I. Die monotheistischen Religionen in ihrem Verhältnis zum Materialismus

Der Untergang der alten Kultur in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung ist ein Vorgang, dessen ernste Rätsel zum großen Teile noch ungelöst sind.

Wie schwierig es auch ist, die verworrenen Vorgänge der römischen Kaiserzeit in ihrem großen Maßstabe zu überblicken und sich an den hervorstechenden Tatsachen zu orientieren, so ist man doch noch ungleich weniger imstande, die Wirkungen der kleinen, aber unendlich vervielfachten Veränderungen im täglichen Verkehr der Nationen, im Schoß des niederen Volkes, am Herd obskurer Familien des Landes wie der Städte in ihren vollen Ausdehnung zu würdigen.77

Und doch ist so viel gewiß, daß eben aus den unteren und mittleren Schichten der Weltbevölkerung allein jene große Umwälzung zu erklären ist.

Man hat sich leider gewöhnt, das sogenannte Entwicklungsgesetz der Philosophie als eine eigne, fast mystisch wirkende Kraft anzusehen, die vom Gipfel der Erkenntnis mit Notwendigkeit in die Nacht des Aberglaubens zurückführt, um sodann unter neuen und höheren Formen ihren Kreislauf wieder zu beginnen. Es ist mit dieser Triebkraft der Völkerentwicklung wie mit der Lebenskraft der Organismen. Sie ist vorhanden, aber eben nur als die resultierende aller einzelnen natürlichen Kräfte; ihre Annahme erleichtert oft die Betrachtung, verhüllt aber die Unwissenheit und führt zu Fehlern, wenn man sie als Erklärungsgrund ergänzend neben jene Elemente setzt, mit deren Gesamtheit sie eins ist.

Für unsere Aufgabe ist wohl festzuhalten, daß ein für allemal Unwissenheit nicht die eigne Konsequenz des Willens, phantastische Willkür nicht die Konsequenz der Methode sein kann, daß Aufklärung nicht und nie für und durch sich selbst zum Aberglauben zurückleitet.

Wir haben gesehen, wie im Altertum unter dem Fortschritt der Aufklärung, des Wissens, der Methode, die geistige Aristokratie von den Massen sich löste. Der Mangel einer durchgreifenden Volksbildung mußte diese Lösung beschleunigen und tödlicher[151] machen. Die Sklaverei, in gewissem Sinne die Basis der ganzen alten Kultur, änderte in der Kaiserzeit ihren Charakter und wurde nur um so unhaltbarer, je mehr man diese gefährliche Institution zu verbessern suchte.78

In den abergläubischen Massen begann der zunehmende Völkerverkehr die Religionen zu mischen. Orientalische Mystik hüllte sich in hellenische Formen. In Rom, wo die besiegten Nationen zusammenströmten, gab es bald nichts mehr, das nicht Gläubige fand, wie es nichts mehr gab, das nicht von der Mehrzahl verspottet wurde. Dem Fanatismus der Verblendeten stand hier nur leichtfertiger Hohn oder blasierte Gleichgültigkeit gegenüber; die Bildung schroffer, wohldisziplinierter Parteien mußten bei der allgemeinen Zersplitterung der Interessen in der höheren Gesellschaft unmöglich sein.

In dieser Masse drangen durch die unglaublich angeschwollene Literatur, durch desultorische Studien unberufener Geister, durch den täglichen Verkehr abgerissene Elemente wissenschaftlicher Errungenschaften ein und erzeugten jenen Zustand der Halbbildung, den man auch in unsern Tagen, jedenfalls mit geringerem Grunde, charakteristisch finden will. Man darf aber nicht vergessen, daß eben diese Halbbildung vor allem auch der Zustand der Reichen und Mächtigen, der einflußreichen Männer war, bis auf den Kaiserthron. Die vollendetste Weltbildung, feine gesellige Formen und ein großartiger Überblick der Verhältnisse sind im philosophischen Sinne nur zu oft mit der kläglichsten Halbheit vereinigt, und die Gefahren, die man den Lehren der Philosophie andichtet, pflegen sich in solchen Kreisen, wo die geschmeidige, prinziplose Halbbildung nur der natürlichen Neigung oder der entfesselten Leidenschaft dient, allerdings zu verwirklichen.

Wenn Epikur in großartiger Erhebung die Fesseln der Religion zu Füßen warf, um zur eignen Lust gerecht und edel zu sein, so kamen jetzt jene verruchten Günstlinge des Augenblicks auf, wie schon Horaz und in reicher Auswahl Juvenal und Petronius sie schildern, die in Lastern der unnatürlichsten Art mit dreister Stirn einherschritten: und wer schützte die arme Philosophie, wenn solche Elende sich den Namen Epikurs, wo nicht gar den der Stoa vindizierten?

Die Verachtung des Pöbelglaubens ward hier zur Maske der inneren Hohlheit, der völligen Leere an allem Glauben und an allem wahren Wissen; das Lächeln über die Idee der Unsterblichkeit[152] ward eine Devise des Lasters; aber das Laster ruhte auf den Zeitverhältnissen und hatte sich trotz der Philosophie, nicht durch sie gebildet.

Und in diesen nämlichen Schichten fanden die Priester der Isis, die Thaumaturgen und die Propheten mit ihrem gauklerischen Gefolge eine reiche Nahrung; gelegentlich auch die Juden einen Proselyten.79

Die völlig ungebildete niedere Menge teilte in den Städten den Charakter der Charakterlosigkeit mit den Großen in ihrer Halbbildung. Daher entstand denn in diesen Zeiten in höchster Blüte jener sogenannte praktische Materialismus, der Materialismus des Lebens.

Auch auf diesem Punkte bedürfen die herrschenden Begriffe einer Aufklärung. Es gibt auch einen Materialismus des Lebens, der, von den einen geschmäht, von den andern gepriesen, sich doch neben jeder praktischen Richtung von anderm Charakter darf blicken lassen.

Wenn das Streben nicht auf flüchtigen Genuß, sondern auf wirkliche Vervollkommnung der Zustände gerichtet ist, wenn die Energie des materiellen Unternehmungsgeistes geleitet ist durch eine klare Berechnung, die bei allem die Grundlage bedenkt und daher zum Ziele kommt: dann entsteht jener riesige Fortschritt, der in unseren Tagen England binnen zwei Jahrhunderten groß gemacht hat, der in Athen zur Zeit des Perikles mit der höchsten Blüte geistigen Lebens, die je von einem Staate erreicht worden ist, Hand in Hand ging.

Ganz anders war der Materialismus Roms zur Zeit der Kaiser, der sich in Byzanz und Alexandria und in allen Hauptstädten des Reichs wiederholte. Auch hier beherrschte die Frage nach Geld die zersplitterten Massen, wie Juvenal und schon Horaz es in schneidenden Zügen schildern; allein es fehlten die großen Prinzipien der Hebung nationaler Kraft, der gemeinnützigen Ausbeutung natürlicher Hilfsquellen, welche eine materielle Zeitrichtung adeln, weil sie zwar vom Stoff ausgehen, aber an ihm die Kraft entwickeln. Dieses wäre der Materialismus des Gedeihens; Rom kannte den des Faulens; die Philosophie verträgt sich mit dem ersteren, wie mit allem, was Prinzipien hat; sie schwindet, oder vielmehr, sie ist schon verschwunden, wenn jene Greuel hereinbrechen, deren Schilderung wir uns hier sparen wollen.

Hinweisen müssen wir jedoch auf die unwidersprechliche Tatsache,[153] daß in jenen Jahrhunderten, als die Scheußlichkeiten eines Nero und Caligula oder gar eines Heliogabalus den Erdkreis befleckten, keine Philosophie unangebauter lag, keine dem ganzen Geist der Zeiten fremder war, als gerade jene, welche unter allen das kälteste Blut, die ruhigste Betrachtungsweise, die nüchternste, am reinsten prosaische Untersuchung forderte: die Philosophie des Demokrit und des Epikur.80

Das Zeitalter des Perikles war die Blütezeit der materialistischen und sensualistischen Philosophie des Altertums, ihre Früchte reiften in der Zeit des alexandrinischen Studiums, in den beiden letzten Jahrhunderten vor Christo.

Als aber in der Kaiserzeit die Massen trunken wurden von dem doppelten Taumel der Laster und der Mysterien: da fand sich kein nüchterner Schüler mehr und die Philosophie fand ihr Ende von selbst. Bekanntlich herrschten in jener Zeit neuplatonische und neupythagoreische Systeme vor, in denen sich mit manchen edleren Elementen vergangener Zeit Schwärmerei und orientalische Mystik durchdrangen. Plotinus schämte sich, einen Leib zu haben, und wollte niemals sagen, von welchen Eltern er stamme. Hier haben wir den Gipfel der antimaterialistischen Richtung bereits in der Philosophie, ein Element, das mächtiger war auf dem Boden, dem es wahrhaft angehörte, auf dem Boden der Religion. Niemals haben die Religionen im buntesten Gemisch von den reinsten bis zu den abscheulichsten Formen üppiger gewuchert, als in den drei ersten Jahrhunderten n. Chr. Geburt. Kein Wunder, daß auch die Philosophen dieser Zeit oft als Priester und Apostel auftraten. Die Stoiker, deren Lehre von Haus aus schon einen theologischen Zug hatte, lenkten zuerst in diese Richtung ein und erhielten sich daher von den älteren Schulen am längsten in Ansehen, bis sie von den asketischen Mystikern des Neuplatonismus überboten und verdrängt wurden.81

Man hat oft gesagt, daß Unglauben und Aberglauben einander befördern und hervorrufen, allein auch hier darf man sich durch den Schimmer der Antithese nicht blenden lassen. Erst die Erwägung der spezifischen Ursachen und strenge Sonderung von Zeiten und Zuständen zeigt, was daran ist.

Wenn ein strenges wissenschaftliches System, auf soliden Prinzipien ruhend, mit wohlgefügten Gründen den Glauben vom Wissen ausschließt, so schließt es ganz gewiß noch weit vollkommener jede vage Form des Aberglaubens aus. In Zeiten und Kreisen aber,[154] wo das wissenschaftliche Studium ebenso zerrüttet und zersplittert ist wie die nationalen und urwüchsigen Formen des Glaubens, da hat allerdings jener Satz seine Geltung. So war es in der Kaiserzeit. Und in der Tat gab es keine Richtung, kein Bedürfnis des Lebens, dem nicht auch eine religiöse Form entgegengekommen wäre; allein neben den üppigen Festen des Bacchus, den geheimnisvollen reizenden Mysterien der Isis verbreitete sich im stillen mehr und mehr die Neigung zu strenger, der Welt entsagender Askese.

Wie unter den Individuen blasierte Entnervtheit nach Erschöpfung aller Lüste zuletzt nur noch einen Reiz der Neuheit übrig läßt, den eines strengen, entsagenden Lebens: so ging es der Alten Welt im Großen. Und da ist denn natürlich, daß diese neue Richtung zunächst im schroffsten Kontrast gegen die heitere Sinnlichkeit der Alten Welt zu einem Extrem der Weltflucht und Selbstverleugnung führte.82

Das Christentum mit seiner wundersam ergreifenden Lehre von dem Reiche, das nicht von dieser Welt ist, schien dazu den trefflichsten Anhalt zu bieten. Die Religion der Unterdrückten und der Sklaven, der Mühseligen und Beladenen, lockte auch den genußsüchtigen Reichen, dem Genuß und Reichtum keine Befriedigung mehr boten. Hier verband sich mit der Entsagung das Prinzip der allgemeinen Brüderlichkeit, welches dem im Egoismus verdorrten Herzen neue geistige Genüsse erschloß. Die Sehnsucht des irrenden und vereinsamten Gemütes nach einer starken Gemeinschaft und einem positiven Glauben wurde gestillt, und das feste Zusammenhalten der Gläubigen, die imposante Einheit der allenthalben durch das weite Reich verzweigten Gemeinden wirkten mehr für die Ausbreitung der neuen Religion als die Fülle der erzählten und willig geglaubten Wundergeschichten. Das Wunder war überhaupt weit weniger ein Werkzeug der Ausbreitung, als eine notwendige Zugabe des Glaubens in einer über alles Maß wundersüchtigen und wundergläubigen Zeit. In dieser Beziehung machten nicht nur Isispriester und Magier dem Christentum Konkurrenz, sondern selbst Philosophen traten als Wundertäter und gottbeglaubigte Propheten auf. Was die neuere Zeit von einem Cagliostro und Gaßner erlebt hat, ist nur ein schwaches Abbild von den Leistungen eines Apollonius von Tyana, des gefeiertsten der Propheten, dessen Wunder und Weissagungen zum Teil selbst von Lucian und Origenes zu gegeben werden. Allein es zeigte sich auch hier wieder, daß auf die Dauer nur das einfachste und konsequente Prinzip Wunder[155] tut: das Wunder wenigstens, welches die zerrissenen Nationen und Konfessionen allmählich um die Altäre der Christen vereinigte.83 Indem das Christentum den Armen das Evangelium verkündete, hob es die antike Welt aus den Angeln.84 Was sinnlich in der Vollendung der Zeiten erscheinen wird, das erfaßte das gläubige Gemüt im Geiste: das Reich der Liebe, in welchem die Letzten die Ersten sein werden. Dem starren Rechtsbegriff der Römer, welcher die Ordnung auf die Gewalt baut und das Eigentum zur unerschütterlichen Grundlage der menschlichen Verhältnisse macht, trat mit unbegreiflicher Übermacht die Forderung entgegen, allem Eignen zu entsagen, den Feind zu lieben, die Schätze zu opfern und den Verbrecher am Galgen sich selbst gleich zu achten.

Ein unheimliches Grauen vor diesen Lehren erfaßte die Alte Welt85 und vergeblich suchten die Gewalthaber durch grausame Verfolgungen eine Revolution zu erdrücken, welche alles Bestehende umstürzte und nicht nur des Kerkers und Scheiterhaufens, sondern auch der Religion und der Gesetze spottete. In kühner Selbstgenügsamkeit des Heils, welches ein jüdischer Hochverräter, der den Sklaventod erlitten, vom Himmel selbst als Gnadengeschenk des ewigen Vaters herniedergebracht hatte, eroberte diese Sekte Land um Land und wußte, an ihren Grundgedanken festhaltend, allmählich sogar die abergläubischen Vorstellungen, die sinnlichen Neigungen, die Leidenschaft und die Rechtsbegriffe des Heidentums, da sie sich nicht vernichten ließen, in den Dienst der neuen Schöpfung hineinzuziehen. An die Stelle des mythenreichen Olymp traten die Heiligen und Märtyrer. Der Gnostizismus brachte die Elemente einer Philosophie des Christentums. Christliche Rhetorenschulen öffneten sich allen, welche die alte Bildung mit dem neuen Glauben zu vereinigen suchten. Aus der einfachen und strengen Disziplin der alten Kirche entwickelten sich die Elemente der Hierarchie. Die Bischöfe rissen Reichtümer an sich und führten ein übermütiges, weltliches Leben; der Pöbel der großen Städte berauschte sich in Haß und Fanatismus. Die Armenpflege verfiel und der wuchernde Reiche schützte seinen Raub durch Polizei und Justiz. Die Feste glichen bald an Üppigkeit und Prunk denen des verfallenden Heidentums, und devote Andacht schien im Schwall ungeordneter Empfindungen den Lebenskeim der neuen Religion ersticken zu wollen. Sie erstickte ihn aber nicht. Ringend gegen die fremden Massen brach er immer wieder durch. Selbst die Philosophie des Altertums, welche aus trüben neuplatonischen[156] Quellen sich in die christliche Welt ergoß, mußte sich dem Charakter derselben fügen. Und während List, Verrat und Greuel halfen, den christlichen Staat – einen Widerspruch in sich – zu begründen, blieb doch der Gedanke der gleichmäßigen Berufung aller Menschen zu einem höheren Dasein die Grundlage der neueren Völkergeschichte. »So ward,« sagt Schlosser, »selbst der Wahn und Trug der Menschen eins der Mittel, durch welche die Gottheit aus den vermodernden Trümmern der Alten Welt ein neues Leben entwickelte.«86

Es erwächst nunmehr für uns die Aufgabe, zu untersuchen, welchen Einfluß das durchgebildete christliche Prinzip auf die Geschichte des Materialismus haben mußte, und wir werden hiermit die Berücksichtigung des Judentums und des vorzüglich wichtigen Mohammedanismus verbinden.

Was diese drei Religionen gemeinsam haben, ist der Monotheismus.

Wenn der Heide alles voll von Göttern sieht und sich gewöhnt hat jeden einzelnen Naturvorgang als einen besonderen dämonischen Wirkungskreis zu betrachten, so sind die Schwierigkeiten, welche dadurch der materialistischen Erklärung in den Weg gelegt werden, tausendfältig wie die Gliederung des Götterstaates. Hat daher ein Forscher den großen Gedanken gefaßt, alles was ist, aus Notwendigkeit geschehen zu lassen, Gesetze anzunehmen und einen unsterblichen Stoff, dessen Verhalten geregelt ist, so gibt es im Grunde keinerlei Versöhnung mehr mit der Religion. Epikurs künstliche Vermittlung ist daher schwächlich anzusehen und konsequenter waren jene Philosophen, welche das Dasein der Götter leugneten. Der Monotheist hat hier der Wissenschaft gegenüber eine andere Stellung. Wir geben zu, daß auch der Monotheismus eine niedere und sinnliche Auffassung zuläßt, bei der jeder einzelne Naturvorgang wieder der besonderen und lokalen Tätigkeit Gottes in menschenähnlicher Weise zugeschrieben wird. Es ist das um so leichter möglich, da doch jeder Mensch nur an sich und seinen Kreis zu denken pflegt. Die Idee der Allgegenwart bleibt für dieses Denken eine fast leere Formel, und man hat im Grunde wieder unzählige Götter, mit dem stillschweigenden Vorbedacht, daß man sie alle als ein und denselben denken will.

Bei diesem Standpunkt, der recht eigentlich der des Köhlerglaubens ist, bleibt die Wissenschaft ebenso unmöglich, wie sie es beim heidnischen Glauben war.[157]

Allein, wenn nun in freier und großartiger Weise dem einen Gott auch ein einheitliches Wirken aus dem Ganzen und Vollen zugeschrieben wird, so wird der Zusammenhang der Dinge nach Ursache und Wirkung nicht nur denkbar, sondern er ist sogar eine notwendige Konsequenz der Annahme. Denn wenn ich irgendwo tausend und abertausend Räder bewegt sähe und nur einen Einzigen vermutete, der sie zu treiben schiene, so würde ich schließen müssen, daß ich einen Mechanismus vor mir hätte, in welchem jedes kleinste Teilchen in seiner Bewegung durch den Plan des Ganzen unabänderlich bestimmt ist. Dies vorausgesetzt, muß ich aber auch die Struktur jener Maschine erkennen, ihren Gang wenigstens stückweise begreifen können, und der Raum für die Wissenschaft ist vorläufig frei.

Ebendeshalb konnten hier jahrhundertelange Entwicklungen vor sich gehen und die Wissenschaft mit positivem Material bereichern, bevor man glaubte schließen zu müssen, daß jene Maschine ein perpetuum mobile sei. Einmal gefaßt, mußte dieser Schluß dann aber auch mit einem Gewicht von Tatsachen auftreten, neben denen das Rüstzeug der alten Sophisten uns äußerst schwach und dürftig erscheint.

Hier können wir also die Wirkung des Monotheismus vergleichen mit einem ungeheuern See, der die Fluten der Wissenschaft sammelt, bis sie plötzlich den Damm zu durchbrechen beginnen.87

Dann aber tritt ein neuer Vorzug des Monotheismus ans Licht. Der Grundbegriff desselben besitzt eine dogmatische Dehnbarkeit und spekulative Vieldeutigkeit, welche ihn geeignet macht, unter den wechselndsten Kulturzuständen und bei den größten Fortschritten wissenschaftlicher Bildung als Träger des religiösen Lebens zu dienen. Statt daß die Vermutung einer in sich zurücklaufenden und ewigen Gesetzen folgenden Regulierung des Weltganzen gleich zu einem Vernichtungskampfe zwischen Religion und Wissenschaft führen müßte, ergibt sich der Versuch, das Verhältnis von Gott und Welt demjenigen von Leib und Seele gleichzusetzen. Die drei großen monotheistischen Religionen haben daher alle in der Zeit der höchsten Geistesbildung ihrer Träger eine Wendung zum Pantheismus genommen. Auch dabei ergibt sich ein Kampf mit der Überlieferung, jedoch noch lange kein Vernichtungskampf.

Es ist der mosaische Glaube, der von allen Religionen zuerst die Idee der Schöpfung als einer Schöpfung aus Nichts gefaßt hat.

Erinnern wir uns, wie der junge Epikur der Sage nach noch als[158] Schulknabe sich der Philosophie zuzuwenden begann, als er hatte lernen müssen, daß alle Dinge aus dem Chaos stammen, und als nun keiner seiner Lehrer ihm erklären konnte, woher denn das Chaos sei.

Es gibt Völker, welche glauben, daß die Erde auf einer Schildkröte ruhe; worauf aber die Schildkröte, darf man nicht fragen. So leicht begnügt sich der Mensch Generationen hindurch mit einer Auskunft, die doch niemand im Ernste genügend finden konnte.

Solche Erdichtungen gegenüber ist die Schöpfung der Welt aus dem Nichts zum mindesten klar und ehrlich. Sie enthält einen so unverhohlenen und direkten Widerspruch gegen jedes Denken, daß sich alle schwächlicheren und versteckteren Widersprüche daneben schämen müssen.88

Allein, was mehr ist: auch diese Idee ist einer Umbildung fähig; auch sie hat einen Teil jener Elastizität, welche den Monotheismus charakterisiert; man konnte den Versuch wagen, die Priorität eines weltlosen Gottes in eine bloße begriffliche umzuwandeln, und die Tage der Schöpfung wurden zu Äonen der Entwicklung.

Neben diesen Zügen, die schon das Judentum bietet, ist es aber wichtig, daß im Christentum zuerst Gott von jeder sinnlichen Gestalt entkleidet und im strengen Ausdruck als ein unsichtbarer Geist gefaßt werden soll. Der Anthropomorphismus ist damit im Prinzip beseitigt, kehrt aber fürs erste in der volkstümlich getrübten Auffassung und in der breiten geschichtlichen Entfaltung des Dogmas hundertfach wieder.

Man könnte denken, daß bei diesen Vorzügen des Christentums sogleich eine neue Wissenschaft mit dem Siege desselben hätte herrlicher erblühen können; allein es ist leicht zu sehen, warum das nicht der Fall war. Einerseits muß man bedenken, daß das Christentum eine Religion des Volkes war, die sich bis zu dem Punkte, wo sie Staatsreligion wurde, von unten heraufentwickelt und ausgebreitet hatte. Am fernsten standen ihr gerade die Philosophen, und um so ferner, je minder sie zur Schwärmerei und phantastischer Behandlung der Philosophie neigten.89 Sodann verpflanzte sich gar bald das Christentum zu neuen, der Kultur bis dahin unzugänglichen Nationen, und es ist kein Wunder, daß hier in einer von vorn anfangenden Schule, alle jene vorbereitenden Stufen wieder durchzumachen waren, die das alte Griechenland und Italien seit den Zeiten der frühesten Kolonisten durchlaufen hatte.

Vor allem aber hat man zu bedenken, daß der Nachdruck der[159] christlichen Lehre ursprünglich keineswegs auf jenen großen theologischen Grundsätzen ruhte, sondern vielmehr auf dem Gebiete der sittlichen Läuterung durch Entsagung von der Weltlust, auf der Theorie der Erlösung und der Hoffnung der Zukunft Christi.

Zudem war es eine psychologische Notwendigkeit, daß sobald einmal durch diesen ungeheuren Erfolg das allgemeine Wesen der Religion wieder in seine alten Rechte eingetreten war, die heidnischen Elemente massenhaft in das Christentum eindrangen, so daß es nun bald seine eigene reiche Mythologie gewonnen hatte. So ward denn nicht nur der Materialismus, sondern jede konsequente monistische Philosophie auf Jahrhunderte hinaus zu einer Unmöglichkeit.

Ganz besonders aber fiel auf den Materialismus ein schwerer Schatten. Jene dualistische Richtung der Zendavesta-Religion, nach der Welt und Materie das Böse repräsentieren, Gott und das Licht das Gute, ist dem Christentum in der Grundidee und noch mehr in der geschichtlichen Entwicklung verwandt. Nichts konnte daher fortan entsetzlicher scheinen, als gerade jene Richtung der alten Philosophie, welche nicht nur eine ewige Materie annahm, sondern sogar diese Materie für die einzige wahrhaft existierende Substanz erklärte. Nimmt man das Sittlichkeitsprinzip Epikurs hinzu, so ist allerdings, so rein man es auch auffassen mag, das wahre Gegenbild der christlichen Anschauung vollendet, und man begreift die verkehrte Beurteilung dieses Systems, welche im Mittelalter vorherrschte.90

In diesem letzteren Punkte ist die dritte der großen monotheistischen Religionen, der Mohammedanismus, dem Materialismus, günstiger; auch entwickelte sich in dieser jüngsten derselben, im Zusammenhang mit dem glänzenden Aufschwung der arabischen Kultur, am frühesten ein freier philosophischer Geist, der zunächst auf die Juden des Mittelalters und sodann auf die abendländischen Christen mächtig zurückwirkte.

Schon vor dem Bekanntwerden der griechischen Philosophie bei den Arabern brachte der Islam zahlreiche Sekten und theologische Schulen hervor, von denen einige den Gottesbegriff so abstrakt faßten, daß keine philosophische Spekulation in dieser Richtung weiter gehen könnte, während andere nichts glaubten, als was sich greifen und beweisen läßt; wieder andere den Fanatismus mit dem Unglauben in phantastischen Systemen zu verbinden wußten. An der hohen Schule zu Basra entwickelte sich sogar schon unter der[160] Protektion der Abbassiden eine Schule, welche in rationalistischer Weise Vernunft und Gauben zu vereinigen suchte.91

Neben diesem reichen Strome rein islamitischer Theologie und Philosophie, den man nicht mit Unrecht mit der Scholastik des christlichen Mittelalters verglichen hat, bildet die peripatetische Schule, die man gewöhnlich im Auge hat, wenn von der arabischen Philosophie des Mittelalters die Rede ist, nur einen vergleichsweise unbedeutenden Zweig mit wenig innerer Mannigfaltigkeit, und Averroès, dessen Name im Abendlande nächst dem des Aristoteles am meisten genannt wurde, glänzt keineswegs als ein Stern erster Größe am Himmel der mohammedanischen Philosophie. Vielmehr beruht seine Bedeutung wesentlich darauf, daß er es ist, der die Resultate der arabisch-aristotelischen Philosophie als letzter hervorragender Vertreter derselben zusammengefaßt und in einer ausgedehnten literarischen Tätigkeit, namentlich durch seine Kommentare zu Aristoteles, dem Abendlande überliefert hat. Diese Philosophie ist, wie die christliche Scholastik, von einer neuplatonisch gefärbten Auslegung des Aristoteles ausgegangen; allein während die Scholastiker der ersten Periode nur ein spärliches Material peripatetischer Überlieferung besaßen, welches ganz von der christlichen Theorie durchwoben und beherrscht wurde, flossen den Arabern die Quellen durch Vermittlung der syrischen Schulen ungleich reicher, und der Gedanke entwickelte sich bei ihnen freier vom Einfluß der Theologie, die ihre besonderen spekulativen Bahnen verfolgte. So kam es, daß die naturalistische Seite des aristotelischen Systems (vgl. oben S. 100) sich bei den Arabern in einer Weise entwickeln konnte, welche der älteren Scholastik ganz fremd blieb und welche später den »Averroismus« in der christlichen Kirche als eine Quelle der ärgsten Ketzereien erscheinen ließ. Drei Punkte sind es hauptsächlich, die hier in Betracht kommen: die Ewigkeit der Welt und der Materie, in ihrem Gegensatz zur christlichen Schöpfungslehre; die Stellung Gottes zur Welt, wonach er entweder nur auf den äußersten Fixsternhimmel wirkt und alle irdischen Dinge nur indirekt, durch die Kraft der Gestirne, von Gott regiert werden, oder gar Gott und Welt in pantheistischer Weise ineinander fließen;92 endlich die Lehre von der Wesenseinheit der Vernunft, die allein das Unsterbliche im Menschen ist: eine Lehre, durch welche die individuelle Unsterblichkeit aufgehoben wird, da die Vernunft nur das eine, göttliche Licht ist, welches Erkenntnis schaffend in die Seele der Menschen hineinleuchtet.93[161]

Es ist begreiflich, daß solche Lehren in der vom christlichen Dogma beherrschten Welt zersetzend eingreifen mußten und daß sowohl hierdurch, wie durch seine naturalistischen Elemente der Averroismus auch dem Materialismus der Neuzeit vorgearbeitet hat. Bei alledem sind beide Richtungen grundverschieden und der Averroismus ist zugleich ein Grundpfeiler jener Scholastik geworden, welche durch die unbedingte Verehrung des Aristoteles und durch die Befestigung jener Grundbegriffe, die wir im folgenden Kapitel näher betrachten werden, eine materialistische Betrachtung der Dinge so lange unmöglich gemacht hat.

Neben der Philosophie aber verdanken wir der arabischen Kultur des Mittelalters noch ein anderes Element, welches zur Geschichte des Materialismus vielleicht in noch engeren Beziehungen steht. Es sind dies ihre Errungenschaften auf dem Gebiete der positiven Forschung, der Mathematik und der Naturwissenschaften im weitesten Sinne des Wortes. Die glänzenden Leistungen der Araber auf dem Gebiete der Astronomie und der Mathematik sind bekannt genug.94 Diese Studien aber waren es vorzüglich, die, an die Überlieferungen der Griechen anknüpfend, der Idee von der Gesetzmäßigkeit und Regelmäßigkeit des Weltganges wieder Raum schafften. Dies geschah zu einer Zeit, wo der entartete Glaube in der christlichen Welt die sittliche und logische Ordnung der Dinge schlimmer verwirrt hatte, als dies in irgendeiner Periode des griechisch-römischen Heidentums der Fall war; zu einer Zeit, in der alles als möglich, nichts als notwendig betrachtet und der Willkür von Wesen, denen man immer neue Eigenschaften andichtete, ein unbegrenzter Spielraum zugewiesen wurde.

Die Verbindung der Astronomie mit den Phantasien der Sterndeuterei war ebendeshalb keineswegs so nachteilig, als man denken sollte. Die Astrologie sowohl wie die wesensverwandte Alchimie besaßen durchaus die geregelte Form von Wissenschaften95 und waren in der reineren Weise, in welcher die Araber und die christlichen Gelehrten des Mittelalters diese Künste betrieben, weit entfernt von dem maßlosen Schwindel, der im 16. und besonders im 17. Jahrhundert sich einstellte, nachdem die strengere Wissenschaft diese abergläubischen Elemente von sich ausgestoßen hatte Abgesehen davon, daß der Trieb nach Erforschung unergründlicher und wichtiger Geheimnisse durch jene frühere Verbindung den wissenschaftlichen Entdeckungen in der Astronomie und Chemie zu Hilfe kam, so war auch ganz an sich schon in jenen tiefen[162] und geheimnisvollen Studien der Glaube an einen geregelten und ewigen Gesetzen folgenden Gang aller Ereignisse die notwendige Voraussetzung. Dieser Glaube aber gehörte zu den mächtigsten Triebfedern in der ganzen Fortbildung der Kultur vom Mittelalter zur Neuzeit.

Vorzüglich müssen wir hier auch der Medizin gedenken, die ja heutzutage gewissermaßen die Theologie der Materialisten geworden ist. Diese Wissenschaft wurde von den Arabern mit besonderem Eifer ergriffen.96 Auch hier vorzüglich an die Überlieferungen der Griechen anknüpfend, wandten sie sich doch mit selbständigem Sinn der exakten Beobachtung zu und förderten namentlich die Lehre vom Leben, die zu den Fragen des Materialismus in so enger Beziehung steht. Beim Menschen, wie im Tier- und Pflanzenreich, allenthalben in der organischen Natur verfolgte der feine Sinn der Araber nicht nur die Einzelheiten der gegebenen Gebilde, sondern die Entwicklung, das Werden und Vergehen, also gerade jene Gebiete, in denen die mystische Auffassung des Lebens ihren Stammsitz hat.

Bekannt ist die frühe Entstehung medizinischer Schulen auf jenem Boden Unteritaliens, wo Sarazenen und gebildetere Christenstämme sich so nahe berührten. Schon im 11. Jahrhundert lehrte im Kloster von Monte Cassino der Mönch Konstantin, jener Mann, den die Zeitgenossen den zweiten Hippokrates nannten, und der, nachdem er den ganzen Orient durchwandert hatte, seine Muße der Übersetzung medizinischer Werke aus dem Arabischen widmete. Zu Monte Cassino und später zu Salerno und Neapel entstanden dann jene berühmten Schulen der Medizin, zu denen aus dem ganzen Abendlande Wißbegierige zusammenströmten.97 Beachten wir wohl, daß es derselbe Boden ist, auf dem am frühesten in Europa die Freigeisterei entstand, die mit dem ausgebildeten Materialismus zwar nicht zu verwechseln, die aber jedenfalls sehr nahe mit ihm verwandt ist. Jene Landstriche Unteritaliens und besonders Siziliens, in denen heutzutage blinder Aberglaube und toller Fanatismus in höchster Blüte stehen, waren damals die Heimstätten aufgeklärter Geister und die Wiege des Gedankens der Toleranz.

Ob Kaiser Friedrich II., der hochgebildete Freund der Sarazenen, der naturkundige Förderer der positiven Wissenschaften, jene berüchtigte Äußerung von den drei Betrügern, Moses, Mohammed und Christus,98 wirklich getan oder nicht: jedenfalls brachte diese[163] Zeit und diese Gegend solche Anschauungen hervor. Nicht umsonst zählte Dante die kühnen Zweifler, die in feurigen Gräbern ruhend noch immer die Hölle verachten, nach Tausenden. Bei jener nahen Berührung der verschiedenen monotheistischen Religionen – denn auch die Juden waren dort zahlreich vertreten und standen an Bildung kaum hinter den Arabern zurück – mußte sich notwendig, sobald einmal ein geistiger Verkehr eintrat, die Hochachtung des Spezifischen abstumpfen; und im Spezifischen liegt die Kraft der Religion, wie im Individuellen die Kraft der Dichtung. Was man Friedrich II. zutraute, zeigt die Beschuldigung, daß er sich sogar mit den Assassinen eingelassen, jenem mordenden Jesuitenorden des Mohammedanismus, der eine Geheimlehre gehabt haben soll, welche in den höchsten Graden den vollen Atheismus mit allen Konsequenzen eines genuß- und herrschsüchtigen Egoismus offen und rückhaltlos aussprach. Wäre dasjenige wahr, was von der Lehre der Assassinen überliefert wird, so müßten wir dieser Sekte eine größere Ehre antun, als die der beiläufigen Erwähnung. Es würden dann die Assassinen der höchsten Grade das Urbild eines Materialisten abgeben, wie unwissende und fanatische Polemiker unserer Tage ihn sich vorstellen, um ihn vorteilhaft bekämpfen zu können. Das Assassinentum würde das einzige Beispiel der Geschichte sein von einer Verbindung der materialistischen Philosophie mit Grausamkeit, Herrschsucht und systematischen Verbrechen.

Vergessen wir aber nicht, daß alle Nachrichten über diese Sekte von ihren erbittertsten Feinden herrühren. Es hat die höchste innere Unwahrscheinlichkeit, daß gerade aus der harmlosesten aller Weltanschauungen jene furchtbare, die äußerste Anpassung aller Seelenkräfte erfordernde Energie hervorgegangen sei, die wir sonst nur im Bunde mit religiösen Grundgedanken erblicken. Diese sind auch in ihrer furchtbaren Erhabenheit und ihrem hinreißenden Zauber das einzige Element in der Weltgeschichte, dem wir selbst die äußersten Greuel des Fanatismus vom höchsten Standpunkte der Betrachtung aus noch verzeihen können: und dies ist tief in der menschlichen Natur begründet. Wir würden es nicht wagen, unsere Vermutung, daß auch in den höchsten Graden der Assassinen noch religiöse Grundgedanken mitwirkten, der Überlieferung gegenüber auf bloß innere Gründe zu basieren, wenn nicht die Quellen unserer Nachrichten von den Assassinen solchen Bedenken Raum gäben.99 Daß ein hoher Grad von Freigeisterei sich mit fanatischer[164] Erfassung eines religiösen Grundgedankens verbinden kann, zeigen uns auch die Jesuiten, mit deren ganzem Wesen überhaupt das der Assassinen eine auffallende Ähnlichkeit hat.

Kehren wir zu den Naturwissenschaften der Araber zurück, so können wir schließlich nicht umhin, noch den kühnen Ausspruch Humboldts anzuführen, daß die Araber als die eigentlichen Gründer der physischen Wissenschaften zu betrachten sind, »in der Bedeutung des Wortes, welche wir ihm jetzt zu geben gewohnt«. Das Experiment und das Messen sind die großen Werkzeuge, durch welche sie ihren Fortschritten Bahn brachen und sich zu einer Stufe erhoben, die zwischen den Leistungen der kurzen induktiven Epoche Griechenlands und denen der neueren Naturwissenschaften in die Mitte zu stellen ist.

Daß es gerade der Mohammedanismus ist, in dem sich jene Forderung der Naturstudien, die wir dem monotheistischen Prinzip zuschreiben, am schärfsten zeigt, hängt zusammen mit der Begabung der Araber, mit der geschichtlichen und räumlichen Stellung derselben zu den hellenischen Überlieferungen, aber ohne Zweifel auch mit dem Umstande, daß der Monotheismus Mohammeds der schroffste war und sich vergleichsweise von mythischen Zutaten am freiesten hielt. Heben wir schließlich unter den neuen Bildungselementen, die in ihrem Verfolg auf eine materialistische Anschauung der Natur einwirken konnten, noch eines hervor, das Humboldt im zweiten Bande seines Kosmos ausführlich behandelt: es ist die Entwicklung der ästhetischen Naturbetrachtung unter dem Einflusse des Monotheismus und der semitischen Kultur. Das Altertum hatte die Personifikation aufs strengste durchgeführt und war darüber nur selten dazu gekommen, die Natur als Natur anzuschauen oder gar darzustellen. Ein schilfbekränzter Mann war der Ozean, eine Nymphe der Quell, ein Faun oder Pan die Flur und der Hain. Mit der Entgötterung der Gefilde begann die wahre Naturbetrachtung und die Freude an der reinen Größe und Schönheit der Naturerscheinungen.

»Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der Naturpoesie der Hebräer,« sagt Humboldt, »daß, als Reflex des Monotheismus, sie stets das Ganze des Weltalls in seiner Einheit umfaßt, sowohl das Erdenleben, als die leuchtenden Himmelsräume. Sie weilt seltener bei dem einzigen der Erscheinung, sondern erfreut sich der Anschauung großer Massen. Man möchte sagen, daß in dem einzigen 104. Psalm das Bild des ganzen Kosmos dargelegt ist: der Herr, mit[165] Licht umhüllt, hat den Himmel wie einen Teppich ausgespannt. Er hat den Erdball auf sich selbst gegründet, daß er in Ewigkeit nicht wanke. Die Gewässer quellen von den Bergen herab in die Täler, zu den Orten, die ihnen beschieden: daß sie nie überschreiten die ihnen gesetzten Grenzen, aber tränken alles Wild des Feldes. Der Lüfte Vögel singen unter dem Laube hervor. Saftvoll stehen des Ewigen Bäume, Libanons Zedern, die der Herr selbst gepflanzt, daß sich das Federwild dort niste, und auf Tannen sein Gehäus der Habicht baue.«

Aus den Zeiten des christlichen Anachoretenlebens stammt ein Brief Basilius des Großen, der nach Humboldts Übersetzung eine prächtige und gefühlvolle Beschreibung der einsamen Waldgegend gibt, in der die Hütte des Einsiedlers stand.

So rinnen von allen Seiten die Quellen zusammen zu dem mächtigen Strome des modernen Geisteslebens, in dem wir unter mancherlei Modifikationen den Gegenstand unserer Forschung, den Materialismus wieder aufzusuchen haben.[166]

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Einen sehr wertvollen Einblick in die Physiologie der Nationen hat uns neuerdings die Betrachtung der Geschichte unter Gesichtspunkten der Naturwissenschaften und der Volkswirtschaft gegeben, und dieses Licht zündet allerdings bis in die ärmsten Hütten hinein, allein es zeigt uns doch nur eine Seite der Sache, und die Veränderungen im geistigen Zustande der Völker bleiben noch immer in Dunkel gehüllt, soweit sie sich nicht aus den sozialen Veränderungen erklären lassen. Die Liebigsche Theorie von der Bodenerschöpfung ist zwar von Carey (Grundl. der Sozialwissenschaft I, Kap. 3 und 9, III, Kap. 46 u. öfter) zu übertriebenen Folgerungen mißbraucht und mit ganz absurden Lehren (vgl. hierüber meine Abhandl. Mills Ansichten über die soziale Frage u. d. angebl. Umwälzung der Sozialwissenschaft durch Carey, Duisb. 1866) verschmolzen worden, allein die Richtigkeit dieser Theorie in ihren großen Grundzügen und ihre Anwendbarkeit auf die Kultur der Alten Welt unterliegt keinem Zweifel. Die Getreide exportierenden Provinzen mußten allmählich verarmen und der Entvölkerung verfallen, während um Rom und in ähnlicher Weise um untergeordnete Zentralpunkte der Reichtum und die Volksmenge zur intensivsten Form der Landwirtschaft führten, wobei stark gedüngte und sorgfältig bearbeitete kleine Gärten an Obst, Blumen usw. einen höheren Ertrag lieferten, als in den entfernten Gegenden ausgedehnte Landstrecken. (Vgl. Roscher, Nationalökonomik des Ackerbaues, § 46, wo u. a. mitgeteilt wird, daß einzelne Obstbäume in der Nähe von Rom bis 100 Tlr. jährlich eintrugen, während das Getreide in Italien meist nur das 4. Korn lieferte, weil hier nur noch schlechter Boden zum Getreidebau verwandt wurde.) Nun ist aber nicht nur die konzentrierte Ökonomie des reichen Verkehrsmittelpunktes empfindlicher gegen Stöße von außen, als die Ökonomie eines Landes von mittleren Verhältnissen, sondern sie ist auch abhängig von der Produktivität der Peripherie, welche die unentbehrlichen Nahrungsmittel liefert. Die Verwüstung eines fruchtbaren Landes durch Krieg, selbst mit Dezimierung der Bevölkerung verbunden, wird schnell von der Arbeit der Natur und des Menschen ausgeglichen, während ein Stoß auf die Hauptstadt, zumal wenn die Hilfsquellen der Provinzen schon im Schwinden sind, leicht eine totale Zerrüttung hervorruft, weil sie das ganze System des Wertaustausches in seinem Mittelpunkt hemmt und damit die überspannten Werte, welche der Luxus konsumierte und schuf, plötzlich in Nichts zerfallen läßt. Aber auch ohne solche Stöße von außen mußte der Verfall mit beständiger Beschleunigung eintreten, sobald die Verarmung und Entvölkerung der Provinzen so weit gediehen war, daß auch mit gesteigertem Druck der Ertrag derselben nicht mehr auf seiner Höhe gehalten werden konnte. Das ganze Bild dieses Prozesses würde, was das römische Reich betrifft, wohl ungleich klarer vor uns liegen, wenn nicht die Vorteile einer großartigen und streng geordneten Zentralisation unter den großen Kaisern des 2. Jahrhunderts dem Übel die Waage gehalten und sogar eine neue materielle Blüte an der Grenze des allgemeinen Verfalls hervorgerufen hätten. Auf dieser letzten Blüte der alten Kultur, deren Segnungen freilich zumeist den Städten und einzelnen bevorzugten Landstrichen anheimfielen, beruht hauptsächlich die günstige Schilderung, welche Gibbon im 1. Kap. der »hist. of the decline and fall of the Roman empire« vom Zustande des Kaiserreiches entwirft. Es ist aber klar, daß das ökonomische Übel, welchem das Reich schließlich erliegen mußte, damals schon in hohem Grade ausgebildet war. Eine auf Akkumulation und Konzentration der Reichtümer beruhende »Blütezeit« kann ihren Höhepunkt sehr wohl erreichen, wenn die Mittel der Akkumulation schon zu schwinden beginnen, wie die größte Hitze des Tages sich einstellt, wenn die Sonne schon im Sinken ist.

Weit früher muß der moralische Verfall bei jenem großen Zentralisationsprozeß zum Vorschein kommen, weil die Unterlochung und Verschmelzung zahlreicher und von Grund aus verschiedenartiger Völker und Stämme mit den spezifischen Formen der Moral auch die sittlichen Grundsätze selbst in Verwirrung bringt. Sehr richtig zeigt Hartpole Lecky (Sittengesch. Europas von Augustus bis auf Karl den Großen, übersetzt von Jolowicz, Leipzig und Heidelberg 1870. I, S. 233 u. f.), wie römische Tugend, eng verschmolzen mit dem altrömischen Lokalpatriotismus und der heimischen Religion, durch den Untergang der alten politischen Formen, den Skeptizismus und die Einführung fremder Kulte zugrunde gehen mußte. Daß aber die fortschreitende Zivilisation nicht an die Stelle der alten Tugenden neue und bessere setzte (»edlere Sitten und erweitertes Wohlwollen«) wird auf drei Ursachen geschoben: das Kaisertum, die Sklaverei und die Gladiatorenspiele. Sollte darin nicht eine Verwechslung von Ursache und Wirkung liegen? Vgl. den gerade bei Lecky kurz vorher so gut dargestellten Kontrast zwischen den edlen Absichten des Kaisers Marcus Aurelius und dem Charakter der ihm untergebenen Volksmassen. Der einzelne kann sich mit Hilfe der Philosophie zu ethischen Grundsätzen erheben, welche von Religion und Politik unabhängig sind, die Volksmassen hatten (im Altertum noch mehr als heutzutage) das Sittliche nur in der lokal überlieferten und gewordenen unauflöslichen Verbindung des Allgemeinen und Besondern, des bleibend Gültigen und des Wandelbaren, und daher mußte die große Zentralisation des Weltreiches auf diesem Gebiete allenthalben, bei Siegern und Besiegten, zunächst auflösend und zerstörend wirken. Wo ist aber der »normale Gesellschaftszustand« (Lecky, a. a. O. S. 234), der es vermag, die Tugenden der untergehenden Gesellschaftsform ohne weiteres mit neuen zu ersetzen? Dazu gehört vor allen Dingen Zeit und in der Regel auch das Aufkommen eines neuen populären Typus für die Verschmelzung sittlicher Grundsätze mit sinnlichen Elementen und phantastischen Zutaten. Sonach erscheint derselbe Prozeß der Akkumulation und Konzentration, welcher die antike Kultur auf ihre Höhe brachte, auch als die Ursache ihres Verfalls. Ja sogar der eigentümlich schwärmerische Zug des Gärungsprozesses, aus welchem schließlich das mittelalterliche Christentum hervorging, scheint hier eine Erklärung zu finden, denn er deutet entschieden auf ein durch Extreme von Luxus und Entbehrung, Wollust und Leiden überreiztes Nervensystem in den weitesten Schichten der Bevölkerung, und dieser Zustand ist wieder lediglich eine Folge der Akkumulation, wobei allerdings die Sklaverei den Folgen derselben eine besonders widerwärtige Färbung gibt. – Tatsächliches über die Akkumulation im alten Rom s. bei Roscher, Grundl. der National-Ökon. § 204 u. insbes. Anm. 10; über den sinnlosen Luxus bei verfallenen Nationen ebendas. § 233 u. f., sowie die Abhandlung über den Luxus in Roschers »Ansichten der Volkswirtschaft aus geschichtl. Standpunkt«. – Den Einfluß der Sklaverei hat besonders hervorgehoben Contzen, die soziale Frage, ihre Geschichte, Literatur u. Bedeut. in d. Gegenw., 2. Aufl. Leipzig 1872. – Vgl. hierüber auch die folgende Anmerkung.

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Gibbon, hist. of the decl. cap. 2 schildert, wie die Sklaven, seit die Eroberungen verhältnismäßig geringer wurden, im Preise stiegen und infolgedessen eine bessere Behandlung erhielten. Je mehr die Zufuhr von Kriegsgefangenen aufhörte, die in den Zeiten der Eroberungskriege oft zu Tausenden billig verkauft wurden, desto mehr sah man sich genötigt, sie im Inlande zu ziehen und Ehen unter ihnen zu fördern. Dadurch wurde die ganze Masse, die früher auf jedem Gute oft mit raffinierter Berechnung (s. die Briefe Catos bei Contzen, a. a. O. S. 174) möglichst aus allen Nationen gemischt wurde, gleichmäßiger. Dazu kam die ungeheure Anhäufung von Sklaven auf den großen Gütern und in den Palästen der Reichen; ferner auch die große Rolle, welche die Freigelassenen im sozialen Leben der Kaiserzeit spielten. – Lecky, a. a. O. S. 272 unterscheidet mit Recht drei Perioden in der Stellung der Sklaven; die älteste, in welcher sie in der Familie gehalten und verhältnismäßig gut behandelt wurden, die zweite, in welcher sich die Zahl der Sklaven gewaltig vermehrte, die Behandlung verschlimmerte, und endlich die dritte, welche mit dem von Gibbon bezeichneten Wendepunkte beginnt. Lecky hebt insbesondere auch den Einfluß der stoischen Philosophie auf mildere Behandlung der Sklaven hervor. – Die Sklaverei reagierte in dieser dritten Periode auf das Kulturleben der Alten Welt nicht mehr durch den Schrecken großer Sklavenkriege, wohl aber durch den Einfluß, welchen der unterdrückte Stand mehr und mehr auf die ganze Denkweise der Bevölkerung ausübte. Dieser, den antiken Idealen diametral entgegengesetzte Einfluß machte sich mit der Ausbreitung des Christentums geltend. Vgl. hierüber Hartpole Lecky, Sittengesch. II. S. 52 u. f.

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Mommsen, röm. Gesch. III, Kap. 12 bemerkt; »Unglaube und Aberglaube, verschiedene Farbenbrechungen desselben geschichtlichen Phänomens, gingen auch in der damaligen römischen Welt Hand in Hand, und es fehlt nicht an Individuen, welche sie beide in sich vereinigten, mit Epikur die Götter leugneten, und doch vor jeder Kapelle beteten und opferten.« Ebendas. einige Angaben über das Eindringen der orientalischen Kulte in Rom. Als der Senat (im J. 50 v. Chr.) die innerhalb der Ringmauer angelegten Isistempel niederzureißen befahl, wagte kein Arbeiter, die erste Hand daran zu legen, und der Konsul Lucius Paulus mußte selber den ersten Axtschlag tun; man konnte darauf wetten, daß, »je lockerer ein Dirnchen war, es desto frömmer die Isis verehrte.« – Vgl. ferner Lecky, Sitteng. I. S. 337.

80

Es ist daher unbillig und ungenau zugleich, wenn Draper in seiner in mancher Beziehung verdienstvollen »Gesch. der geistigen Entwicklung Europas« (übers. v. Bartels, 2. Aufl. Leipzig 1871) den Epikureismus mit der heuchlerischen Irreligiosität des Weltmannes identifiziert, welcher die Menschheit »mehr als die Hälfte ihrer Korruption« zu verdanken habe (S. 128 der Übersetzung). So unabhängig sich Draper in seinem Endurteil und seiner gesamten Auffassungsweise zeigt, so tritt doch offenbar in der Darstellung Epikurs, und vielleicht noch mehr in der Art, wie er Aristoteles zu einem Erfahrungsphilosophen macht, der Einfluß mißverstandener Tradition hervor.

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Zeller, Phil. d. Griechen III, 1, S. 289: »Der Stoizismus ist mit einem Wort nicht bloß ein philosophisches, sondern zugleich ein religiöses System; er ist als solches... bereits von seinen ersten Vertretern aufgefaßt worden, und hat in der Folge gemeinschaftlich mit dem Platonismus den Besten der Gebildetsten, so weit der Einfluß griechischer Kultur reichte, beim Verfall der alten Nationalreligionen einen Ersatz, ihrem Glaubensbedürfnis eine Befriedigung, ihrem sittlichen Leben eine Stütze geboten.« Lecky, Sitteng. I, S. 279 sagt von den römischen Stoikern der beiden ersten Jahrhunderte: »Bei Todesfällen von Familienmitgliedern, wo das Gemüt für Eindrücke am empfindlichsten ist, wurden sie gewöhnlich herbeigerufen, um die Überlebenden zu trösten. Sterbende baten in den letzten Lebensstunden um ihren Trost und ihre Unterstützung. Sie wurden die Führer des Gewissens sehr vieler, die wegen Lösung verwickelter Fälle der praktischen Moral, oder unter dem Einflusse der Verzweiflung oder der Gewissensbisse an sie sich wendeten.« Über das Erlöschen des stoischen Einflusses und seine Verdrängung durch die neuplatonische Mystik vgl. Lecky, a. a. O. S. 287. – Zeller III, 2, S. 381 bemerkt: »Der Neuplatonismus ist ein religiöses System, und er ist dies nicht bloß in dem Sinn, in welchem auch der Platonismus und Stoizismus so genannt werden können: er begnügt sich nicht damit, eine an die Gottesidee geknüpfte, aber auf wissenschaftlichem Wege gewonnene Weltanschauung auf die sittlichen Aufgaben und das Gemütsleben des Menschen zu beziehen, sondern seine wissenschaftliche Weltansicht selbst spiegelt von Anfang bis zu Ende den religiösen Gemütszustand des Menschen in sich ab, sie ist durchaus von dem Interesse beherrscht, seinem religiösen Bedürfnis entgegenzukommen, ihn zur innigsten persönlichen Vereinigung mit der Gottheit zu führen.«

82

Eine Schilderung dieses Extremes, wie es sich namentlich seit dem 3. Jahrhundert geltend machte, s. bei Lecky, Sittengesch. II, S. 85 u. ff.

83

Über die Ausbreitung des Christentums vgl. das berühmte 15. Kapitel bei Gibbon, das reich ist an Material zur Beurteilung dieses Vorganges von den verschiedensten Gesichtspunkten. Richtigere Anschauungen vertritt jedoch Hartpole Lecky in seiner Sittengeschichte Europas und in der Geschichte der Aufklärung in Europa. – Als Hauptwerk von theologischer Seite ist zu nennen: Baur, das Christentum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte. Von geschichtsphilosophischem Standpunkte: E. v. Lasaulx, der Untergang des Hellenismus und die Einziehung seiner Tempelgüter durch die christl. Kaiser. München 1854. – Weitere Literatur s. bei Ueberweg, in der Gesch. d. Phil. der patristischen Zeit, einem Abschnitte des Grundrisses, der leider nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden hat (vgl. m. Biographie Ueberwegs, Berlin 1871, S. 21 u. 22). – Über die Wundersucht jener Zeiten vgl. insbesondere Lecky, Sittengesch. I, S. 322 u. ff. – Ebendas. S. 325 über wundertätige Philosophen, S. 326: »Auf der Woge der Leichtgläubigkeit, welche diesen langen Zug morgenländischen Aberglaubens und morgenländischer Sagen mit sich führte, schwamm das Christentum in das römische Kaiserreich, und Freund und Feind nahm seine Wunder als die gewöhnlichen Gefährten einer Religionslehre auf.«

84

Wie sehr der Einfluß der christlichen Armenpflege empfunden wurde, zeigt die merkwürdige Tatsache, daß Julian, »der Abtrünnige«, bei seinem Versuche, das Christentum durch eine philosophisch-hellenische Staatsreligion zu verdrängen, in diesem Punkte den Vorzug des Christentums vor der alten Religion offen anerkannte. Er befahl deshalb, um hierin mit den Christen zu wetteifern, in jeder Stadt Xenodochien anzulegen, in welchen Fremdlinge ohne Unterschied des Glaubens Aufnahme finden sollten. Zum Unterhalt derselben und zur Verteilung an die Armen wies er bedeutende Mittel an. »Denn schimpflich ist es,« schrieb er an Arsacius, den Erzpriester von Galatien, »wenn von den Juden keiner bettelt, die götterfeindlichen Galiläer aber nicht nur die übrigen ernähren, sondern auch die Unsrigen, die wir hilflos lassen.« Lasaulx, Untergang des Hellenismus, S. 68.

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Vgl. Tacitus Annalen 15, Kap. 44, wo es von Nero heißt, er habe die Schuld für den Brand Roms auf die Christen geschoben. Er »belegte diejenigen mit den ausgesuchtesten Strafen, welche, wegen ihrer Abscheulichkeit verhaßt, vom Volke Christianer genannt wurden. Dieses Namens Urheber Christus, war unter des Tiberius Herrschaft vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden. Die unselige Schwärmerei, für den Augenblick unterdrückt, brach neuerdings aus, nicht nur in Judäa, dem Mutterlande dieses Unwesens, sondern auch in Rom, wo überallher alles Scheußliche und Schandbare zusammenströmt und Anhang gewinnt. Also wurden zuerst solche ergriffen, die sich dazu bekannten, dann auf deren Angabe eine große Menge, die nicht sowohl der Brandstiftung, als vielmehr des Hasses gegen die Menschheit überwiesen waren.« Das Zusammenhalten unter sich, verbunden mit Haß gegen alle anderen wurde auch den Juden sehr zum Vorwurf gemacht. Lasaulx, Untergang des Hellenismus, S. 7 u. ff., zeigt die innere Notwendigkeit dieser römischen Auffassung unter Anführung ähnlicher Urteile von Suetonius und dem jüngeren Plinius. Ebendas. sehr richtige Hinweise auf die den Römern und Griechen fremde Intoleranz der monotheistischen Religionen, von denen namentlich das Christentum von Anfang an offensiv auftrat. – Gibbon zählt unter die wichtigsten Ursachen der schnellen Ausbreitung des Christentums den intoleranten Glaubenseifer und die Erwartung einer anderen Welt. – Über die Bedrohung des gesamten Menschengeschlechtes mit ewigen Höllenqualen und die Wirkung dieser Drohung auf die Römer vgl. Lecky, Sittengeschichte I, S. 366 u. ff.

86

Schlossers Weltgesch. f. d. deutsche Volk, bearb. von Kriegk IV, S. 426 (Gesch. der Römer, XIV, 7).

87

Für die neuere Zeit darf hier besonders an den Wendepunkt erinnert werden, der mit der Popularisierung des Newtonschen Weltsystems durch Voltaire eintrat.

88

Interessant ist, wie in der Mohammedanischen Orthodoxie die Atome zu Hilfe genommen werden, um die transzendente Schöpfung durch einen außerweltlichen Gott dem Verständnis näher zu führen. Vgl. Renan, Averroès et l'Averroisme, Paris 1852, p. 80.

89

Zwar waren auch die schwärmerischen Neuplatoniker, wie Plotin und Porphyrius, entschiedene Gegner des Christentums (Porphyrius schrieb 15 Bücher gegen die Christen), allein innerlich standen sie der christlichen Lehre am nächsten, wie sie denn auch ohne Zweifel auf die weitere Entwicklung der christlichen Philosophie Einfluß gewonnen haben. Innerlich ferner standen schon Galenus und Celsus (wiewohl auch dieser nicht, wie man früher glaubte, Epikureer, sondern Platoniker ist; s. Ueberwegs Grundr. § 65); am fernsten die Skeptiker aus der Schule des Aenesidemus und die »empirischen Ärzte« (Zeller III, 2. 2. Aufl, S. I u. ff.), besonders Sextus Empiricus.

90

Schon sehr alt ist daher auch die Verallgemeinerung der Begriffe »Epikureer« und »Epikureismus« im Sinne des Gegensatzes schlechthin gegen die transzendente Gotteslehre und die asketische Dogmatik. Während die epikureische Schule (s. oben, S. 78 ff.) unter allen Philosophenschulen des Altertums das bestimmteste Gepräge und den geschlossensten Zusammenhang aller Lehren bewahrte, bezeichnet schon der Talmud Sadduzäer und Freidenker überhaupt als Epikureer. Im 12. Jahrhundert erscheint in Florenz eine Partei von »Epikureern«, welche schwerlich im Sinne des strengen Schulbegriffs zu fassen ist; ebensowenig wie die Epikureer, welche Dante in feurigen Gräbern ruhen läßt (vgl. Renan, Averroès, p. 123 und 227). Eine ähnliche Verallgemeinerung hat übrigens auch der Name der »Stoiker« erfahren.

91

Renan, Averroès, p. 76 ff. zeigt, wie die möglichst abstrakte Fassung des Gottesbegriffs wesentlich gefördert wurde durch die Bestreitung der christlichen Lehren von der Dreieinigkeit und der Menschwerdung Gottes. Die vermittelnde Schule der »Motazeliten« vergleicht Renan mit der Schule Schleiermachers.

92

Zu der ersteren dieser Ansichten bekannte sich Avicenna, während die zweite, nach einer von Averroès angeführten Meinung, seine wahre Ansicht gewesen sein soll. Averroès selbst läßt alle Veränderung und Bewegung in der Welt und insbesondere das Werden und Vergehen der Organismen »der Möglichkeit nach« schon in der Materie liegen und Gott hat nichts zu tun, als die Möglichkeit in Wirklichkeit überzuführen. Sobald man sich aber auf den Standpunkt der Ewigkeit stellt, schwindet der Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, da in ewiger Folge alles Mögliche auch in Wirklichkeit übergeht. Damit schwindet aber im Grunde für den höchsten Standpunkt der Betrachtung auch der Gegensatz von Gott und Welt. Vgl. Renan, Averroès, p. 73 u. p. 82 u. ff.

93

Diese Ansicht, welche in der aristotelischen Lehre vom nous poiêtikos (de anima III, 5) ihre Stütze findet, hat man als »Monopsychismus« bezeichnet, d. h. als die Lehre, daß die unsterbliche Seele (im Unterschied von der vergänglichen tierischen Seele) in allen derselben teilhaftigen Wesen ein und dieselbe sei.

94

Vgl. Humboldts Kosmos II, S. 258 u. ff. – Draper, Gesch. d. geist. Entwickl. Europas (übers. v. Bartels, 2. Aufl. Leipzig 1871), S. 361 u. ff. Der Verf., der auf naturwissenschaftlichem Gebiete am besten bewandert ist (vgl. oben Anm. 4), beklagt (S. 363) »die systematische Art, wie die Literatur Europas es zustande gebracht hat, unsere wissenschaftlichen Verpflichtungen gegen die Mohammedaner aus den Augen zu rücken.«

95

Vgl. Liebig, chemische Briefe, 3. u. 4. Brief. Der Ausspruch: »Die Alchimie ist niemals etwas anderes als die Chemie gewesen« geht wohl etwas zu weit. Was die Verwahrung gegen die Verwechslung derselben mit der Goldmacherkunst des 16. und 17. Jahrhunderts betrifft, so darf doch nicht übersehen werden, daß diese nur verwilderte Alchimie ist wie der Nativitätenschwindel des gleichen Zeitalters verwilderte Astrologie. Der große Unterschied zwischen dem Geiste der modernen Chemie und der mittelalterlichen Alchimie läßt sich am klarsten an dem Verhältnisse zwischen Experiment und Theorie nachweisen. Für den Alchimisten stand die Theorie in ihren Grundzügen unerschütterlich fest; sie war dem Experiment übergeordnet, und wenn dasselbe ein unerwartetes Resultat ergab, so wurde dieses der Theorie, die einen aprioristischen Ursprung hatte, künstlich angepaßt. Sie war daher wesentlich auf die Hervorbringung des im voraus vermuteten Resultates gerichtet, weniger auf freie Forschung. Allerdings ist diese Richtung des Experiments auch in der heutigen Chemie noch wirksam genug, und die Autorität der allgemeinen Theorien ist, wenn auch nicht gerade in der jetzigen, so doch in einer nicht weit hinter uns liegenden Periode eine sehr bedeutende gewesen, immerhin ist das Prinzip der modernen Chemie das empirische; das der Alchimie war trotz ihrer empirischen Resultate das aristotelisch-scholastische. Die wissenschaftliche Form der Alchimie wie der Astrologie beruht auf der konsequenten Durchführung gewisser einfacher, aber in ihren Kombinationen der größten Mannigfaltigkeit fähiger Fundamentalsätze über die Natur aller Körper und ihre gegenseitigen Beziehungen. Über die Förderung des wissenschaftlichen Geistes durch die Astrologie in ihrer reineren Form vgl. noch Hartpole Lecky, Geschichte der Aufklärung in Europa, übersetzt von Jolowicz, S. 215 u. f., wo auch in Anmerkung I zu S. 216 mehrere Beispiele kühner Ideen astrologischer Freidenker. – Vgl. auch Humboldts Kosmos II, S: 256 u. ff.

96

Draper, Gesch. d. geist. Entwickl. Europas, übers. von Bartels, 2. Aufl. S.306 u. ff. – Weniger günstig beurteilen die Medizin der Araber Häser, Gesch. d. Med. (2. Aufl. Jena 1853) § 173 u. ff. und Daremberg, hist. des sciences medicales, Paris 1870; ihre große Tätigkeit auf diesem Gebiete geht jedoch auch aus diesen Darstellungen hervor.

97

Vgl. Wachler, Handb. d. Gesch. d. Liter. II, 87. – Meiners, hist. Vergleich der Sitten usw. des Mittelalters mit d. unsr. Jahrh., II, S. 413 u. ff. Daremberg, hist. des sciences med. I, p. 259 u. ff. zeigt, daß die medizinische Bedeutung von Salerno älter ist, als der Einfluß der Araber und daß hier wahrscheinlich Traditionen aus dem Altertum fortlebten. Die Schule gewann jedoch durch Kaiser Friedrich II. einen bedeutenden Aufschwung.

98

Die Behauptung, Averroès oder Kaiser Friedrich II. oder irgendein andrer verwegener Freigeist habe Mohammed, Christus und Moses die »drei Betrüger« genannt, erscheint im Mittelalter in der Regel als falsche Denunziation und als ein Mittel, Personen von freier Richtung verhaßt und verdächtig zu machen. Später machte man ein Buch über die drei Betrüger zum Gegenstande dieser Fabel und eine große Reihe freisinniger Männer (s. das Verzeichnis derselben bei Genthe, de impostura religionum, Leipz. 1833, S. 10 u. f., sowie bei Renan, Averroès, p. 235) wurden beschuldigt, ein Buch verfaßt zu haben, das gar nicht existierte, bis endlich der Eifer, mit welchem die Frage der Existenz desselben erörtert wurde, die literarische Industrie veranlaßte, solche Schriften, die dann schwach genug ausfielen, nachträglich zu fabrizieren. Näheres s. bei Genthe, a. a. O.

99

Hammer, in seiner auf den orientalischen Quellen beruhenden Geschichte der Assassinen (Stuttg. u. Tüb. 1818), huldigt ganz der Auffassung, welche die Assassinen in Betrüger und Betrogene teilt und in den höchsten Graden nichts als kalte Berechnung, absoluten Unglauben und ruchlosen Egoismus erblickt. Allerdings geben die Quellen hierzu Anlaß genug; dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß dies die gewöhnliche Art ist, wie eine siegreiche Orthodoxie mit überwundenen Sekten umgeht. Es steht damit, abgesehen von den häufigen Fällen böswilliger Erdichtung, gerade wie mit der Beurteilung sogenannter »Heuchler« im individuellen Leben. Auffallende Frömmigkeit ist dem Volke entweder echte Heiligkeit oder ein schnöder Deckmantel alles Schlechten, für die psychologische Feinheit der Vermischung echt religiöser Empfindungen mit grobem Egoismus und lasterhaften Trieben hat die gewöhnliche Auffassung solcher Erscheinungen wenig Verständnis. Hammer legt seine eigene Anschauung vom psychologischen Grunde des Assassinentums in folgenden Worten (S. 20) nieder: »Unter allen Leidenschaften, welche je Zungen, Federn und Schwerter in Bewegung gesetzt, den Thron umgestürzt und den Altar erschüttert haben, ist Herrschsucht die erste und die mächtigste. Verbrechen sind ihr willkommen als Mittel, Tugenden als Larve. Nichts ist ihr heilig, und dennoch flüchtet sie sich am liebsten, weil am sichersten, zu dem Heiligsten der Menschheit, zur Religion. Daher die Geschichte der Religionen nirgends stürmischer und blutiger, als wo die Tiare mit dem Diadem vereint demselben größere Macht erteilte als von demselben empfing.« Aber wo wäre eine Priesterschaft, die nicht herrschsüchtig wäre, und wie kann Religion noch das Heiligste der Menschheit sein, wenn ihre ersten Diener in ihr nichts finden, als ein Mittel, ihre Herrschsucht zu befriedigen? Und warum ist denn die Herrschsucht eine so häufige und so gefährliche Leidenschaft, da sie doch meistens nur auf einem dornenvollen und höchst unsicheren Wege zu jenem Genußleben führt, das man als Endziel aller Egoisten hinstellt? Offenbar spielt bei der Herrschsucht sehr häufig und in den großen Fällen der Weltgeschichte fast immer ein Ideal mit, welches teils an sich überschätzt, teils aber in eine einseitige Beziehung zur eigenen Person als seinem unentbehrlichen Träger gesetzt wird. Dies ist auch der Grund, warum gerade religiöse Herrschsucht so besonders häufig ist, denn die Fälle, in welchen die Religion von einem herrschsüchtigen aber nicht religiösen Charakter als Haupthebel benutzt wird, dürften in der Geschichte sehr selten sein. – Diese Betrachtungen passen auch auf die Jesuiten, welche in gewissen Perioden ihrer Geschichte gewiß dem Assassinentum, wie Hammer es faßt, sehr nahe gekommen sind, während sie doch schwerlich ohne Beihilfe von echtem Fanatismus imstande gewesen wären, ihre Macht in den Gemütern der Gläubigen zu begründen. Hammer stellt dieselben (S. 337 und öfter) jedenfalls mit Recht mit den Assassinen in Parallele; wenn er aber (S. 339) auch die Königsmörder der französischen Revolution für würdig hält, Satelliten des »Alten vom Berge« gewesen zu sein, so zeigt das, wie leicht solche Generalisation zur Verkennung des Eigentümlichen historischer Erscheinungen führen kann. Jedenfalls war der historische Fanatismus der französischen Schreckensmänner im ganzen sehr aufrichtig und ungeheuchelt.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 149,167.
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