf Jahre auf dem Thron, ehe er die Tat des Tages Gia Dsï vollrachte26. Die Zeit ist wirklich schwer zu treffen.

Tai Gung Wang war ein Staatsmann unter den Barbaren des Ostens. Er wollte das ganze Zeitalter in feste Bahnen bringen, aber er fand nicht den Herrn dazu. Da hörte er, daß König Wen tüchtig sei. Darum angelte er im Flusse We, um ihn zu sehen27.

Wu Dsï Sü wollte den König von Wu28 sehen, aber er konnte es nicht erreichen. Da sprach ein Bekannter über ihn mit dem Prinzen Guang. Der empfing ihn, wurde aber so von seinem Äußeren abgestoßen, daß er, ohne auf seine Ratschläge zu hören, ihn verabschiedete. Der Bekannte fragte seinethalben erneut beim Prinzen Guang an. Der Prinz Guang sprach: »Sein Äußeres ist für mich so abstoßend.« Das brachte der Bekannte dem Wu Dsï Sü zu Ohren. Der sprach: »Dem läßt sich leicht abhelfen. Der Prinz möge im Saale hinter einem doppelten Vorhang sitzen und nur sein Gewand bis zur Hand mich sehen lassen, und ich will ihm so meinen Rat geben dürfen.« Der Prinz war es zufrieden. Als Wu Dsï Sü ihm die Hälfte seines Planes vorgetragen hatte, da hob der Prinz Guang den Vorhang auf, faßte ihn bei der Hand und setzte sich zu ihm. Als er seinen Rat beendet hatte, da war der Prinz Guang hocherfreut.

Wu Dsï Sü gewann die Überzeugung, daß der Prinz Guang ganz sicher zum Herrscher von Wu bestimmt sei. Darum machte er keinen weiteren Versuch den regierenden König zu sehen, sondern zog sich zurück und widmete sich dem Ackerbau auf dem Lande sieben Jahre lang. Als der Prinz Guang an Stelle des Königs Liau König von Wu geworden war, da betraute er den Wu Dsï Sü. Wu Dsï Sü ordnete die Gesetze, war entgegenkommend gegen die Tüchtigen und Guten, suchte taugliche Staatsmänner aus, ordnete eine kriegerische Ausbildung an. Nach sechs Jahren hatte er es soweit gebracht, daß er einen entscheidenden Sieg über Tschu[184] bei Bo Gü erfocht; in neun Schlachten wurde Tschu neunmal besiegt, und tausend Meilen weit verfolgte man die Flüchtigen. Der König Dschau floh außer Landes, und so wurde die Hauptstadt Ying eingenommen. Da schoß er selbst nach dem Königschloß und ließ dem Grab des Königs Ping von Tschu 300 Peitschenhiebe geben. Als er damals das Feld bestellte, hatte er nicht etwa die Rache für seinen Vater, der vom König von Tschu getötet worden war, vergessen, sondern er wartete auf seine Zeit.

Unter den Anhängern des Mo Di war ein gewisser Tiän Giu, der den König Hui von Tsin sehen wollte. Drei Jahre weilte er in Tsin, ohne daß es ihm gelungen wäre ihn zu sehen. Da redete ein Bekannter von ihm mit dem König von Tschu. Er ging hin und trat vor den König von Tschu. Der König von Tschu fand Wohlgefallen an ihm und gab ihm das Abzeichen eines Feldherrn und schickte ihn in einer Mission nach Tsin. Als er ankam, sah er infolge davon den König Hui. Da sagte er zu den Leuten: »Geht der Weg nach Tsin über Tschu?«

Allerdings kommt es vor, daß einem die Nächsten die Fernsten sind und die Fernsten die Nächsten. So geht es auch oft mit der Zeit.

Wenn einer so weise wäre wie Tang und Wu, aber es wäre nicht die Zeit eines Giä und Dschou Sin, so brächte er nichts zustande. Oder aber wenn es zur Zeit eines Giä und Dschou Sin keine Tang und Wu gäbe, so käme auch nichts zustande. Darum hält sich der Weise an die Zeit wie der Schatten an den Wanderer, der sich nicht von ihm trennen kann. Darum verbirgt sich ein Staatsmann, der den rechten Weg kennt, solange seine Zeit noch nicht gekommen ist und verkriecht sich mühsam, um seine Zeit zu erwarten.

Wenn die Zeit gekommen ist, da ist es schon vorgekommen, daß ein einfacher Bauer im leinenen Kittel Großkönig geworden ist29, oder daß ein Lehnsfürst das Weltreich gewonnen hat30, oder daß Leute aus niedrigstem Stande dazu aufgestiegen sind31, drei große Könige zu beraten, oder daß ein gewöhnlicher Mensch eine Rache an einem mächtigen Fürsten vollzogen hat32.[185]

Darum nehmen die Weisen die Zeit so ganz besonders wichtig. Wenn das Eis hart zu frieren beginnt, pflegte Hou Dsi33 nicht zu säen, sondern Hou Dsi wartete mit Säen, bis der Frühling da war. Darum kann einer so klug sein wie er will, wenn er nicht die rechte Zeit trifft, bringt er nichts fertig.

Während die Baumblätter üppig im Triebe sind, mag man den ganzen Tag davon abpflücken, ohne daß es zu bemerken ist. Aber wenn der Herbstreif fällt, stehen alle Wälder kahl.

Die Schwierigkeit einer Sache beruht nicht auf ihrer Größe, sondern darauf, die Zeit zu erkennen.

Der Herr Yang von Dschong kam zu Tode, weil die Leute einen wilden Hund verfolgten34. Gau Guo von Tsi kam ums Leben, weil die Leute eine entlaufene Kuh verfolgten. Die Menge, aufgeregt wie sie war, tötete aus diesem Anlasse den Gau Guo. Wenn die Zeit gekommen ist, mag selbst ein Hund oder eine Kuh die Menschen zu etwas treiben, wie vielmehr, wenn sie einen Menschen als Führer haben.

Hungrige Pferde mögen den Stall füllen und doch bleiben sie stille, solange sie noch kein Heu gesehen. Ein ganzer Zwinger voll hungriger Hunde bleibt ganz still, solange sie noch keinen Knochen gesehen haben. Aber sowie ein Knochen oder ein Bündel Heu sichtbar wird, lassen sie sich in ihrer Aufregung nicht mehr zurückhalten. So bleiben auch die Menschen in einer übeln Zeit ganz still, solange sie keinen Weisen sehen. Aber wenn sie erst einen Weisen sehen, so strömen sie ihm unaufhaltsam zu. Sie strömen ihm zu nicht äußerlich, sondern mit ihrem Herzen.

Tsi35 kam wegen des Anspruches auf den Titel eines Kaisers des Ostens zu Fall auf Erden, und Lu nahm ihm Sü Dschou weg. Han Dan36 kam wegen Schou Ling in Gefahr durch seine eigenen Untertanen, und We nahm ihm Giän Schï weg37. Daß Lu und We trotz ihrer Kleinheit solche Erfolge gegenüber von Großstaaten errangen, kommt davon her, daß sie die rechte Zeit getroffen.

Darum wenn ein tüchtiger Herrscher und brauchbarer Staatsmann der Bevölkerung eine Wohltat erweisen will, so ist eine Zeit der Unruhen gerade der rechte Zeitpunkt. Der Himmel gibt[186] eine Gelegenheit nicht zweimal. Die Zeit verweilt nicht lang, ein geschickter Arbeiter braucht seine Arbeit nicht zu wiederholen. Es kommt alles auf den rechten Augenblick an.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 183-187.
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