III. Die Wiederkehr materialistischer Anschauungen mit der Regeneration der Wissenschaften

[188] Statt positiver Errungenschaften gab die Herrschaft der Scholastik auf dem Gebiete der Wissenschaften nur ein festes, durch Jahrhunderte geheiligtes System von Begriffen und Ausdrücken, und der Fortschritt mußte sogar damit beginnen, dies System, in welchem die Vorurteile und Grundirrtümer der überlieferten Philosophie verkörpert waren, zu zertrümmern. Dennoch leisteten auch die Bande der Scholastik für ihre Zeit der geistigen Entwicklung der Menschheit einen wichtigen Dienst. Wie das Theologenlatein jener Zeit, so bildeten auch die Formeln der Scholastik ein gemeinsames Element geistigen Verkehrs für ganz Europa. Von der formalen Denkübung abgesehen, die auch in der entartetsten Form der aristotelischen Philosophie noch höchst bedeutend und wirksam blieb, war dieselbe Gemeinsamkeit, welche das alte System geschaffen hatte, bald auch ein vorzügliches Medium für die Verbreitung neuer Gedanken. Die Zeit des Wiederauflebens der Wissenschaften fand eine Verbindung unter den Gelehrten Europas vor, wie sie seitdem nie wieder dagewesen ist. Der Ruf einer Entdeckung, eines bedeutenden Buches, eines literarischen Streites verbreitete sich, wo nicht schneller so doch allgemeiner und gründlicher als in unserer Zeit durch alle gebildeten Länder.

Rechnet man den ganzen Verlauf der Regenerationsbewegung, deren Anfang und Ende schwer zu bestimmen ist, von der Mitte des fünfzehnten bis auf die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, so lassen sich in diesem Zeitraum von zweihundert Jahren vier Epochen unterscheiden, die zwar nicht bestimmt gegeneinander abgegrenzt, wohl aber in ihren Grundzügen merklich voneinander verschieden sind. Die erste derselben vereinigt das Hauptinteresse Europas in der Philologie. Es war die Zeit eines Laurentius Valla, eines Angelus Politianus und des großen Erasmus, der den Übergang zur theologischen Epoche bildet. Die Herrschaft der Theologie wird durch die Stürme der Reformationszeit hinlänglich bezeichnet, sie unterdrückt eine Zeitlang fast jedes andere wissenschaftliche, Interesse, namentlich in Deutschland. Dann erst traten die Naturwissenschaften, die seit dem Beginn der Regenerationszeit in[188] den stillen Werkstätten der Forscher erstarkt waren, in dem glänzenden Zeitalter eines Kepler und Galilei beherrschend in den Vordergrund; in vierter Linie erst folgte die Philosophie, wenn auch der Kulminationspunkt der grundlegenden Tätigkeit eines Baco und Descartes nicht viel später fällt als die großen Entdeckungen Keplers. Alle diese Epochen schöpferischer Arbeit waren noch in frischer Nachwirkung auf die Zeitgenossen, als die materialistische Naturphilosophie um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts durch Gassendi und Hobbes wieder systematisch ausgebildet wurde.

Wenn wir bei diesem Überblick die Regeneration der Philosophie an den Schluß setzen, so wird dies kaum eine ernstliche Anfechtung erleiden, sobald man die Bewegung der »Renaissance«, das »Wiederaufleben des Altertums« nicht wörtlich nimmt, sondern im Sinne des wahren Charakters, welcher dieser großen und in ihrem Wesen gleichartigen Bewegung gebührt. Es ist eine Zeit, welche an die Bestrebungen und Überlieferungen des Altertums mit Begeisterung anknüpft, welche aber zugleich allenthalben die Keime einer neuen, großen und selbständigen Kulturperiode hervortreten läßt. Freilich könnte man versuchen, den Charakter der Selbständigkeit und das Hervortreten neuer, vom Altertum unabhängiger Bestrebungen und Zielpunkte von der eigentlichen Renaissance zu trennen und mit Galilei und Kepler, Baco und Descartes eine völlig neue Periode zu beginnen; allein man gerät, wie übrigens bei jedem Versuch, geschichtliche Perioden abzugrenzen, allenthalben auf durchlaufende Fäden und hinübergreifende Züge. So knüpfen, wie wir sehen werden, noch Gassendi und Boyle im siebzehnten Jahrhundert an den Atomismus der Alten an, während Leonardo da Vinci und Ludwig Vives, unzweifelhaft Männer der frischesten Neublütezeit, schon über die Traditionen des Altertums hinausschreiten und eine von Aristoteles und dem gesamten Altertum unabhängige Erfahrungswissenschaft zu begründen suchen.

In gleicher Weise lassen sich nun aber auch rückwärts die Anfänge der Neublüte des Altertums schwer völlig abgrenzen. Wir nannten oben die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, weil um diese Zeit die italienische Philologie ihre volle Entwicklung gewinnt und der Humanismus den Kampf gegen die Scholastik aufnimmt; allein diese Bewegung hat ihr Vorspiel schon ein volles Jahrhundert früher in der Zeit eines Petrarca und Boccaccio, und bis hierher vorgeschritten[189] können wir nicht leugnen, daß der neue Geist, welcher sich in Italien kund gibt, mindestens bis auf das Zeitalter Kaiser Friedrichs II., dessen Bedeutung wir im ersten Kapitel dieses Abschnitts kennen lernten, sich verfolgen läßt. In diesem Zusammenhang aber erscheint dann im Grund auch die Umgestaltung der Scholastik durch das Bekanntwerden des Aristoteles und der arabischen Literatur117 als eins der ersten und wichtigsten Glieder in dem großen Regenerationsprozeß. Die Philosophie, welche den Schluß der ganzen Bewegung macht und auf die Vollendung der großen Umwälzung ihr Siegel drückt, erscheint auch an der Spitze der Bewegung.

Schon in den beiden vorherigen Kapiteln haben wir gesehen, wie in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters unter dem Einflusse der arabischen Philosophie und der byzantinischen Logik bald zügellose Freigeisterei, bald mühsames Ringen nach Denkfreiheit hervortraten. Eine besondere Form dieses vergeblichen Ringens nach Denkfreiheit ist die Lehre von der zweifachen Wahrheit, der philosophischen und der theologischen, welche nebeneinander bestehen können, ungeachtet sie ganz entgegengesetzten Inhalt haben. Wie man sieht, ist diese Lehre das wahre Urbild dessen, was man neuerdings mit einem sehr unglücklich gewählten, aber gleichwohl eingewurzelten Ausdruck die »doppelte Buchführung« genannt hat.118

Der Hauptsitz dieser Lehre war im 13. Jahrhundert die Universität Paris, wo schon vor der Mitte des Jahrhunderts sogar die seltsam klingende Lehre auftauchte, »daß es von Ewigkeit her viele Wahrheiten gegeben habe, welche nicht Gott selbst wären.« Ein Pariser Lehrer, Johann de Brescain, entschuldigte sich im Jahre 1247 wegen seiner »Irrtümer« mit der Bemerkung, er habe die vom Bischof ketzerisch befundenen Sätze nicht »theologisch«, sondern nur »philosophisch« gelehrt. Ungeachtet, daß der Bischof sich dergleichen Ausflüchte ein für allemal streng verbat, scheint doch die Kühnheit in solchen »bloß philosophischen« Behauptungen immer weiter geschritten zu sein; denn in den Jahren 1270 und 1276 wird wieder eine ganze Reihe solcher Sätze verdammt, welche offenbar sämtlich averroistischen Ursprungs sind. Die Auferstehung, die zeitliche Schöpfung der Welt, die Veränderlichkeit der individuellen Seele wurden im Namen der Philosophie geleugnet, während gleichzeitig eingeräumt wurde, daß alle diese Lehren »nach dem katholischen Glauben« wahr seien. Wie es aber mit dieser[190] so bereitwillig eingeräumten theologischen Wahrheit gemeint ist, mag der Umstand zeigen, daß auch Lehren folgender Art unter den verdammten Sätzen vorkommen: »Es wird nichts mehr gewußt, wegen des Wissens der Theologie.« »Die christliche Religion hindert daran, etwas hinzuzulernen.« »Die Weisen der Welt sind nur die Philosophen.« »Die Reden der Theologen sind auf Fabeln gegründet.«119

Es ist wahr, daß wir die Urheber dieser Sätze nicht kennen; sie sind vielleicht größtenteils niemals oder wenigstens nicht mit dieser Offenheit literarisch vertreten, sondern nur in Lehrvorträgen und Disputen behauptet worden; die ganze Art aber, wie die Bischöfe gegen das Übel zu Felde ziehen, verrät deutlich genug, daß der Geist, welcher solche Sätze hervorbrachte, weit verbreitet war und sich kühn hervorwagte. Die bescheiden klingende Behauptung, alles das gelte »nur philosophisch«, ist aber neben solchen Sätzen, welche die Philosophie weit über die Theologie stellen und in der letzteren das Hemmnis der Wissenschaft finden, offenbar weiter nichts als ein Schild gegen die Verfolgung und ein Mittel, sich den Rückzug für den Fall eines Prozesses offen zu halten. Auch ist klar, daß es damals eine Partei gegeben hat, welche die Sätze nicht etwa nur beiläufig, bei Gelegenheit der Interpretation des Aristoteles vorbrachte, sondern sie geflissentlich, in Opposition gegen die orthodoxen Dominikaner, hervorzog. Der gleiche Geist tritt aber auch in England und Italien hervor, wo im 13. Jahrhundert, fast gleichzeitig mit jenen Vorgängen in Paris, ganz ähnliche Lehrsätze auftauchen und von den Bischöfen verurteilt werden.120

In Italien faßte damals der Averroismus in aller Stille feste Wurzel an der hohen Schule zu Padua. Diese gab in geistiger Hinsicht für den ganzen Nordwesten Italiens den Ton an und stand selbst wieder unter dem Einfluß der weltmännisch aufgeklärten und zum praktischen Materialismus neigenden Staatsmänner und Kaufleute von Venedig.121 Hier dauerte der Averroismus, mit ihm aber freilich auch die Vergötterung des Aristoteles und die ganze Barbarei der Scholastik, bis in das 17. Jahrhundert fort; weniger angefochten als an irgendeiner andern hohen Schule und daher auch weniger erwähnt. Wie eine »feste Burg der Barbarei« trotzte Padua den Humanisten, die, grade in Italien am entschiedensten, fast alle zu Plato neigten dessen schöne Formen in Sprache und Darstellung ihnen zusagten, während sie sich mit wenigen Ausnahmen hüteten, sich in die mystische Seite des Platonismus zu vertiefen.[191]

Wie den Humanisten, so trotzten die aufgeklärten, aber an ihre Tradition gefesselten Scholastiker von Padua auch noch, so lange es gehen wollte, den Naturforschern. Cremonini, der letzte dieser Schule, lehrte an der Universität Padua gleichzeitig mit Galilei; während dieser für eine geringe Besoldung die Elemente Euklids lehrte, bezog Cremonini ein Gehalt von 2000 Gulden für seine Vorlesungen über die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles. Man erzählt, als Galilei die Jupitertrabanten entdeckte, habe Cremonini von Stund an durch kein Teleskop mehr sehen wollen, weil die Sache gegen Aristoteles sei. Aber Cremonini war ein Freigeist, dessen Ansichten über die Seele, wiewohl nicht streng averroistisch, doch nichts weniger als kirchlich waren, und er behauptete sein Recht, zu lehren, was im Aristoteles stehe, mit anerkennenswerter Festigkeit.122

Ein Mann aus dieser Reihe scholastischer Freigeister verdient hier hervorgehoben zu werden: Petrus Pomponatius, der Verfasser des im Jahre 1516 erschienenen Büchleins von der Unsterblichkeit der Seele. – Die Frage der Unsterblichkeit war damals in Italien so populär, daß die Studenten einem neu auftretenden Professor, dessen Richtung sie kennen lernen wollten, in der erste Stunde zuriefen, er solle über die Seele reden;123 und es scheint nicht, daß die orthodoxe Ansicht die beliebteste war; denn Pomponatius, der unter dem Schilde der Lehre von der zweifachen Wahrheit vielleicht die kühnsten und scharfsinnigsten Angriffe gegen die Unsterblichkeit richtete, welche damals bekannt wurden, war ein sehr beliebter Dozent.

Seine Richtung war freilich nicht die averroistische; vielmehr wurde er das Haupt einer Schule, welche mit den Averroisten in einen erbitterten Krieg geriet, und welche ihre Ansichten auf den Kommentator Alexander von Aphrodisias zurückführte, allein der Zankapfel in diesem Streite war im Grunde nur die Lehre von der Seele und der Unsterblichkeit, und die »Alexandristen« standen eben doch in der Hauptsache ganz im Strom der averroistischen Denkweise. In der Unsterblichkeitsfrage aber gingen die »Alexandristen« radikaler zu Werke; sie verwarfen den Monopsychismus und erklärten die Seele einfach »nach Aristoteles« für nicht unsterblich – den Kirchenglauben dabei in bekannter Weise vorbehaltend.

Pomponatius nimmt in seinem Buche über die Unsterblichkeit der Kirchen gegenüber einen sehr ehrerbietigen Ton an; er lobt die Widerlegung[192] des Averroismus durch den heiligen Thomas mit großem Eifer; um so verwegener sind aber die Gedanken, welche er in seine eigne Kritik der Unsterblichkeitsfrage einfließen läßt. Die Behandlungsweise ist im ganzen streng scholastisch, das von der Scholastik unzertrennbare schlechte Latein nicht ausgeschlossen aber im letzten Hauptabschnitt124 der Schrift, wo Pomponatius »acht große Schwierigkeiten« der Unsterblichkeitsfrage behandelt, begnügt er sich keineswegs mit begrifflichen Erörterungen und Zitaten aus Aristoteles. Hier kommt die ganze Skepsis des Zeitalters zum Wort, selbst bis zu sehr deutlichen Anklängen an die Theorie von den drei Betrügern.

Pomponatius betrachtet hier die Vergänglichkeit der Seele als bereits philosophisch erwiesen. Die acht Schwierigkeiten dieser Ansicht sind die gewöhnlichsten allgemeinen Gründe für die Unsterblichkeit, und diese Gründe widerlegt Pomponatius nun nicht mehr nach scholastischer Methode, da sie auch keine scholastisch geformten Einwände sind, sondern mit dem gesunden Menschenverstande und mit sittlichen Erörterungen. Unter diesen Schwierigkeiten lautet die vierte: da alle Religionen (»omnes leges«) die Unsterblichkeit behaupten, so würde, wenn sie nicht stattfände, die ganze Welt betrogen sein. Hierauf aber lautet die Antwort: Daß durch die Religionen fast jedermann getäuscht wird, muß man zugeben: es ist aber nichts Schlimmes dabei; denn da es drei Gesetze gibt, von Moses, Christus und Mahomed, so sind entweder alle drei falsch, und so ist die ganze Welt betrogen, oder wenigstens zwei, und dann ist die Mehrzahl betrogen. Man muß aber wissen, daß nach Plato und Aristoteles der Gesetzgeber (»politicus«) ein Arzt der Seele ist, und da diesem mehr daran liegt, die Menschen tugendhaft zu machen als aufgeklärt, so mußte er sich den verschiedenen Naturen anbequemen. Die minder edlen bedürfen des Lohnes und der Strafe. Einige aber lassen sich selbst dadurch nicht regieren, und für diese ist die Unsterblichkeit erfunden. Wie der Arzt manches erdichtet, wie die Amme das Kind zu manchem verlockt wovon es den wahren Grund noch nicht einsehen kann, so handelt also auch mit vollkommenem Recht der Religionsstifter, dessen Endzweck als ein rein politischer angesehen wird.

Man darf nicht vergessen, daß diese Ansicht damals in Italien unter den Vornehmen und besonders bei praktischen Staatsmännern sehr verbreitet war. So sagt Machiavelli in seinen Betrachtungen zu Livius:125 »Die Fürsten einer Republik oder eines Königreichs[193] müssen also die Grundpfeiler der Religion, die sie haben, aufrecht halten; wenn dies geschieht, wird es ihnen ein Leichtes sein, ihren Staat religiös und folglich gut und einig zu erhalten. Und alles, was zu deren Gunsten sich eignet, wenn sie es auch für falsch halten, müssen sie begünstigen und fördern, und müssen dies um so mehr tun, je klüger und je bessere Kenner der Dinge in der Welt sie sind. Und da dieses Verfahren von den weisen Männern beobachtet worden ist, so ist daraus die Meinung von den Wundern entstanden, welche in den Religionen gefeiert werden, wenn sie gleich falsch sind; weil die Klugen sie vergrößern, aus welchem Anfange sie auch entspringen mögen, und deren Ansehen ihnen dann bei jedermann Glauben verschafft.« – So mag auch wohl Leo X., als er über das Buch des Pomponatius zu Gericht sitzen sollte, gedacht haben, der Mann habe ganz recht; wenn die Sache nur keinen Lärm machte!

Auf den (dritten) Einwand, wenn die Seelen sterblich wären, gäbe es keinen gerechten Lenker der Welt, erwidert Pomponatius: »Der wahre Lohn der Tugend ist die Tugend selbst, welche den Menschen selig macht; denn nichts Höheres kann die menschliche Natur haben, als die Tugend; da ja sie allein den Menschen sicher macht und frei von allen Stürmen. Denn beim Tugendhaften ist alles in Harmonie; er fürchtet nichts und hofft nichts und bleibt im Glück und Unglück sich selbst gleich.« Dem Lasterhaften ist das Laster selbst Strafe. Wie Aristoteles im 7. Buch der Ethik zeigt: »dem Lasterhaften ist alles gestört. Er traut niemandem, er hat weder wachend noch schlafend Ruhe und führt, von Qualen des Leibes und der Seele beängstigt, ein so erbärmliches Leben, daß kein Weiser, wie arm und schwach er auch sei, das Leben eines Tyrannen oder eines lasterhaften Vornehmen wählen würde.«

Gespenstererscheinungen erklärt Pomponatius für Täuschungen der erregten Phantasie oder Betrug der Priester; Besessene sind krank (Einwand 5 u. 6); gleichwohl wird ein Rest hierher gehöriger Erscheinungen anerkannt und auf den Einfluß guter und böser Geister oder auf astrologische Wirkungen zurückgeführt. Der Glaube an die Astrologie war nun einmal mit der averroistischen Aufklärung unauflöslich verbunden.

Mit großem Nachdruck erhebt sich endlich Pomponatius gegen diejenigen (achter Einwand), welche behaupten, lasterhafte und schuldbewußte Menschen pflegen die Unsterblichkeit zu leugnen; gerechte und gute dagegen sie anzunehmen. Im Gegenteil, sagt er,[194] sehen wir offenbar, daß viele Lasterhafte an die Unsterblichkeit glauben und sich gleichwohl von ihren Leidenschaften hinreißen lassen, während dagegen viele gerechte und edle Männer die Seele für sterblich gehalten haben. Zu diesen zählt er Homer und Simonides, Hippokrates und Galen, Alexander von Aphrodisias und die großen arabischen Philosophen; endlich von unsern Landsleuten (»ex nostratibus«; hier verrät sich auch beim Scholastiker der Geist der Renaissance!) Plinius und Seneca.

In ähnlichem Geiste schrieb Pomponatius über die Willensfreiheit, deren Widersprüche er so offen darlegte. Hier kritisiert er sogar den christlichen Gottesbegriff, indem er den Widerspruch zwischen der Lehre von der Allmacht, Allwissenheit und Güte Gottes und der Schuld des Menschen mit allem Scharfsinn verfolgt und aufdeckt. Auch bekämpfte Pomponatius noch in einem besondern Werke den Wunderglauben, wobei wir freilich wieder astrologische Wirkungen als natürlich und tatsächlich in den Kauf nehmen müssen. So ist es z. B. echt arabisch, wenn er die Gabe der Prophetie vom Einfluß der Gestirne und von einer unbegreiflichen Verbindung mit unbekannten Geistern ableitet.126 Die Wirkung der Reliquien dagegen ist durch die Einbildung der Gläubigen bedingt und würde ebensogut erfolgen, wenn es Hundeknochen wären.

Man hat viel darüber gestritten, ob bei diesen Ansichten des Pomponatius seine Unterwerfung unter den Kirchenglauben mehr als eine bloße Form gewesen sei. Solche Fragen sind allerdings in zahlreichen ähnlichen Fällen äußerst schwer zu entscheiden, da wir in keiner Hinsicht den Maßstab unserer Zeit anlegen dürfen. Der ungeheuere Respekt vor der Kirche, dem so mancher Scheiterhaufen den gehörigen Nachdruck gegeben, genügte vollkommen, um in den Gemütern auch der feinsten Denker das Kredo mit einem heiligen Schauer zu verbinden, der die Grenze zwischen Wort und Wesen mit einem undurchdringlichen Nebel verhüllte. Wohin aber bei Pomponatius in diesem Streit zwischen philosophischer und theologischer Wahrheit das Zünglein der Waagschale neigte, hat er uns hinlänglich angedeutet, wenn er die Philosophen allein für die Götter der Erde erklärt und so weit von den übrigen entfernt, welches Standes sie auch sein mögen, wie wahre Menschen von gemalten!

Jene Zweideutigkeit im Verhältnis von Glauben und Wissen ist übrigens ein bezeichnender und sehr standhafter Zug der Übergangszeit zur neueren Denkfreiheit. Nicht einmal die Reformation vermag[195] sie zu beseitigen, und wir finden sie von Pomponatius und Kardanus bis auf Gassendi und Hobbes in den verschiedensten Abstufungen vom scheu verborgenen Zweifel bis zur bewußten Ironie. Im Zusammenhang damit steht die Neigung zu einer zweideutigen und die Schattenseiten mit Vorliebe hervorkehrenden Apologie des Christentums oder einzelner Lehren, bei der wir ebenfalls neben der offenbaren Absicht vom Gegenteil zu überzeugen, wie bei Vanini, auch Fälle haben, wie in Mersennes Kommentar zur Genesis, deren eigentliche Natur schwer festzustellen ist.

Wer das Wesentliche am Materialismus in seiner Opposition gegen den Kirchenglauben erblickt, könnte Pomponatius und zahlreiche mehr oder minder kühne Nachfolger zu den Materialisten rechnen; sucht man dagegen nach Anfängen einer positiven materialistischen Naturerklärung, so wird man auch bei den aufgeklärten Scholastikern jeden Anfang davon vermissen. Ein einziges, bis jetzt ganz vereinzeltes Beispiel, das sich dahin zählen ließe, taucht freilich schon im 14. Jahrhundert auf. Im Jahre 1348 nämlich wurde in Paris Nikolaus de Autricuria127 zum Widerruf genötigt wegen verschiedener Lehrsätze, unter denen sich auch der findet, daß es in den Naturvorgängen nichts gebe als die Bewegung der Verbindung und Trennung der Atome. Also ein förmlicher Atomistiker, mitten in der Alleinherrschaft der aristotelischen Naturlehre! Aber derselbe Verwegene wagte es auch überhaupt zu erklären, daß man den Aristoteles samt dem Averroès beiseite setzen und sich direkt an die Dinge wenden solle. Also Atomismus und Erfahrungsprinzip gehen schon hier Hand in Hand!

In Wirklichkeit mußte, bevor es zum direkten Verkehr mit den Dingen kommen konnte, die Autorität des Aristoteles erst gebrochen werden. Während aber hierzu Nikolaus de Autricuria in gänzlicher Vereinsamung, soviel wir bis jetzt wissen, einen fruchtlosen Versuch machte, begann in Italien schon das Vorspiel zu dem großen Kampfe der Humanisten gegen die Scholastiker in Petrarcas heftigen Angriffen.

Der Entscheidungskampf fiel in das fünfzehnte Jahrhundert, und wiewohl hier im allgemeinen die Beziehungen zum Materialismus nur ziemlich entfernte sind – da ja die großen italienischen Humanisten meist Platoniker waren –, so ist es doch von Interesse zu sehen, daß einer der ersten Vorkämpfer des Humanismus Laurentius Valla, seinen Namen zuerst in weiteren Kreisen bekannt machte[196] durch einen »Dialog von der Lust,« den man als den ersten Versuch einer Ehrenrettung des Epikureismus betrachten kann.128 Allerdings trägt in diesem Dialoge schließlich der Vertreter der christlichen Ethik über den Epikureer, wie über den Stoiker den Sieg davon; aber der Epikureer ist mit sichtbarer Vorliebe behandelt, was bei dem allgemeinen Grauen, welches man damals noch vor dem Epikureismus empfand, schwer ins Gewicht fällt. – In seinem Versuch, die Logik zu reformieren, wurde Valla den Subtilitäten der Scholastik nicht immer gerecht, und seine eigene Darstellung färbt die Logik stark mit rhetorischen Elementen; allein das Unternehmen war von großer historischer Bedeutung als erster Versuch einer ernstlichen Kritik, welche sich nicht nur gegen die scholastischen Ausartungen richtete, sondern auch vor der Autorität des Aristoteles selbst nicht zurückschrak. – Valla ist auch auf andern Gebieten einer der ersten Stimmführer der erwachenden Kritik. Sein Auftreten ist mit jedem Zuge ein Zeugnis für das Ende der unbedingten Herrschaft der Tradition und unantastbarer Autoritäten.

In Deutschland wurde die humanistische Reformbewegung, so kräftig sie auch begonnen hatte, früh und vollständig von der theologischen Bewegung verschlungen. Gerade der Umstand, daß hier die Opposition gegen die Hierarchie am entschiedensten zum offenen Bruch führte, brachte es vielleicht mit sich, daß das wissenschaftliche Gebiet teils vernachlässigt, teils konservativer behandelt wurde, als es sonst der Fall gewesen wäre. Erst nach Jahrhunderten glich die errungene Geistesfreiheit dies Opfer wieder aus.

Philipp Melanchthon war es, der das entscheidende Beispiel gab zur Reform der Philosophie auf dem alten, von Aristoteles gelegten Grunde. Er sprach es offen aus, daß er für die Philosophie durch Zurückgehen auf die echten Schriften des Aristoteles eine ähnliche Reform beabsichtigte, wie Luther sie für die Theologie durch Zurückgehen auf die Bibel bezweckte.

Allein diese melanchthonische Reform gedieh im allgemeinen nicht zum Heile Deutschlands. Sie war einerseits nicht radikal genug, da Melanchthon selbst bei aller Feinheit seines Denkens durch und durch von den Fesseln der Theologie und selbst der Astrologie gehemmt war; anderseits bewirkte das ungeheure Gewicht des Reformators und der Einfluß seiner akademischen Lehrtätigkeit für Deutschland ein Zurückgehen auf den Scholastizismus, welches[197] bis lange nach Kartesius anhielt und das Haupthemmnis der Philosophie in Deutschland bildete.

Bemerkenswert ist jedoch, daß Melanchthon regelmäßige Vorlesungen über Psychologie nach seinem eigenen Handbuche einführte. Seine Anschauungen streifen im einzelnen oft nahe genug an Materialismus, sind aber allenthalben ohne tiefere Vermittlung durch die Lehre der Kirche in enge Grenzen gezogen. Die Seele erklärte Melanchthon nach der falschen Lesart endelecheia statt entelecheia als die Ununterbrochene: eine Lesart, auf die sich hauptsächlich die Annahme der Unsterblichkeitslehre des Aristoteles stützte. Der Wittenberger Professor Amerbach, der eine streng aristotelische Psychologie schrieb, geriet über diese Lesart dermaßen mit dem Reformator auseinander, daß er in der Folge Wittenberg verließ und wieder katholisch wurde.

Eine dritte Schrift über Psychologie erschien ungefähr um dieselbe Zeit von der Hand des Spaniers Ludwig Vives.

Vives ist für diese Zeit als der bedeutendste Reformator der Philosophie und als ein Vorläufer des Cartesius und des Baco zu betrachten. Sein ganzes Leben war ein unausgesetzter und erfolgreicher Kampf wider die Scholastik: in Beziehung auf Aristoteles war seine Ansicht, daß die echten Schüler seines Geistes über ihn hinaus gingen und die Natur selbst befragten, wie die Alten es auch getan. Nicht aus der blinden Tradition oder aus spitzfindigen Hypothesen sei die Natur zu erkennen, sondern durch direkte Untersuchung auf dem Wege des Experiments. Trotz dieser seltenen Klarheit über die wahren Grundlagen der Forschung greift Vives in seiner Psychologie doch nur selten in das Leben, um eigene oder fremde Beobachtungen mitzuteilen. Das Kapitel von der Unsterblichkeit der Seele ist durchaus rhetorisch gehalten und führt in der bis auf unsere Tage noch beliebten Manier mit den oberflächlichsten Gründen einen scheinbar unwiderleglichen Beweis. Und doch war Vives einer der hellsten Köpfe seines Jahrhunderts, und seine Psychologie ist, namentlich in der Lehre von den Affekten, reich an feinen Bemerkungen und treffenden Charakterzügen.

Auch der wackere Züricher Naturkundige Konrad Geßner schrieb um dieselbe Zeit eine Psychologie, die nach Inhalt und Behandlungsweise interessant ist. Nach einer äußerst gedrängten, tabellenartigen Zusammenstellung aller möglichen Ansichten über das Wesen der Seele folgt in raschem Übergang eine ausführliche Lehre von den Sinnen. Hier fühlt Geßner sich heimisch und verweilt mit[198] Behagen bei physiologischen Erörterungen, die zum Teil sehr eingehender Natur sind. Einen eigentümlichen Eindruck macht es dagegen, im ersten Teil des Werkchens das furchtbare Chaos der Ansichten und Meinungen über die Seele gleichsam mit einem Blick zu überschauen. »Einige halten,« wie Geßner mit unwandelbarer Gemütsruhe uns mitteilt, »die Seele für nichts, andere halten sie für eine Substanz.«129

Nach allen Seiten sieht man so die alte aristotelische Überlieferung erschüttert, die Ansichten in Fluß gebracht und Zweifel erregt, die sich wahrscheinlich in der Literatur nur zum geringsten Teile kundgeben. Sehr bald aber wird die Psychologie, die vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts ab außerordentlich zahlreiche Bearbeitungen fand, wieder systematisch, und die Gärung der Übergangsperiode macht einer dogmatischen Scholastik Platz, deren wichtigster Gesichtspunkt bleibt, sich der Theologie anzubequemen.

Während aber die Theologie das Feld der Geistelsehre noch völlig beherrschte und wütende Streitigkeiten die Stimme des ruhigen Urteils übertäubten, legte im stillen auf dem Gebiete der äußeren Natur die strenge Forschung einen unerschütterlichen Grund zu gänzlich veränderter Weltanschauung.

Im Jahre 1543 erschien, dem Papste gewidmet, das Buch von den Bahnen der Himmelskörper von Nikolaus Kopernikus aus Thorn. In seinen letzten Lebenstagen soll der ergraute Forscher das erste Exemplar seines großen Werkes erhalten haben und dann befriedigt aus dieser Welt geschieden sein.130

Was jetzt, nach drei Jahrhunderten, jeder Elementarschüler lernen muß, daß die Erde sich um sich selbst und um die Sonne bewegt, das war damals eine große und, trotz einzelner Vorläufer, eine neue, dem allgemeinen Bewußtsein schnurstracks zuwiderlaufende Wahrheit. Es war aber auch eine Wahrheit, die gegen Aristoteles verstieß und mit der die Kirche sich noch nicht abgefunden hatte. Was die Lehre des Kopernikus gegen den Hohn der konservativen Menge, gegen den Fanatismus der Schul- und Kirchenpfaffen einigermaßen schützte, war die streng wissenschaftliche Form und die überwältigende Beweiskraft seines Werkes, an welchem der Verfasser in der stillen Muße seiner Domherrenstelle zu Frauenburg mit bewundernswerter Ausdauer dreiunddreißig Jahre lang gearbeitet hatte. Der Gedanke hat etwas wahrhaft Großes, daß ein Mann, der noch im Alter des feurigsten Schaffens von einer weltbewegenden Idee ergriffen wird, sich im vollen Bewußtsein ihrer[199] Tragweite zurückzieht, um sein ganzes übriges Leben der ruhigen Ausbildung dieses Gedankens zu widmen. Daher die Begeisterung der wenigen ersten Schüler, daher das Stutzen der Pedanten und die Zurückhaltung der Kirche.

Wie bedenklich nach dieser Seite das Unternehmen schien, zeigt der Umstand, daß der Professor Osiander, welcher den Druck des Buches besorgte, in einer nach Sitte der Zeit von ihm angeflickten Vorrede die ganze Lehre des Kopernikus als eine Hypothese darstellte. Kopernikus selbst hat keinen Teil an dieser Verhüllung. Kepler, selbst von stolzer Denkfreiheit beseelt, nennt ihn einen Mann von freiem Geiste; und in der Tat, nur ein solcher konnte die Riesenarbeit vollbringen.131

»Die Erde bewegt sich« wurde bald der Satz, durch den der Glaube an die Wissenschaft und an die Untrüglichkeit der Vernunft sich schied vom blinden Festhalten an der Überlieferung; und als man nach einem Kampf von Jahrhunderten in diesem Punkte der Wissenschaft definitiv den Sieg überlassen mußte, warf das ein Gewicht zu ihren Gunsten in die Waagschale, als ob sie durch ein Wunder die bis dahin ruhende Erde erst wirklich bewegt hätte. Einer der frühesten und entschiedensten Anhänger des neuen Weltsystems, der Italiener Giordano Bruno, ist durch und durch Philosoph, und wenn auch sein System im ganzen als pantheistisch zu bezeichnen ist, so hat es doch zum Materialismus so viele Beziehungen, daß wir uns einer Berücksichtigung nicht entschlagen können.

Während Kopernikus an pythagoreischen Überlieferungen hing132 – bezeichnete doch später die Index-Kongregation seine ganze Lehre einfach als eine doctrina Pythagorica – nahm Bruno sich Lucrez zum Muster. Die alte epikureische Lehre von der Unendlichkeit der Welten griff er höchst glücklich auf und lehrte, indem er sie mit dem kopernikanischen System verband, daß alle Fixsterne Sonnen seien, die sich in endloser Zahl durch den Weltraum verbreiten und wieder ihre unsichtbaren Trabanten haben, die sich zu ihnen verhalten wie die Erde zur Sonne oder der Mond zur Erde: eine Anschauung, die gegenüber der alten Annahme eines geschlossenen Weltraumes fast von ebenso großer Bedeutung ist, als die Lehre von der Bewegung der Erde.133

»Die Unendlichkeit von Formen, unter denen die Materie erscheint,« lehrte Bruno, »nimmt sie nicht von einem andern und gleichsam nur äußerlich an, sondern sie bringt sie aus sich selbst[200] hervor und gebiert sie aus ihrem Schoße. Sie ist nicht jenes prope nihil, wozu einige Philosophen sie haben machen wollen und worüber diese in Widerspruch mit sich selbst geraten sind, nicht jenes nackte, reine, leere Vermögen ohne Wirksamkeit, Vollkommenheit und Tat; wenn sie für sich selbst keine Form hat, so ist sie nicht davon entblößt wie das Eis von der Wärme oder wie der Abgrund von dem Licht, sondern sie gleicht der kreisenden Gebärerin, wenn sie die Frucht aus ihrem Schoße drängt. Auch Aristoteles und seine Nachfolger lassen die Formen aus dem inneren Vermögen der Materie viel mehr hervorgehen, als auf eine gewissermaßen äußerliche Weise darin erzeugt werden; aber anstatt dies wirksame Vermögen in der innerlichen Bildung der Form zu erblicken, haben sie es hauptsächlich nur in der entwickelten Wirklichkeit erkennen wollen, da doch die vollendete sinnliche und ausdrückliche Erscheinung eines Dinges nicht der hauptsächliche Grund seines Daseins, sondern nur eine Folge und Wirkung desselben ist. Die Natur bringt ihre Gegenstände nicht wie die menschliche Technik durch Wegnehmen und Zusammenfügen, sondern allein durch Scheidung und Entfaltung hervor. So lehrten die weisesten Männer unter den Griechen, und Moses, da er die Entstehung der Dinge beschreibt, führt das allgemeine wirksame Wesen also redend ein: ›die Erde bringe hervor lebendige Tiere, das Wasser bringe hervor sein Lebendiges!‹ als ob er sagte, die Materie bringe sie hervor! Denn bei Moses ist das materielle Prinzip der Dinge Wasser, und deshalb sagt er, daß der wirksam bildende Verstand, den er Geist nannte, über den Wassern schwebte, und indem er diesen die hervorbringende Kraft verlieh, wurde die Schöpfung. Sie alle wollen demnach, daß nicht durch Zusammensetzung, sondern durch Scheidung und Entwicklung die Dinge entstehen, und deshalb ist die Materie nicht ohne die Formen, vielmehr enthält sie dieselben alle; und indem sie entfaltet, was sie eingehüllt in sich trägt, ist sie in Wahrheit alle Natur und die Mutter der Lebendigen.«134

Vergleichen wir diese Begriffsbestimmung, welche M. Carriere als eine der größten Taten in der Geschichte der Philosophie bezeichnet, mit der des Aristoteles, so finden wir den großen und durchgreifenden Unterschied, daß Bruno die Materie nicht als das Mögliche, sondern als das Wirkliche und Wirkende erfaßte. Auch Aristoteles lehrte, daß in den Dingen Form und Materie eins seien; allein indem er die Materie definierte als die bloße Möglichkeit, alles das zu werden, was die Form aus ihr mache, fiel letzterer allein[201] wahre Wesenheit zu. Diese Bestimmungen kehrte Bruno um. Er macht die Materie zu dem wahren Wesen der Dinge und läßt sie alle Formen aus sich selbst hervorbringen. Dieser Satz ist materialistisch, und wir hätten daher allen Grund, Bruno dem Materialismus völlig zu vindizieren, wenn nicht seine Durchbildung des Systems auf entscheidenden Punkten eine pantheistische Wendung nähme.

Zwar ist auch der Pantheismus an sich nur eine Modifikation irgendeines andern monistischen Systems. Der Materialist, welcher Gott als den Inbegriff aller an sich beseelten Materie definiert, wird damit zum Phanteisten, ohne seine materialistische Basis aufzugeben. Allein die natürliche Folge der Richtung des Geistes auf Gott und die göttlichen Dinge pflegt die zu sein, daß jener Ausgangspunkt vergessen wird, daß die Ausführung des Gegenstandes mehr und mehr wieder die Seele des All nicht als notwendig durch die Materie selbst gesetzt auffaßt, sondern als das begrifflich wenigstens vorangehende schöpferische Prinzip. In dieser Weise bildete auch Bruno seine Theologie aus. Mit der Bibel fand er sich so ab, daß er lehrte, da die Bibel für das Volk sei, so hätte sie sich auch dessen naturhistorischen Anschauungen anbequemen müssen, denn sonst würde sie gar keinen Glauben gefunden haben.135 In seiner Ausdrucksweise war Bruno poetisch, seine meisten Werke sind in poetischer Form, teils lateinisch, teils italienisch verfaßt. Sein tiefsinniger Geist verlor sich gern in ein mystisches Dunkel der Betrachtung, aber ebenso kühn und rückhaltlos wagte er es wieder, seine Meinungen mit vollkommener Klarheit auszusprechen.

Bruno war ursprünglich in den Dominikanerorden getreten, um Muße für seine Studien zu finden. Allein wegen Ketzerei verdächtig geworden, mußte er fliehen, und sein Leben blieb von da ab unstet und von Verfolgungen und Anfeindungen in langer Kette durchzogen. In Genf, Paris, England und Deutschland hielt er sich der Reihe nach auf, um endlich den verhängnisvollen Schritt der Rückkehr in sein Vaterland zu wagen. Im Jahre 1592 fiel er zu Venedig in die Hände der Inquisition.

Nach vieljähriger Haft wurde er ungebeugt und fest in seinen Ansichten in Rom verurteilt. Degradiert und exkommuniziert wurde er als Ketzer der weltlichen Obrigkeit übergeben, mit der Bitte, »ihn so gelinde als möglich und ohne Blutvergießen zu bestrafen«; das hieß bekanntlich ihn zu verbrennen. Als sein Urteil ihm verkündet wurde, sprach er: »Ihr fällt vielleicht mit größerer Furcht[202] das Urteil, als ich es empfange.« Am 17. Februar 1600 ward er auf dem Campofiore zu Rom verbrannt. Seine Lehren haben unzweifelhaft auf die nächstfolgenden Entwicklungen der Philosophie mächtig eingewirkt, obwohl er nach dem Auftreten eines Descartes und Baco in den Hintergrund zurücktrat und wie so manche große Männer der Übergangszeit vergessen wurde.

Die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts durfte erst auf dem Gebiet der Philosophie die reifen Früchte der großen Befreiung ernten, welche die Regenerationsbewegung der Reihe nach für die verschiedensten Gebiete des menschlichen Geisteslebens herbeigeführt hatte. In den ersten Decennien des Jahrhunderts trat Baco auf, gegen die Mitte desselben Descartes; seine Zeitgenossen waren Gassendi und Hobbes, die wir als die eigentlichen Erneuerer einer materialistischen Weltanschauung betrachten dürfen. Allein auch die beiden berühmteren »Wiederhersteller der Philosophie«, wie man sie gewöhnlich bezeichnet, Descartes sowohl als Baco, stehen zum Materialismus in einer engen und bemerkenswerten Beziehung.

Von Baco insbesondere dürfte es für eine eingehende Forschung fast schwieriger werden, scharf und bestimmt nachzuweisen, worin er sich vom Materialismus unterscheidet, als was er mit demselben gemein hat.

Unter allen philosophischen Systemen stellt Baco das des Demokrit am höchsten. Er rühmt, daß dessen Schule tiefer als irgendeine andre in das Wesen der Natur eingedrungen sei. Die Betrachtung der Materie in ihren mannigfachen Wandlungen führe weiter als die Abstraktion. Ohne Annahme der Atome lasse sich die Natur nicht wohl erklären. Ob Zwecke in der Natur walten, lasse sich nicht bestimmt sagen; jedenfalls müsse der Forscher sich lediglich an die wirkenden Ursachen halten.

Bekanntlich führt man auf Baco und Descartes zwei verschiedene Entwicklungsreihen der Philosophie zurück, deren eine von Descartes über Spinoza, Leibniz, Kant und Fichte sich bis auf Schelling und Hegel erstreckt, während die andere von Baco durch Hobbes und Locke zu den französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts läuft; indirekt müssen wir also auf die letztere Linie auch unseren heutigen Materialismus zurückführen.

Und in der Tat ist es auch nur zufällig, daß der Name des Materialismus erst im achtzehnten Jahrhundert aufkam; das Wesen seiner Richtung ist mit Baco gegeben, und nur der Umstand hält uns ab,[203] Baco als den eigentlichen Wiederhersteller der materialistischen Philosophie zu bezeichnen, daß er sein Augenmerk fast auschließlich auf die Methode gewandt hatte und daß er über die wichtigsten Punkte sich mit zweideutiger Zurückhaltung äußert. Die abergläubische und eitle Unwissenschaftlichkeit Bacos136 stimmt an und für sich mit der materialistischen Philosophie zwar nicht besser, aber auch nicht schlechter überein, als mit den meisten anderen Systemen. Nur was den ausgedehnten Gebrauch anlangt, welchen Baco in der Naturerklärung von den »Geistern« (spiritus) macht, seien uns einige Bemerkungen gestattet.

Baco lehnt sich hier an die Überlieferung an, aber mit einer Selbständigkeit der Ausführung, welche dem »Erneuerer der Wissenschaften« wenig Ehre machte. »Geister« aller Art spielen in der Kosmologie und Physiologie der neuplatonisch-scholastischen Weltanschauung eine große Rolle; zumal auch bei den Arabern, wo die Astralgeister auf dem mystischen Wege der Sympathie und Antiphatie mit den in den irdischen Dingen wohnenden Geistern die Welt regieren. Am meisten wissenschaftliche Gestalt gewann die Lehre vom »spiritus« in der Psychologie und Physiologie, wo ihre Nachwirkungen bis auf die Gegenwart (z. B. im Begriff der schlummernden, geweckten oder erregten »Lebensgeister«) sich verfolgen lassen. Hier wurde die Lehre Galens vom psychischen und animalischen »spiritus« in Verbindung mit der Lehre von den vier Säften und den Temperamenten schon früh im Mittelalter mit der aristotelischen Psychologie verschmolzen. Nach dieser Lehre, welche sich z. B. noch in aller Ausführlichkeit in Melanchthons Psychologie vorfindet, werden die vier Fundamentalsäfte in der Leber bereitet (zweiter organischer Prozeß, nachdem der erste im Magen stattgefunden); aus dem edelsten Saft, dem Blute, wird durch einen neuen Prozeß im Herzen der »spiritus vitalis« bereitet, der endlich in den Hirnhöhlen (vierter und letzter Prozeß) zum »spiritus animalis« raffiniert wird.

Diese Lehre ist wohl hauptsächlich deshalb so eingewurzelt, weil sie eine dem oberflächlichen Denken genügende Überbrückung der Kluft zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem zu bieten schien, wie sie sowohl die Neuplatoniker als auch die christlichen Theologen bedurften. So erscheint z. B. noch bei Melanchthon der materielle und aus der groben Materie allmählich raffinierte spiritus als unmittelbarer Träger von Wirkungen, die dem Begriff nach rein geistige sein sollen, die aber in der Tat von dem gelehrten[204] Theologen sehr materiell vorgestellt werden. So mischt sich der göttliche Geist mit diesen Lebens- und Seelengeistern des Menschen; wenn aber ein Teufel im Herzen sitzt, so bläst er unter die Geister und bringt sie dadurch in Verwirrung.137

Für den konsequenten Gedanken ist natürlich die Kluft gleich groß zwischen dem Übersinnlichen und dem feinsten Teilchen der feinsten Materie oder dem gesamten Erdball. Die Geister der modernen »Spiritisten« in England und Amerika haben daher ganz recht, wenn sie ihre Gläubigen gleich recht kräftig am Rockzipfel schütteln oder wenn sie mit schweren Mobilien im Zimmer herumkutschieren.

Neben jener bescheidnen und der Form nach streng wissenschaftlich gefaßten Lehre von den Lebensgeistern im tierischen Organismus steht nun aber die phantastische Lehre der Astrologen und Alchimisten, welche das Wesen aller Dinge in Wirkungen solcher Geister auflöst und dabei jede Grenze zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem beseitigt. Man kann allerdings behaupten, die »Geister« dieser Naturlehre seien schlechthin materieller Natur und identisch mit demjenigen, was wir heutzutage »Kräfte« nennen; aber abgesehen davon, daß eben in unserm Begriffe der »Kraft« vielleicht noch ein Rest jener Unklarheit steckt – was wollen wir von einer Materie halten, welche auf andere materielle Dinge nicht durch Druck und Stoß wirkt, sondern durch Symphatie? Man darf nur noch hinzufügen, daß die alchimistisch-astrologi sche Naturauffassung in ihren phantastischeren Formen den Geistern auch der leblosen Dinge eine Art von Bewußtsein zuschrieb, und man wir den Schritt nicht mehr groß finden bis zu Paracelsus, welcher die »spiritus« anthropomorph gestaltete und die ganze Welt im Großen und Kleinen mit zahllosen Dämonen bevölkerte, von denen alles Leben und alle Wirkung ausgeht.

Und nun zu Baco! Dem Anscheine nach tritt er allerdings der alchimistischen Naturlehre ziemlich bestimmt entgegen. Er behandelt die Geister oft als Stoffe und materielle Kräfte, so daß man glauben könnte, nirgends zeige sich der Materialismus Bacos deutlicher als in der Lehre von den spiritus. Sieht man aber genauer zu, so findet man, daß er nicht nur alle möglichen abergläubischen Annahmen aus der Weisheit der Kabbalisten in seine Theorie übernimmt, sondern daß auch seine materialistische Umdeutung der Magie in »natürliche« Vorgänge äußerst fadenscheinig ist und oft genug ganz ausbleibt. So nimmt z. B. Baco keinen Anstand, den Körpern eine[205] Art von Vorstellungsvermögen zuzuschreiben, den Magneten die Nähe des Eisens »bemerken« zu lassen und die »Sympathie« und »Antipathie« der »spiritus« zur Ursache der Naturvorgänge zu erheben; daher denn der »böse Blick«, die sympathische Vertreibung von Warzen u. dgl. in dieser Naturwissenschaft vortrefflich Platz findet.138 Damit harmoniert es dann auch sehr gut, wenn Baco sogar in seiner mit Vorliebe behandelten Theorie der Wärme noch die astrologische »Wärme« eines Metalles, Sternbildes usw. ruhig mit der physikalischen Wärme in eine Reihe stellt.

Allerdings hatte die alchimistisch-theosophische Naturanschauung der Kabbala gerade in England und namentlich auch in den aristokratischen Kreisen so tiefen Boden gewonnen, daß Baco in solchen Dingen nichts Originelles lehrt, sondern nur innerhalb des Ideenkreises seiner Umgebung verweilt, und man darf sogar annehmen, daß Baco in seiner grenzenlosen Kriecherei gerade um des Hofes willen weit mehr von solchen Anschauungen aufnahm, als er vor sich selbst verantworten konnte. Dagegen ist aber auch wieder zu bemerken, daß die Annahme einer Beseelung der ganzen, auch der unorganischen Natur, wie namentlich Paracelsus sie lehrte, in einer eigentümlichen Wechselbeziehung zum Materialismus steht. Sie ist das entgegengesetzte Extrem, welches sich mit dem Materialismus nicht nur berüht, sondern sogar vielfach aus ihm hervorgeht, da doch schließlich der Materie als solcher die Hervorbringung des Geistigen zugeschrieben werden muß – also doch auch wohl in unendlich vielen Abstufungen. Die phantastisch-personifizierende Ausmalung dieser allgemeinen Beseelung der Materie, wie wir sie bei Paracelsus finden, gehört zu den Abgeschmacktheiten des Zeitalters, von denen sich Baco ziemlich frei zu erhalten wußte. Seine »spiritus« haben keine Hände und Füße. Auffallend genug bleibt es aber, wie kolossalen Mißbrauch der »Wiederhersteller der Naturwissenschaften« mit seinen Geistern in der Naturerklärung treiben konnte, ohne schon von den kundigeren Zeitgenossen entlarvt zu werden. Doch das ist unsere Geschichte. Man kann anfassen wo man will, so wird man ähnliche Erscheinungen finden. – Was das vielfach in Frage kommende Verhältnis des Materialismus zur Sittlichkeit betrifft, so darf man unbedenklich annehmen, daß Baco bei größerer Reinheit und Festigkeit des Charakters durch die Eigentümlichkeit seines Denkens ohne Zweifel auf streng materialistische Grundsätze wäre geleitet worden. Nicht die unerschrockene Konsequenz, sondern die wissenschaftliche[206] Halbheit und Weichlichkeit zeigt sich hier wieder im Bunde mit sittlicher Entartung.

Von Descartes, dem Stammvater der entgegengesetzten Linie philosophischer Diadochen, der den Dualismus zwischen Geist und Körperwelt herstellte, und von dem berüchtigten »Cogito ergo sum« seinen Ausgangspunkt nahm, könnte es scheinen, daß er nur als Gegensatz zur materialistischen Richtung auf deren Konsequenz und Klarheit zurückgewirkt habe. Allein wie wollen wir uns dann die Tatsache erklären, daß der schlimmste der französischen Materialisten, De la Mettrie, mit aller Gewalt ein Cartesianer sein wollte, und nicht ohne seine Gründe dafür zu haben? Es findet also auch hier noch ein direkter Zusammenhang statt, den wir im folgenden erörtern wollen.

Was die Prinzipien der Forschung betrifft, so stellen sich zunächst Baco und Descartes beide negativ gegen alle bisherige Philosophie, insbesondere gegen die aristotelische; beide beginnen mit einem Zweifel an allem, aber Baco, um sich sodann an der Hand der äußeren Erfahrung zur Auffindung der Wahrheit leiten zu lassen, Descartes, um sie aus jenem Selbstbewußtsein, das ihm bei seinem Zweifel allein übrig geblieben war, durch deduktive Schlüsse herauszuarbeiten.

Hier kann kein Zweifel sein, daß der Materialismus nur auf seiten Bacos liegt, daß das System des Cartesius von jenen Grundgedanken konsequent weiter gebildet zu einem Idealismus hätte führen müssen, bei dem die gesamte Außenwelt nur als Phänomen erscheint und allein das Ich wahre Wirklichkeit hat.139 Der Materialismus ist empirisch und bedient sich des deduktiven Weges selten und erst dann, wenn ein hinlängliches Material auf induktivem Wege gewonnen ist, aus dem man alsdann durch freies Schlußverfahren zu neuen Wahrheiten gelangen kann. Descartes begann mit Abstraktion und Deduktion, und das war nicht nur nicht materialistisch, sondern auch nicht zweckmäßig; es leitete mit Notwendigkeit zu jenen offenbaren Trugschlüssen, an denen unter allen großen Philosophen vielleicht keiner so reich ist als Descartes. Allein die deduktive Methode trat einmal in den Vordergrund und damit zusammenhängend jene reinste Form aller Deduktion, in der Descartes einen ehrenhaften Platz hat noch außerhalb der Philosophie: die Mathematik. Baco mochte die Mathematik nicht wohl leiden; der Stolz der Mathematiker – vielleicht besser gesagt ihre Strenge – mißfiel ihm, und er verlangte, daß dieseWissenschaft nur[207] eine Magd der Physik sein, nicht aber sich als Herrin derselben gebärden sollte.

So ging denn auch vornehmlich von Descartes jene mathematische Richtung der Naturphilosophie aus, welche an alle Erscheinungen der Natur den Maßstab der Zahl und der geometrischen Figur anlegte. Es verdient Beachtung, daß man noch im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts die Materialisten, bevor diese letztere Bezeichnung allgemeiner geworden war, nicht selten als »mechanici« bezeichnete, d. h. als Leute, die von einer mechanischen Naturbetrachtung ausgingen. Diese mechanische Naturbetrachtung war aber ausgegangen von Descartes, befördert von Spinoza und nicht minder von Leibniz, wiewohl dieser weit entfernt ist, sich selbst zu den Anhängern dieser Richtung zu zählen.

Knüpft somit in der Hauptsache der Materialismus an Baco an, so war es doch Descartes, der dieser ganzen Betrachtungsweise der Dinge schließlich jenen Stempel des Mechanismus aufdrückte, der in De la Mettries l'homme machine am offensten hervortritt. Auf Descartes war es zurückzuführen, wenn man alle Funktionen des geistigen wie des physischen Lebens schließlich als das Produkt mechanischer Vorgänge betrachtete.

Zu einer Naturwissenschaft überhaupt hatte sich Descartes mit der leichtfertigen Folgerung verholfen, daß wir zwar an der Wirklichkeit der Dinge außer uns zweifeln müßten, daß wir jedoch schließen könnten, daß dieselben wirklich da seien, weil sonst Gott ein Betrüger sein müsse, da er uns die Vorstellung von der Außenwelt gegeben habe.

Mit diesem Salto mortale ist nun Descartes auf einmal mitten in der Natur, auf einem Felde, das er mit größerem Erfolge bearbeitete als die Metaphysik. Was die allgemeine Grundlage der Lehre von der äußeren Natur betrifft, so war Descartes dem strengen Atomismus nicht zugetan; er leugnete die Denkbarkeit der Atome. Selbst wenn es kleinste Teilchen gäbe, die auf keine Weise mehr könnten getrennt werden, so müßte doch Gott sie noch teilen können, denn ihre Teilbarkeit sei immer noch denkbar. Allein mit dieser Leugnung der Atome war er doch sehr weit entfernt davon, den aristotelischen Weg einzuschlagen. Seine Lehre von der unbedingten Ausfüllung des Raumes hat nicht nur eine ganz andere Grundlage im Begriff der Materie, sondern sie muß auch in der physikalischen Theorie eine Gestalt annehmen, welche der Atomistik nahe verwandt ist. Hier setzt er an die Stelle der Atome kleine runde Körperchen,[208] die in der Tat ebenso unverändert bleiben wie die Atome und nur begrifflich oder der Möglichkeit nach teilbar sind; an die Stelle des leeren Raumes, den die alten Atomistiker annahmen, setzte er äußerst feine Splitterchen, die bei der ersten Abrundung der Körperchen sich in den Zwischenräumen gebildet haben. Neben dieser Annahme kann man sich ernstlich fragen, ob nicht die metaphysische Theorie absoluter Raumerfüllung ein bloßer Notbehelf ist, um einerseits nicht zu weit von der orthodoxen Ansicht abzuweichen, anderseits aber doch alle die Vorteile für eine anschauliche Erklärung der Naturvorgänge zu haben, welche die Atomistik darbietet. Decartes erklärte ferner ausdrücklich die Bewegung der Teilchen wie die der Körper aus bloßer Übertragung nach den Gesetzen des mechanischen Stoßes. Er nannte zwar die allgemeine Ursache aller Bewegung Gott; im besonderen aber sind nach ihm alle Körper mit einer bestimmten Bewegung behaftet und jeder Naturvorgang besteht ohne Unterschied des Organischen und des Unorganischen nur aus Übertragung der Bewegung eines Körpers an andere. Hier waren alle mystischen Naturerklärungen mit einem Male beseitigt, und zwar durch das gleiche Prinzip, welchem auch die Atomistiker folgten.

Hinsichtlich der menschliche Seele, des Punktes, um den sich im achtzehnten Jahrhundert alle Streitigkeiten drehten, war Baco im Grunde auch Materialist. Er nahm zwar die anima rationalis an, jedoch nur aus religiösen Gründen, für begreiflich hielt er sie nicht. Die anima sensitiva aber, die er allein einer wissenschaftlichen Behandlung fähig erachtete, betrachtete Baco im Sinne der Alten als einen feinen Stoff. Überhaupt anerkannte Baco gar nicht die Denkbarkeit einer immateriellen Substanz, und zu der Anschauung der Seele als der Form des Körpers im aristotelischen Sinne stimmte seine ganze Denkweise nicht.

Obwohl nun gerade hier der Punkt war, wo Descartes dem Materialismus am schroffsten gegenüberzustehen schien, so ist es dennoch gerade auch auf diesem Gebiete, wo die Materialisten von ihm höchst folgenschwere Prinzipien entnahmen.

Descartes machte in seiner Korpuskulartheorie keinen wesentlichen Unterschied zwischen der organischen und der unorganischen Natur. Die Pflanzen waren Maschinen, und von den Tieren gab er, wenn auch nur unter der Form einer Hypothese, zu verstehen, daß er sie in der Tat auch für bloße Maschinen halte.

Nun beschäftigte sich aber gerade das Zeitalter Descartes' auch[209] sehr lebhaft mit der Tierpsychologie. In Frankreich namentlich hatte einer der gelesensten und einflußreichsten Schriftsteller, der geistreiche Skeptiker Montaigne,140 den verwegenen Satz populär gemacht, daß die Tiere so viel und oft mehr Vernunft zeigen als die Menschen. Was aber Montaigne in Form einer Apologie des Raymund von Sabunde leicht hinwarf, das machte Hieronymus Rorarius zum Gegenstande eines besonderen im Jahre 1648 von Gabriel Naudäus herausgegebenen Werkes, das den Titel führt: »quod animalia bruta saepe ratione utantur melius homine.«141

Dieser Satz schien dem des Descartes schnurstracks zu widersprechen, aber es fand sich dennoch die Synthesis beider, daß die Tiere Maschinen seien und dennoch dächten. Der Schritt vom Tiere zum Menschen war alsdann nur noch klein, und zum Überflusse hatte auch hier Descartes in einer Weise vorgearbeitet, welche ihn als unmittelbaren Vorläufer des ausgesprochenen Materialismus erscheinen läßt. In seiner Schrift: »Passiones animae« macht er auf den wichtigen Umstand aufmerksam, daß der tote Körper nicht etwa nur tot ist, weil ihm die Seele fehlt, sondern weil die körperliche Maschine selbst teilweise zerstört ist.142 Wenn man bedenkt, daß die ganze Bildung des Seelenbegriffes bei den Naturvölkern aus der Vergleichung des lebenden und toten Körpers hervorgeht und daß die Unkenntnis der physiologischen Vorgänge im sterbenden Körper eine der stärksten Stützen der Annahme des »Seelengespenstes« ist, d. h. jenes feineren Menschen, den die Volkspsychologie als treibende Kraft im Inneren des Menschen voraussetzt, so wird man schon in diesem einzigen Punkte einen wichtigen Beitrag zur Durchführung des anthropologischen Materialismus erkennen. Nicht minder wichtig ist die unumwundene Anerkennung der großen Entdeckung Harveys von der Zirkulation des Blutes.143 Damit war die ganze aristotelisch-galenische Physiologie gestürzt, und wenn auch Descartes die »Lebensgeister« beibehielt, so werden sie doch bei ihm gänzlich frei von jener mystischen Doppelstellung zwischen Materie und Geist und von den unfaßbaren Beziehungen der Sympathie und Antipathie zu halb sinnlichen und halb übersinnlichen »Geistern« aller Art. Bei Descartes sind die Lebensgeister echte, materiell gedachte Materie, konsequenter gefaßt, als Epikurs Seelenatome mit ihrem Zusatz von Willkür. Sie bewegen sich und wirken Bewegung, ganz wie bei Demokrit, ausschließlich nach mathematisch-physikalischen Gesetzen. Ein Mechanismus von Druck und Stoß, den Descartes mit großem Scharfsinn durch[210] alle übrigen Stufen verfolgt, bildet eine ununterbrochene Kette von Wirkungen der Außendinge durch die Sinne auf das Gehirn und vom Gehirn durch Nerven und Muskelfasern wieder nach außen. Bei diesem Stand der Sache kann man sich ernstlich fragen, ob nicht De la Mettrie am Ende gar recht gehabt habe, als er sich für seinen Materialismus auf Descartes berief und behauptete, der schlaue Philosoph habe seiner Theorie nur um der Pfaffen willen noch eine Seele angeflickt, die eigentlich ganz überflüssig sei. Wenn wir nicht so weit gehen, so ist es namentlich die unverkennbare Bedeutung, welche die idealistische Seite in Descartes' Philosophie hat, was uns davon abhält. So bedenklich es auch steht um die Ableitung des »cogito ergo sum« und so schreiend auch die logischen Sprünge und Widersprüche sind, mit denen der sonst so klar denkende Mann von hier aus die Welt zu konstruieren sucht, so hat doch der Gedanke, die ganze Summe der Erscheinungen als Vorstellung eines immateriellen Subjektes zu fassen, eine Bedeutung, welche dem Urheber desselben am wenigsten entgehen konnte. Was Descartes fehlt, ist im Grunde genau das, was Kant geleistet hat: die Herstellung einer haltbaren Verbindung zwischen einer materialistisch begriffenen Natur und einer idealistischen Metaphysik, welche diese ganze Natur als eine bloße Summe von Erscheinungen in einem seiner Substanz nach unbekannten Ich betrachtet. Es ist aber psychologisch sehr wohl möglich, daß Descartes die beiden Seiten der Erkenntnis, welche im Kantianismus harmonisch verbunden erscheinen, jede für sich, so sehr sie sich in dieser Vereinzelung zu widersprechen scheinen, klar erfaßt hatte und um so zäher festhielt, je mehr er sich genötigt sah, sie durch einen künstlichen Kitt von gewagten Sätzen zusammenzuhalten.

Übrigens hat Descartes selbst die ganze metaphysische Theorie, an welche sich jetzt hauptsächlich sein Name heftet, ursprünglich gar nicht für so wichtig gehalten, während er seinen naturwissenschaftlichen und mathematischen Forschungen und seiner mechanischen Theorie aller Naturvorgänge den höchsten Wert beilegte.144 Als aber sein neuer Beweis für die Immaterialität der Seele und für das Dasein Gottes unter seinen vom Skeptizismus beunruhigten Zeitgenossen so großen Beifall fand, ließ Descartes es sich gern gefallen, als großer Metaphysiker zu gelten und wandte diesem Teil seiner Lehre steigende Sorgfalt zu. Ob sein ursprüngliches System des Kosmos dem Materialismus etwa noch näher gestanden als seine spätere Lehre, wissen wir nicht, da er bekanntlich aus[211] Furcht vor dem Klerus sein bereits fertig ausgearbeitetes Werk zurückzog und völlig umarbeitete. Sicher ist nur, daß er – seiner besseren Überzeugung entgegen – die Lehre von der Umdrehung der Erde aus demselben entfernte.145[212]

117

Prantl, Gesch. d. Logik III, S. I bemerkt, es könne nicht oft genug hervorgehoben werden, »daß das sogenannte Wiedererwachen des Altertums für Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften größtenteils bereits im 13. Jahrhundert, eben durch das Bekanntwerden des Aristoteles und der arabischen Literatur stattfand.«

118

Die hierher gehörigen Tatsachen findet man eingehend mitgeteilt in Renans Averroès (Paris 1852) II, 2. u. 3. Eine übersichtliche Zusammenstellung alles dessen, was sich speziell auf die Lehre von der zweifachen Wahrheit bezieht, enthält Maywald, die Lehre von der zweifachen Wahrheit, ein Versuch der Trennung von Theologie und Philosophie im Mittelalter. Berlin 1871.

119

Maywald, zweif. Wahrh., S. 11. – Renan, Averroès, p. 219.

120

Maywald, S. 13; Renan, p. 208, woselbst auch nach Hauréau, philos. scholast., Bemerkungen über den Zusammenhang des englischen Averroismus mit der Franziskanerpartei.

121

Renan, Averroès, p. 258: »Le mouvement intellectuel du nord-est de l'Italie, Bologne, Ferrare, Venise, se rattache tout entier a celui de Padoue. Les universités de Padoue et de Bologne n'en font réellement qu'une, au moins pour l'enseignement philosophique et médical. C'étaient les mêmes professeurs qui, presque tous les ans, émigraient de l'une a l'autre, pour obtenir une augmentation de salaire. Padoue d'un autre cote, n'est que le quartier latin de Venise; tout ce qui s'enseignait a Padoue, s'imprimait a Venise.«

122

Renan, Averroès, p. 257 u. 326 u. ff.

123

Renan, Averoès, p. 283.

124

Kap. XIII und XIV. Im letzten Kap. (XV) ist dann nur noch die Unterwerfung unter das Urteil der Kirche ausgesprochen: es sprechen keine natürlichen Gründe für die Unsterblichkeit; also beruht dieselbe einzig auf der Offenbarung. Die stärksten Stellen finden sich von S. 101 bis gegen Schluß in der Ausgabe von Bardili (Tübingen 1791); S.118 u. ff. einer Ausgabe ohne Druckort, 1534. Die älteren Ausgaben kenne ich nicht. – Die in der ersten Auflage mitgeteilten Stellen waren entnommen aus M. Carriere, die philos. Weltanschauung der Reformationszeit, Stuttg. u. Tüb. 1847. Dieselben sind zwar im wesentlichen sinngetreu, aber doch freier als nötig und die etwas pathetisch gehobene Sprache ist dem Originale fremd.

125

Vgl. Machiavelli, Erörter. über d. 1. Dekade des T. Livius, übers. von Dr. Grützmacher, Berlin 1871, S. 41.

126

Maywald, Lehre von d. zweif. Wahrh. S. 45 u. ff.

127

Prantl, Gesch. der Logik im Abendl. IV, S. 2 u. f.

128

Vgl. Lorenzo Valla, ein Vortrag von J. Vahlen. Berlin 1870. S. 6 u. f.

129

Die sämtlichen hier genannten psychologischen Werke des Reformationszeitalters sind in einem Bande zusammen gedruckt bei Jakob Gesner in Zürich 1563 erschienen; die drei erstgenannten auch in Basel. – Vgl. die Artikel Seelenlehre und Vives in der Enzykl. des ges. Erzieh.- und Unterrichtswesens.

130

Vgl. Humboldts Kosmos II, S. 344 und Anm. 22 auf S. 497 u. f.

131

Humboldts Kosmos II, S. 345, »Es ist eine irrige und leider noch in neuerer Zeit sehr verbreitete Meinung, daß Kopernikus aus Furchtsamkeit und in der Besorgnis priesterlicher Verfolgung die planetarische Bewegung der Erde und die Stellung der Sonne im Zentrum des ganzen Planetensystems als eine bloße Hypothese vorgetragen habe, welche den astronomischen Zweck erfülle, die Bahn der Himmelskörper bequem der Rechnung zu unterwerfen, ›aber weder wahr, noch auch nur wahrscheinlich zu sein brauche.‹ Allerdings liest man diese seltsamen Worte in dem anonymen Vorbericht, mit dem des Kopernikus Werk anhebt, und der ›de hypothesibus hujus operis‹ überschrieben ist; sie enthalten aber Äußerungen, welche, dem Kopernikus ganz fremd, in geradem Widerspruch mit seiner Zuneigung an den Papst Paul III. stehen.« Der Verfasser des Vorberichts ist nach Gassendi Andreas Osiander; wohl nicht, wie Humboldt sagt, »ein damals in Nürnberg lebender Mathematiker«, sondern der bekannte lutherische Theologe. Die astronomische Revision des Drucks besorgte ohne Zweifel Johannes Schoner, Professor der Mathematik und Astronomie in Nürnberg. Ihm und Osiander trug Rhäticus, Professor in Wittenberg und Schüler des Kopernikus, die Besorgung des Drucks auf, weil er Nürnberg für »geeigneter« für die Herausgabe hielt, als Wittenberg (Humboldts Kosmos, Anm. 24 zu obiger Stelle; II, S. 498). Bei diesen Vorgängen spielte aller Wahrscheinlichkeit nach die Rücksicht auf Melanchthon eine wesentliche Rolle; denn dieser trieb Astronomie und Astrologie mit Vorliebe und war einer der eifrigsten Gegner des Kopernikanischen Systems. – In Rom war man damals freier, und es bedurfte erst des Jesuitenordens, bis die Verbrennung Giordano Brunos und der Prozeß gegen Galilei möglich wurden. In Beziehung auf diese Änderung bemerkt Ad. Franck in seiner Rezension zu Martin, Galilée (Moralistes et philosophes, Paris 1872, p. 153): »Chose étrange! le double mouvement de la terre avait déjà été enseigne, au XV. siècle, par Nicolas de Cus, et cette proposition ne l'avait pas empêché de devenir cardinal. En 1533, un Allemand, du nom de Widmannstadt, avait soutenu la même doctrine a Rome, en présence du pape Clément VII, et le souverain pontife, en témoignage de sa satisfaction, lui fit présent d'un beau manuscrit grec. En 1543, un autre pape, Paul III., acceptait la dédicace de l'ouvrage ou Copernic développait son système. Pourquoi donc Galilée soixante et dix ans plus tard, rencontrait-il tant de résistance, soulevait-il tant de colères?« Der Kontrast ist glücklich hervorgehoben, dagegen die Lösung sehr unglücklich, wenn Franck meint, der Unterschied liege darin, daß Galilei sich nicht mit rein mathematischen Abstraktionen begnügt, sondern (mit einem geringschätzigen Seitenblick auf die Spekulationen Keplers!) Beobachtung, Erfahrung und Augenschein zu Hilfe genommen habe. In der Tat arbeiteten Kopernikus, Kepler und Galilei bei aller Verschiedenheit des Charakters und der Anlage durchaus im gleichen Geiste der wissenschaftlichen Aufklärung, des Fortschrittes und der Durchbrechung hemmender Vorurteile, ohne Rücksicht auf die Schranke zwischen der Gelehrtenwelt und dem Volke. Wir wollen daher nicht unterlassen noch folgende, auch den Verfasser ehrende Stelle aus Humboldts Kosmos (II, S. 346) hervorzuheben: Der Gründer unsres jetzigen Weltsystems war durch seinen Mut und die Zuversicht, mit welcher er auftrat, fast noch ausgezeichneter als durch sein Wissen. Er verdient in hohem Grade das schöne Lob, das ihm Kepler gibt, wenn er ihn in der Einleitung zu den Rudolphinischen Tafeln »den Mann freien Geistes« nennt: »vir fuit maximo ingenio et, quod in hoc exercitio (in der Bekämpfung der Vorurteile) magni momenti est, animo liber.« Da, wo Kopernikus in der Zuneigung an den Papst die Entstehung seines Werkes schildert, steht er nicht an, die auch unter den Theologen allgemein verbreitete Meinung von der Unbeweglichkeit und der Zentralstellung der Erde ein »absurdes acroama« zu nennen und die Stupidität derer anzugreifen, welche einem so irrigen Glauben anhingen. »Wenn etwa leere Schwätzer (mataiologoi), alles mathematischen Wissens unkundig, sich doch ein Urteil über sein Werk anmaßen wollten durch absichtliche Verdrehung irgendeiner Stelle der Heiligen Schrift (propter aliquem locum scripturae male ad suum propositum detortum), so werde er einen solchen verwegenen Angriff verachten!«

132

Bei diesem Anlaß sei noch gestattet eine Bemerkung zu der Erwähnung von Kopernikus und Aristarch von Samos auf S. 93 nachzutragen. Daß Kopernikus die Ansicht des letzteren gekannt, ist (nach Humboldt, Kosmos, II, S. 349 u. f.) nicht unwahrscheinlich; er bezieht sich jedoch ausdrücklich auf 2 Stellen aus Cicero (Acad. Quaest. IV, 39) und aus Plutarch (de placitis philos. III, 13), durch welche er veranlaßt worden sei, über die Beweglichkeit der Erde nachzudenken. Bei Cicero wird die Meinung des Hicetas aus Syrakus erwähnt, bei Plutarch die Pythagoreer Ekphantus und Herakleides. Die Anregung durch Gedanken des griechischen Altertums steht also durch Kopernikus' eigne Aussagen fest, doch erwähnt derselbe Aristarch von Samos nirgends. – Vgl. Humboldts a. a. O. und Lichtenberg, Nikolaus Kopernikus, im V. Band der Vermischten Schriften (Neue Original-Ausgabe. Göttingen 1844), daselbst S. 193 u. f.

133

Bruno zitiert nicht nur den Lucrez mit Vorliebe, sondern ahmt ihn auch in seinem Lehrgedicht »de universo et mundis« geflissentlich nach. Seine »Polemik gegen die aristotelische Kosmologie« behandelt Hugo Wernecke (Leipziger Dissert., gedruckt Dresden 1871).

134

Diese Stelle ist entnommen aus M. Carriere, die philos. Weltansch. der Reformationszeit in ihren Bez. zur Gegenwart, Stutt. u. Tüb. 1847. In diesem gedankenreichen Werke ist Bruno mit besonderer Vorliebe behandelt. – Vgl. noch Bartholmèß, Jordano Bruno, Paris 1846 u. f. 2 Bde.

135

Carriere, Weltansch. der Reformationszeit, S. 384. – Diese, schon von den arabischen Philosophen benutzte Unterscheidung der ethischen Absicht der Bibel von ihrer an die Ansichten der Zeit sich anschließenden Ausdrucksweise findet sich auch bei Galilei wieder in s. Briefe an die Großherzogin Christine: »de sacrae scripturae testimoniis in conclusionibus mere naturalibus, quae sensata experientia et necessariis demonstrationibus evinci possunt, temere non usurpandis.«

136

In dieser Hinsicht konnte das vernichtende Urteil Liebigs (»Über Francis Baco von Verulam und die Methode der Naturforschung, München 1863«) durch keine Entgegnung (s. d. Literatur bei Ueberweg, Grundriß, III, 3. Aufl. S. 39) gemildert werden; die Tatsachen sind zuschlagend. Leichtfertigsten Dilettantismus in den eignen naturwissenschaftlichen Versuchen, Herabwürdigung der Wissenschaft zum heuchlerischen Hofdienst, Unkenntnis oder Verkennung der großen naturwissenschaftlichen Errungenschaften eines Kopernikus, Kepler, Galilei, welche nicht auf die »instauratio magna« gewartet hatten, hämische Anfeindung und Herabsetzung wirklicher Naturforscher in seiner nächsten Umgebung, wie Gilbert und Harvey – das sind Momente genug, um Bacos wissenschaftlichen Charakter in ebenso schlimmem Lichte erscheinen zu lassen, wie seinen politischen und persönlichen, so daß die schon von Kuno Fischer (Baco von Verulam, Leipzig 1856, S. 5 ff.) mit Recht bekämpfte Auffassung Macaulays (Crit and hist. essays, III) jeden Halt verloren hat. Minder einfach ist das Urteil über Bacos Methode. Hier hat Liebig ohne Zweifel das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wiewohl seine kritischen Bemerkungen zur Theorie der Induktion (vgl. auch »Induktion und Deduktion«, München 1865) höchst wertvolle Beiträge zu einer vollständigen Theorie der naturwissenschaftlichen Methode liefern. Es verdient doch ernstere Beachtung, daß so besonnene und kenntnisreiche Methodiker, wie W. Herschel (Einl. in d. Studium der Naturwissensch., übers. v. Weinlig, Leipzig 1836) und Stuart Mill noch Bacos Theorie der Induktion als erste, wenn auch unvollkommene Grundlage ihrer eignen Theorie anerkennen. Zwar hat man sich mit vollem Recht in neuerer Zeit auch der methodologischen Vorläufer Bacos wie Leonardo da Vinci, Ludwig Vives und besonders Galilei wieder erinnert, doch muß man sich auch hier vor Übertreibungen hüten, wie z.B. bei Ad. Franck, moralistes et philosophes, Paris 1872, p. 154: »La méthode de Galilée, antérieure a celle de Bacon et de Descartes, leur est supérieure a toutes deux.« – Ferner darf man die einfache Tatsache nicht übersehen, daß Bacons großer Ruf nicht etwa aus einem späteren historischen Mißgriff hervorgegangen, sondern durch eine stetige Tradition von seinen Zeitgenossen bis auf uns gekommen ist. Dies läßt auf den Umfang und die Tiefe seiner Wirkung schließen, und diese Wirkung kam bei allen Schwächen seiner Lehre doch im wesentlichen dem naturwissenschaftlichen Fortschritt und der Geltung der Naturwissenschaften im Leben zugute. Mag man nun dabei neben der geistreichen Schreibweise und den zündenden Lichtblitzen in Bacos Werken auch die Autorität seines hohen Ranges und den Umstand, daß er mit glücklichem Griff der Zeit ihr natürliches Losungswort gab, in Anschlag bringen, so wird doch dadurch seine historische Bedeutung nicht beeinträchtigt.

137

Vgl. folgende Stelle am Schluß des physiologischen Teils (S. 590 der Zürcher Ausg.): »Galenus inquitde anima hominis: hos spiritus aut animam esse, aut immediatum instrumentum animae. Quod certe verum est, et luce sua superant solis et omnium stellarum lucem. Et quod mirabilius est, his ipsis spiritibus in hominibus piis miscetur ipse divinus spiritus, et efficit magis fulgentis divina luce, ut agnitio Dei sit illustrior et assensio firmior, et motus sint ardentiores erga Deum. – E contra, ubi diaboli occupant corda, suo afflatu turbant spiritus in corde et in cerebro, impediunt judicia, et manifestos furores efficiunt, et impellunt corda et alia membra ad crudelissimos motus.« Vgl. Corpus reformatorum XIII p. 88 u. f.

138

Vgl. die von Schaller, Gesch. der Naturphilos. Leipzig 1841, S. 77-80 zusammengestellten Auszüge.

139

In den Mémoires pour l'histoire des sciences et des beaux arts, Trevoux et Paris, 1713, p. 922 wird, jedoch ohne Nennung des Namens, ein in Paris lebender »Malebranchist« erwähnt, der für die wahrscheinlichste Ansicht halte, daß er selbst das einzige geschaffene Wesen sei.

140

Montaigne ist zugleich einer der gefährlichsten Gegner der Scholastik und der Begründer des französischen Skeptizismus. Die hervorragenden Franzosen des 17. Jahrhunderts standen fast alle unter seinem Einflusse, Freund und Feind ohne Unterschied; ja man findet sogar, daß er auf Gegner seiner heitern, etwas frivolen Weltanschauung, wie z.B. auf Pascal und die Männer von Port Royal eine bedeutende Wirkung ausgeübt hat.

141

Das Werk des Hieronymus Rorarius hat volle hundert Jahre auf die Veröffentlichung geharrt und ist also der Entstehung nach älter als die Essais von Montaigne. Es zeichnet sich aus durch einen herben und ernsthaften Ton und geflissentliche Hervorhebung gerade solcher Vorzüge der Tiere, welche ihnen als Leistungen der »höheren Seelenvermögen« am allgemeinsten abgesprochen werden. Mit den Tugenden derselben werden die Laster der Menschen in scharfen Kontrast gesetzt. Es ist daher begreiflich daß das Manuskript, wiewohl von einem mit Papst und Kaiser befreundeten Geistlichen herrührend, so lange auf Veröffentlichung warten mußte. – Der Herausgeber, Naudäus, war ein Freund Gassendis, welcher ebenfalls im Gegensatze zu Descartes, die Fähigkeiten der Tiere hoch anschlägt.

142

Passiones animae, art. V: »Errorem esse credere animam dare motum et calorem corpori« und art. VI »Quaenam differentia sit inter corpus vivens et cadaver«.

143

Über den allgemeinen Widerspruch, auf welchen Harveys große Entdeckung stieß, und die Bedeutung der Zustimmung Descartes' vgl. auch Buckle, hist. of civilisation in England, ch. VIII; II, p. 274 der Brockhausschen Ausgabe.

144

Dies geht klar genug aus einer Stelle seiner Abhandlung von der Methode I, p. 191 u. f. der Ausg. von Victor Cousin, Paris 1824. Kuno Fischer René Descartes' Hauptschriften, Mannh. 1863, S. 56 u. f. »obwohl mir meine Spekulationen wohl gefielen, so glaubte ich, daß die anderen auch welche hätten, die ihnen vielleicht mehr gefielen. Sobald ich aber einzige allgemeine Begriffe in der Physik erreicht und bei ihrer ersten Anwendung auf verschiedene besondere Probleme gemerkt hatte, wie weit sie reichten und wie sehr sie sich von den bisher gebräuchlichen unterschieden, so meinte ich, damit nicht im Verborgenen bleiben zu dürfen, ohne gegen jenes Gesetz im großen zu sündigen, das uns verpflichtet, für das allgemeine Wohl aller Menschen, soviel an uns ist, zu sorgen. Denn diese Begriffe haben mir die Möglichkeit gezeigt, Ansichten zu gewinnen, die für das Leben sehr fruchtbringend sein würden, und statt jener theoretischen Schulphilosophie eine praktische zu erreichen, wodurch wir die Kraft und die Tätigkeiten des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, der Himmel und aller übrigen uns umgebenden Körper ebenso deutlich als die Geschäfte unserer Handwerker kennen lernen würden« usw.; vgl. Anm. 17 zum folgenden Abschnitt.

145

Über Descartes' persönlichen Charakter sind sehr verschiedene Stimmen laut geworden. Es fragt sich namentlich, ob ihn sein Ehrgeiz als großer Entdecker zu gelten und seine Eifersucht gegen andere hervorragende Mathematiker und Physiker nicht bisweilen über die Grenzen des Ehrenhaften hinausgeführt haben. Vgl. Whewell, hist. of the induct. sciences II, p. 379 (368 u. f. in der Übersetzung von Littrow) über seine angebliche Benutzung und Verheimlichung der Entdeckung des Refraktionsgesetzes durch Snell und die scharfen Bemerkungen dagegen von Buckle, hist. of civil. II, p. 271 u. f. (Brockhaus), welcher Descartes übrigens in mehrfacher Hinsicht überschätzt. – Dahin gehört sein Streit mit dem großen Mathematiker Fermat, seine verkehrten und geringschätzigen Urteile über Galileis Bewegungslehre, sein Versuch, sich auf Grund einer merkwürdigen, aber keineswegs hinlänglich klaren Äußerung die Urheberschaft von Pascals großer Entdeckung des auf Bergen abnehmenden Luftdrucks zuzuwenden usw. – Über alle diese Dinge scheinen uns die Akten noch nicht geschlossen, und was seine Verleugnung der eignen Ansicht aus Furcht vor den Pfaffen anbelangt, so liegt das auf einem andern Boden. Wenn aber Buckle (im Anschlusse an Lerminier; vgl. hist. of civil. II. p. 275) Descartes mit Luther vergleicht, so muß doch auf den großen Kontrast zwischen der rücksichtslosen Offenheit des deutschen Reformators und der schlauen Umgehung des Feindes, welche Descartes in den Kampf zwischen Denkfreiheit und Unterdrückungssucht eingeführt hat, verwiesen werden. Die Tatsache, daß Descartes seine Theorie wider besseres Wissen nach der Kirchenlehre und zum Scheine sogar, soviel es gehen wollte nach Aristoteles gemodelt hat, unterliegt keinem Zweifel angesichts folgender Stellen aus seinem Briefwechsel:

An Mersenne ( Juli 1633) VI, 239 (ed. Cousin): Descartes hat mit Erstaunen von der Verurteilung eines Buches von Galilei gehört; vermutet, daß dies wegen der Bewegung der Erde sei und bekennt daß dadurch auch sein eignes Werk betroffen werde. »Et il est tellement lié avec toutes les parties de mon Traite que je ne l'en saurois détacher, sans rendre le reste tout défectueux. Mais comme je ne voudrais pour rien du monde qu'il sortit de moi un discours ou il se trouvât le moindre mot qui fût désapprouvé de l'église, aussi aimé-je mieux le supprimer que de le faire paroître estropie.« – An dens. 10. Jan. 1634, VI, 242 u. f.: »Vous savez sans doute que Galilée a été repris depuis peu par les inquisiteurs de la foi, et que son opinion touchant le mouvement de la terre a été condamne comme hérétique; or je vous dirai, que toutes les choses, que j'expliquois en mon traité, entre lesquelles étoit aussi cette opinion du mouvement de la terre, dépendoient tellement les unes des autres, que c'est assez de savoir qu'il en ait une qui soit fausse pour connoître que toutes les raisons dont je me servais n'ont point de force; et quoique je pensasse qu'elles fussent appuyées sur des démonstrations très certaines et très évidentes, je ne vondrois toutefois pour rien du monde les soutenir contre l'autorité de l'église. Je sais bien qu'on pouroit dire que tout ce que les inquisiteurs de Rome ont décidé n'est pas incontinent article de foi pour cela, et qu'il faut premièrement que le concile y ait passe; mais je ne suis point si amoureux de mes pensées que de me vouloir servir de telles exceptions, pour avoir moyen de les maintenir; et le désir que j'ai de vivre au repos et de continuer la vie que j'ai commencée en prenant pour ma devise ›bene vixit qui bene latuit‹, fait que je suis plus aise d'être délivré de la crainte que j'avois d'acquérir plus de connoissances que je ne désire, par le moyen de mon écrit, que je ne suis fâché d'avoir perdu le temps et la peine que j'ai employée a le composer.« Gegen Schluß des gleichen Briefes heißt es dagegen (p. 246): »Je ne perds pas tout-à-fait espérance qu'il n'en arrive ainsi que des antipodes, qui avoient été quasi en même sorte condamnes autrefois, et ainsi que mon Monde ne puisse voir le jour avec le temps, auquel cas j'aurois besoin moi-même de me servir de mes raisons.« Diese letztere Wendung namentlich läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Descartes kam nicht dazu, sich seines eignen Verstandes bedienen zu dürfen, und so entschloß er sich, eine neue Theorie aufzustellen, welche ihm den gewünschten Dienst leistete, einen offenen Konflikt mit der Kirche zu vermeiden.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 188-213.
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