III. Die naturwissenschaftliche Psychologie

[818] Was wird denn aber die Psychologie dazu sagen, wenn wir die innere, subjektive Seite des menschlichen Wesens vorläufig ganz in den Hintergrund stellen? Haben wir doch in unserm Jahrhundert nicht nur eine naturwissenschaftliche, sondern sogar auch eine mathematische Psychologie erhalten, und es gibt eine Reihe ganz verständiger und verdienstvoller Leute, welche allen Ernstes glauben, Herbart habe mit seinen Differenzialgleichungen die Welt der Vorstellungen so gründlich erkannt wie Kopernikus und Kepler die Welt der Himmelskörper. Das ist nun freilich eine so gründliche Selbsttäuschung wie die Phrenologie, und was die Psychologie als Naturwissenschaft betrifft, so ist mit dieser schönen Bezeichnung ein solcher Unfug getrieben worden, daß man leicht in Gefahr kommen könnte, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir werden jedoch den Anfängen einer wirklich naturwissenschaftlichen und in einzelnen Teilen selbst mathematischen Behandlungsweise psychologischer Fragen ihren vollen Wert beilegen können, ohne den oben dargelegten Standpunkt irgendwie zu verlassen.

Vor allen Dingen ist zu erwähnen, daß der Begriff der Psychologie nur für den Scholastiker oder den unwissenden Pedanten ein ganz festbegrenzter und vollständig klarer sein kann. Es haben zwar recht wackre und scharfsinnige Männer ihre angeblich naturwissenschaftlichen Untersuchungen mit einem Abschnitt vom »Wesen der Seele« begonnen; aber das ist dann eben eine Nachwirkung der hohlen scholastischen Metaphysik, wenn sie sich einbildeten, in dieser Weise eine sichere Grundlage der Untersuchung gewinnen zu können. Ausgenommen sind natürlich die Fälle, wo der Begriff der Seele nur geschichtlich oder kritisch erörtert wird. Wer aber noch positive Sätze von der Seele, wie z.B. von ihrer Einfachheit, Ausdehnungslosigkeit u. dergl. voranstellt, oder wer das Gebiet der Seelenlehre zum voraus glaubt nach allen Seiten sorgfältig einzäunen zu müssen, bevor er zu bauen anfängt, bei dem ist an eine naturwissenschaftliche Behandlung des Stoffes kaum zu denken. Was sollte man von einem Naturforscher sagen, welcher damit anfinge, sich das Wesen der Natur klar zu machen, und welcher[818] erst dann sein Forschungen für zweckdienlich halten wollte, wenn er sich zuvor genau klar gemacht, was die Natur sei? Noch deutlicher wird die Sache bei speziellen Gebieten. Hätte Gilbert seine Bernsteinstückchen nicht gerieben, bevor er über das Wesen der Elektrizität im klaren war, so würde er vermutlich nie einen wichtigen Schritt zur Erkenntnis ihres Wesens getan haben. Welcher Forscher möchte wohl heute genau bestimmen, was Magnetismus ist? Unter den Händen der Forscher gestaltet sich der Begriff um. Aus der Kraft des Magneten, das Eisen anzuziehen, wird eine allgemeine Kraft. Die Erde wird als Magnet erkannt. Der Zusammenhang mit der Elektrizität wird entdeckt. Der Diamagnetismus wird durch eine Fülle der überraschendsten Erscheinungen verfolgt. Wo wären die glänzenden Entdeckungen eines Oersted, Faraday, Plücker geblieben, wenn diese erst den Begriff des Magnetismus hätten metaphysisch ergründen und dann ihre naturwissenschaftlichen Forschungen beginnen wollen!

Es bleibt ein merkwürdiges Denkmal der philosophischen Gärung in Deutschland, daß ein so feiner Kopf wie Herbart, ein Mann von einer bewundrungswürdigen Schärfe der Kritik und von großer mathematischer Bildung, auf einen so abenteuerlichen Gedanken kommen konnte, wie der ist, das Prinzip für eine Statik und Mechanik der Vorstellungen durch Spekulation zu finden. Noch auffallender ist, daß ein so aufgeklärter, in echt philosophischer Weise dem praktischen Leben zugewandter Geist sich in die mühevolle und undankbare Arbeit verlieren konnte, ein ganzes System der Statik und Mechanik des Geistes nach seinem Prinzip auszuarbeiten, ohne irgendeine Gewähr der Richtigkeit an der Erfahrung zu haben. Wir sehen hier, wie eigentümlich die Gaben und Leistungen des Menschen zusammenhängen. Daß ein Gall durch seine große Erfahrung, seine ausgedehnten und speziellen Kenntnisse nicht vor der Erfindung der Phrenologie bewahrt werden konnte, ist uns bei dem phantasievollen, feurig schaffenden Charakter dieses Mannes leicht begreiflich; aber daß Herbart die mathematische Psychologie erfinden konnte, während er in den Eigenschaften, welche vor solchen Bahnen zu bewahren pflegen, geradezu eminent war, wird immer als ein höchst denkwürdiges Zeugnis gelten müssen für die Gewalt des metaphysischen Strudels, welcher in jener Zeit in unserm Vaterlande auch den Widerstrebenden ergriff und in die geistige Kometenbahn gegenstandloser Entdeckungen hinausschleuderte.[819]

Immerhin verdient Herbarts gewaltiges Streben eine bessere Widerlegung, als die des bloßen Nichtbeachtens. Die bisherigen Versuche einer würdigen kritischen Beseitigung der mathematischen Psychologie leiden aber an dem Mangel, daß sie sich in allerlei Ausstellungen verlieren und den logischen Elementarfehler in der Abteilung der Fundamentalformel teils gar nicht, teils mit nicht genügender Schärfe bezeichnen. Wir haben in einer besondern Abhandlung532 versucht, diese Lücke in unsrer philosophischen Literatur auszufüllen, weil unsre Verwerfung der mathematischen Psychologie nicht so ganz unbewiesen in die Welt gehen soll; an dieser Stelle aber würde die mühsame Arbeit des Beweises den Zusammenhang stören und die Übersichtlichkeit der Kritik, soweit sie sich auf den Materialismus bezieht, verwischen. Bestände die mathematische Psychologie, so müßten wir sie schon deshalb in Betracht ziehen, weil sie der sicherste Beweis für jene Gesetzmäßigkeit alles psychischen Geschehens wäre, welche der Materialismus mit Recht behauptet, und zugleich die vollständigste Widerlegung der Zurückführung alles Bestehenden auf den Stoff. Wir müßten zugleich unsre obige Darstellung des Verhältnisses zwischen Gehirn und Seele bedeutend modifizieren, da Herbarts mathematische Psychologie von seiner Metaphysik schwerlich zu trennen ist. So aber ist die mathematische Psychologie für uns nicht vorhanden, und nur in dieser hätten wir einen Grund finden können, auf eine metaphysische Grundlage der Psychologie nach Kant überhaupt noch einmal genauer einzugehen. Wenn es später einmal allgemein zugegeben ist, daß wir über den letzten Grund aller Dinge nichts wissen können; wenn man sich entschlossen hat, den Bautrieb der Spekulation unter die Kunsttriebe zu zählen, wenn man darüber einig ist – in diesem Punkt über Kant hinausschreitend, – daß der Einheitstrieb der Vernunft stets zur Dichtung führt, die der Wissenschaft nur indirekt zugute kommt: dann darf man auch Herbarts Metaphysik ohne Gefahr der Begriffsverwirrung wieder hervorziehen, und man wird einen Punkt in ihr entdecken, der eine merkwürdige Analogie mit den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft unsrer heutigen mathematischen Physiker darbietet. Das wirklich existierende ist nach Herbart eine Vielheit von einfachen Wesen, welche sich jedoch von Leibniz' Monaden sehr wesentlich unterscheiden. Diese bringen die ganze Welt – als Vorstellung – aus sich hervor, Herbarts »Reale« dagegen sind für sich genommen ganz vorstellungslos; sie[820] wirken aber aufeinander ein und sie streben diese Einwirkungen von sich abzuwehren. Die Seele ist ein solches einfaches Wesen, ein »Reales«, welches mit andern einfachen Wesen in Konflikt gerät. Ihre Akte der Selbsterhaltung sind Vorstellungen. Wie ohne Druck kein Gegendruck, so würde ohne Störung kein Vorstellen sein. Neu ist hier jedenfalls und für zukünftigen metaphysischen Hausgebrauch beachtenswert die Anschauung, nach welcher das Wesen der Seelentätigkeit in einer Rückwirkung auf eine äußere Einwirkung besteht. Man muß damit notwendig die Ansicht der neueren Molekular-Theoretiker vergleichen, nach welcher der Begriff einer Kraft dem einzelnen Atom durchaus nicht zukommt und eben nur in der Wechselbeziehung mehrerer Atome statthat. Herbart ist freilich nie darüber ins klare gekommen, daß er konsequenterweise hätte sagen müssen, daß alle Vorstellungen nicht in der »Seele«, dem einfachen Wesen, liegen, sondern daß sie Wechselbeziehungen sind zwischen den einzelnen Realen, wie die physikalischen Kräfte zwischen den Atomen. Mit dieser Konsequenz seiner Grundanschauung hätte Herbart zahllose Widersprüche vermieden, die sich daraus ergaben, daß die Seele einfach und unveränderlich, ohne alle inneren Zustände sein und doch die Vorstellungen in sich tragen sollte. Er erhält dadurch eine Art von Unsterblichkeit der Seele, die aber einem ewigen Tode gleichkommt, wenn sich keine andern einfachen Wesen finden, die mit ihr in eine so enge Wechselwirkung treten wie die Bestandteile des Leibes. Das heißt einen hohlen Begriff teuer bezahlen.

Da aus Herbarts Schule gerade die Bestrebungen großenteils hervorgegangen sind, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu gründen, so ist es oft von Interesse, die versteckten Widersprüche hervorzuziehn, mit welchen die Annahme einer absolut einfachen und dennoch vorstellenden Seele notwendig verbunden ist. Das absolut Einfache ist auch keiner inneren Veränderung fähig, weil wir uns diese nur in der Form wechselnder Ordnung der Teile denken können. Deshalb sagt Herbart auch nicht, daß die Realen aufeinander wirken, sondern daß sie Einwirkungen voneinander erleiden würden, wenn sie diesen nicht durch einen Akt der Selbsterhaltung Widerstand leisteten. Als ob damit etwas andres gesagt werden könnte, als mit der Annahme einer einfachen Wechselwirkung! Waitz legt in seiner Psychologie (S. 81) viel Wert auf den Unterschied zwischen Dispositionen zu einem Zustand und wirklichen Zuständen. So geht es in der Metaphysik. Zustände darf die[821] Seele nicht haben; beileibe nicht, sonst ginge ja ihre absolute Einheit verloren! Aber Dispositionen, das ist ganz etwas andres; »Strebungen«, warum nicht? Der Metaphysiker widerlegt mit einem enormen Aufwand von Scharfsinn alle möglichen andern Ansichten, und wo er seine eigne Meinung entwickelt, schießt er einen logischen Purzelbaum von der gewöhnlichsten Sorte. Jeder andre sieht, daß eine Disposition zu einem Zustand auch ein Zustand ist, daß Selbsterhaltung gegen eine drohende Einwirkung nicht ohne eine, wenn auch noch so feine wirkliche Einwirkung denkbar ist. Der Metaphysiker sieht dies nicht. Er hat sich mit seiner Dialektik an den Rand des Abgrundes getrieben, alle Begriffe hundertmal herumgewendet, hervorgezogen, weggeworfen, und endlich muß durchaus und durchaus etwas gewußt werden. Also die Augen zugedrückt und den Salto mortale herzhaft gemacht – von den Höhen der schärfsten Kritik hinab in die allergewöhnlichste Verwechslung von Wort und Begriff! Ist dies gelungen, dann geht es munter weiter. Je mehr Widersprechendes in die erste Grundlegung aufgenommen wird, desto freier läßt sich schließen, wie man denn, bekanntlich aus mathematischen Sätzen, welche den Faktor Null in versteckter Weise enthalten, oft die merkwürdigsten Dinge ableiten kann.

Herbart hat selbst einmal gesagt, daß uns statt einer Geschichte der Psychologie wie F. A. Carus sie geschrieben, vielmehr eine Kritik der Psychologie not täte.533 Wir fürchten, wenn diese jetzt geschrieben würde, dürfte von der ganzen vermeintlichen Wissenschaft nicht viel übrigbleiben.

Dennoch ist die naturwissenschaftliche Psychologie in ihren ersten Anfängen vorhanden, und zwar bildet die Schule Herbarts für Deutschland ein wichtiges Glied der Übergangsepoche, obwohl sich hier die Wissenschaft erst mühsam von der Metaphysik loszuringen beginnt. Waitz, ein scharfsinniger Denker, der aber offenbar, wie es Privatdozenten und außerordentlichen Professoren zu gehen pflegt, viel zu früh zu schreiben begann, und so gleichsam mitten im Fluß der Entwicklung erstarrte, machte sich von Herbart so weit los, daß er die mathematische Psychologie in eine angebliche Hypothese über das Wesen der Seele umschuf. Damit ist denn aber freilich nur wenig gewonnen. Klare Hypothesen zu haben statt unklarer und widersinniger Dogmen, wäre schon ein großer Fortschritt; aber was soll uns eine Hypothese über das Wesen der Seele, oder auch nur eine Hypothese über das Vorhandensein[822] einer Seele, solange wir noch so wenig Genaues über die einzelnen Erscheinungen wissen, auf welche sich doch jede exakte Forschung zunächst erstrecken muß? In den wenigen Erscheinungen, welche einer genaueren Beobachtung bisher zugänglich gemacht sind, liegt nicht die mindeste Veranlassung, eine Seele, in irgendwelchem näher bestimmten Sinne, überhaupt anzunehmen, und der versteckte Grund zu dieser Annahme liegt eigentlich immer nur in der Überlieferung oder in dem stillen Drang des Herzens, dem verderblichen Materialismus entgegenzutreten. Dadurch wird denn ein doppeltes Unheil angerichtet. Die naturwissenschaftliche Psychologie wird verpfuscht und verfälscht; die Rettung und Stärkung des Idealen aber, das man durch den Materialismus bedroht glaubt, wird versäumt, weil man Wunder was geleistet zu haben wähnt, wenn man für das alte Fabelwesen der Seele einen neuen Schimmer von Beweisführung vorbringt.

»Aber heißt denn Psychologie nicht Lehre von der Seele? Wie ist denn eine Wissenschaft denkbar, welche es zweifelhaft läßt, ob sie überhaupt ein Objekt hat?« Nun, da haben wir wieder ein schönes Pröbchen der Verwechslung von Namen und Sache! Wir haben einen überlieferten Namen für eine große, aber keineswegs genau abgegrenzte Gruppe von Erscheinungen. Dieser Name ist überliefert aus einer Zeit, in welcher man die gegenwärtigen Anforderungen strenger Wissenschaft noch nicht kannte. Soll man ihn verwerfen, weil das Objekt der Wissenschaft sich geändert hat? Das wäre unpraktische Pedanterei. Also nur ruhig eine Psychologie ohne Seele angenommen! Es ist doch der Name noch brauchbar, solange es hier irgend etwas zu tun gibt, was nicht von einer andern Wissenschaft vollständig mit besorgt wird.534 Freilich sind die Grenzen gegen die Psychologie nicht leicht zu ziehen. Das schadet aber auch gar nichts. Wenn dieselben Entdeckungen auf zwei verschiednen Wegen gemacht werden, so ist ihr Wert um so größer. Doch genauer läßt sich dies Verhältnis erst einsehen, wenn wir die Frage nach dem Verfahren der Psychologie stellen, wo denn namentlich der berüchtigte Begriff der Selbstbeobachtung der Kritik unterliegt.

Von dem »Beobachten seiner selbst« sagt Kant, es sei eine methodische Zusammenstellung der an uns selbst gemachten Wahrnehmungen, welche den Stoff zu einem Tagebuch des Beobachters seiner selbst abgibt »und leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn hinführt«. Er warnt davor, »sich mit der Ausspähung und gleichsam[823] studierter Abfassung einer inneren Geschichte des unwillkürlichen Laufs seiner Gedanken und Gefühle durchaus nicht zu befassen«, und zwar »weil es der gerade Weg ist, in Kopfverwirrung vermeinter höherer Eingebungen und ohne unser Zutun, wer weiß woher, auf uns einfließenden Kräfte, in Illuminatismus oder Terrorismus zu geraten«. »Denn unvermerkt machen wir hier vermeinte Entdeckungen von dem, was wir selbst in uns hineingetragen haben, wie ein Bourignon oder ein Pascal, und selbst ein sonst vortrefflicher Kopf, Albrecht Haller, der bei seinem lang geführten, oft auch unterbrochenen Diarium seines Seelenzustandes zuletzt dahin gelangte, einen berühmten Theologen, seinen vormaligen akademischen Kollegen, den Dr. Leß zu befragen: ob er nicht in seinem weitläufigen Schatz der Gottesgelehrtheit Trost für seine beängstigte Seele antreffen könne.« Und weiterhin: »daß übrigens die Kenntnis des Menschen durch innere Erfahrung, weil er danach großenteils auch andre beurteilt, von großer Wichtigkeit, aber doch zugleich von vielleicht größerer Schwierigkeit sei als die richtige Beurteilung andrer, indem der Forscher seines Innern leichtlich, statt bloß zu beobachten, manches in das Selbstbewußtsein hineinträgt, macht es auch ratsam und sogar notwendig, von beobachteten Erscheinungen in sich selbst anzufangen und dann allererst zur Behauptung gewisser Sätze, die die Natur des Menschen angehen, d. i. zur inneren Erfahrung fortzugehen.«

Kant gründete deshalb seine eigne empirische Psychologie nicht auf Selbstbeobachtung, sondern wesentlich auf die Beobachtung andrer. Er hatte jedoch in seiner Kritik der reinen Vernunft dem »inneren Sinn« ein besondres Gebiet angewiesen, und der Mißbrauch dieses Tummelplatzes metaphysischer Willkür konnte nicht ausbleiben.535 Zwar die Schwärmerei und den Wahnsinn ließ man dem vorigen Jahrhundert, dessen aufgeregte Naturen dafür geeigneter waren; was aber phantastische Willkür und ruheloser Spekulationstrieb leisten können, das ist durch Hineintragen beliebiger Erfindungen in das angebliche Beobachtungsfeld des inneren Sinnes redlich geleistet worden. Ein Muster in dieser Beziehung hat uns namentlich Fortlage geboten, welcher als außerordentlicher Professor in Jena (1855) zwei dicke Bände schuf, denen er den Titel gab: »System der Psychologie als empirischer Wissenschaft aus der Beobachtung des inneren Sinns.« Zuerst macht er sich den innern Sinn zurecht, dem er eine Reihe von Funktionen zuschreibt, die sonst dem äußeren Sinn zugeschrieben wurden; dann[824] steckt er sich sein Beobachtungsfeld ab und beginnt zu beobachten. Man würde vergeblich einen Preis darauf setzen, wenn jemand in den beiden dicken Bänden eine einzige wirkliche Beobachtung auftriebe. Das ganze Buch bewegt sich in allgemeinen Sätzen mit einer Terminologie von eigner Erfindung, ohne daß je eine einzelne bestimmte Erscheinung mitgeteilt wird, von welcher Fortlage angeben könnte, wann und wo er sie gehabt hätte, oder wie man es etwa machen müßte, um sie auch zu haben. Es wird uns ganz schön beschrieben, wie z.B. bei der Betrachtung eines Blattes, sobald man die Gestalt desselben auffallend findet, diese Gestalt zum Fokus der Aufmerksamkeit wird, »wovon die notwendige Folge ist, daß die der Gestalt des Blattes nach dem Gesetz der Ähnlichkeit angeschmolzene Gestaltskala dem Bewußtsein hell wird.« Es wird uns gesagt, daß das Blatt nun »im Einbildungsraum in der Skala der Gestalten zergeht«, aber wann, wie und wo dies einmal so begegnet ist, und auf welche Erfahrung sich eigentlich diese »empirische« Erkenntnis begründet, bleibt ebenso unklar als die Art und Weise, wie der Beobachter den »innern Sinn« anwendet, und die Beweise dafür, daß er sich eines solchen Sinnes bedient, und nicht etwa seine Einfälle und Erfindungen aufs Geratewohl zum System kristallisieren läßt.

Unsres Erachtens ist zwischen innerer und äußerer Beobachtung in keiner Weise eine feste Grenze zu ziehen. Wenn der Astronom nach einem Stern sieht, so nennt man das äußere Beobachtung, sobald er aber auf den ersten Blick erkennt, daß er den Mars vor sich hat, so muß er nach Fortlage zugleich den innern Sinn gebraucht haben, denn das Auge sieht nur den hellen Punkt; der Astronom sieht sofort und ohne weiteres Nachdenken den Mars, weil er ihn kennt. Hat er nun deshalb ein andres Geistesorgan gebraucht als der Mensch, welcher nur den Stern sieht, oder das Kind, welches nur den hellen Punkt ansieht und auch von Sternen noch nichts weiß? Fortlage sagt: »Wer sich durch Studium der Musik und Anhörung meisterhafter Tonstücke zu einer erhöheten musikalischen Auffassung befähigt, der bewaffnet seinen äußeren Sinn durch den innern, und wenn er hinterher in einem Musiksatze Fehler von Schönheiten, Charakteristik von Flachheit, direkte Bewegung von Gegenbewegung, Dur von Moll sogleich im Gefühl unterscheidet, so ist das Unterscheidungsvermögen hier nicht minder ein durch den innern Sinn bewirktes und hinzugebrachtes, als wie bei einer fremden Sprache, die man erst dann versteht, wenn man sie gelernt[825] hat.« Nach unsrer Ansicht liegt ein höchst interessantes Problem zukünftiger Psychologie oder Physiologie darin, zu suchen, worauf es beruhen mag, daß die so mühsam gewonnene Verbindung zwischen Schallempfindung und andern Gehirntätigkeiten ihre Wirkung später ganz unmittelbar zu äußern scheint. Solange man keine Methode kennt, dieser Frage durch Verfolgung der eignen Empfindungen oder durch andre Mittel beizukommen, tut man gut, dabei stehen zu bleiben, daß man vermutlich in beiden Fällen mittels der Ohren hört.

Was soll man mit den Fällen anfangen, in welchen das unmittelbare Sehen jedes gesunden Auges, ohne alle besondre Ausbildung, schon eine Elimination, eine Ergänzung oder Abänderung des mechanisch hervorgebrachten Bildes bewirkt? Sieht man stereoskopisch mit dem inneren Sinn oder mit dem äußeren? Ergänzt man die Stellen des Sehfeldes, welche auf die Eintrittsstelle des Sehnerven treffen, mit dem innern Sinn? Hört man den Akkord als solchen mit dem äußeren? – Wir können aber weiter gehen und fragen: Ist es äußere Beobachtung, wenn man die Nervenenden der Haut mit zwei Zirkelspitzen berührt, die bald als einfach bald als doppelt empfunden wurden? Ist es Selbstbeobachtung, wenn man seine Aufmerksamkeit einem schmerzenden Hühnerauge zuwendet? Wenn man einen galvanischen Strom durch den Kopf gehen läßt und dabei subjektive Farben oder Töne wahrnimmt: in welches Gebiet ist das zu zählen? Mit »Innen« und »Außen« kann man von vornherein nichts ausrichten, denn ich kann überhaupt keine Vorstellungen außer mir haben, wenn auch die Theorie richtig sein sollte, nach welcher ich die wahrgenommenen Gegenstände nach Außen versetze. Sehen und Denken ist gleich innerlich und gleich äußerlich. Will ich meine Gedanken noch einmal denken, so rufe ich jene Empfindungen in den Sprachwerkzeugen hervor, welche wir oben gleichsam als den Körper des Gedankens kennen lernten. Ich empfinde sie so äußerlich als jede andre Empfindung, und was Geist, Inhalt, Bedeutung dieses Komplexes feinster Empfindungen betrifft, so verhält es sich damit nicht anders als mit dem ästhetischen Wert einer Zeichnung. Er ist von den Linien der Zeichnung nicht zu trennen, obwohl er etwas andres ist. Ein ähnlicher Gegensatz zwischen Form und Stoff der Empfindung kommt aber in unzähligen Abstufungen immer wieder vor, ohne daß ich bei einer bestimmten Klasse von Empfindungen auf einmal behaupten könnte, daß hier das Innere anfängt und das Äußere aufhört.[826]

Wie arglos definiert Fortlage, das Beobachtungsfeld der Physiologie sei der Mensch, sofern derselbe mit dem äußeren Sinn wahrgenommen wird; das der Psychologie aber der Mensch, sofern er mit dem innern Sinn wahrgenommen wird! Die meisten würden es zur Psychologie rechnen, wenn man die ersten Worte eines Kindes beobachtete, um daraus Schlüsse auf den Entwicklungsgang des Geistes zu ziehen; dagegen zur Physiologie, wenn man neugeborne Kinder mit einer Nadel sticht oder kitzelt, um die Reflexbewegungen in ihrem Übergang zur Willkür zu belauschen. Und doch braucht man zu beiden Beobachtungen die gewöhnlichen Sinne, und nach Fortlages Definition den inneren Sinn noch dazu, weil in beiden Fällen das Gesehene und Gehörte erst der entgegenkommenden Deutung bedarf. – Überhaupt ist wohl nicht gar schwer einzusehen, daß die Natur aller und jeder Beobachtung dieselbe ist, und daß der Unterschied hauptsächlich nur darin liegt, ob eine Beobachtung so beschaffen ist, daß sie von andern gleichzeitig oder später ebenfalls gemacht werden kann, oder ob sie sich jeder solchen Aufsicht und Bestätigung entzieht. Die äußere Beobachtung würde nie zu einer sichern empirischen oder gar zu einer exakten Wissenschaft geführt haben, wenn nicht jede Beobachtung hätte geprüft werden können. Die Elimination der Einflüsse vorgefaßter Ansichten und Neigungen ist das wichtigste Element des exakten Verfahrens, und dies Element gerade wird bei denjenigen Beobachtungen, die sich auf eigne Gedanken, Gefühle und Triebe richten, unanwendbar; es sei denn, daß man die eignen Gedanken etwa ganz unbefangen durch Schrift oder andre Mittel fixiert hat und nun nachträglich den Vorstellungsverlauf prüft, wie den eines Fremden. Die Wahrheit zu sagen, so ist aber wohl diese Art von Selbstbeobachtung eben ihrer vergleichsweisen Zuverlässigkeit wegen sehr wenig beliebt, und die ganze gepriesene Selbstbeobachtung scheint uns eben hauptsächlich ihrer Fehler wegen so beliebt zu sein. Denn wenn auch nicht, wie Kant befürchtete, Schwärmerei und Wahnsinn in ihrem Gefolge sind, so wird sie doch stets ein Mittel bleiben, den willkürlichsten Gebilden der Metaphysik den Schein empirischer Ableitung verleihen zu können.536

Mit vollem Recht ist daher von neueren Psychologen die gewöhnliche, streng methodische Beobachtungsweise, welche in den Naturwissenschaften so treffliche Dienste getan hat, auch auf die Psychologie angewandt worden. Hier hat Lotze durch seine »medizinische Psychologie« (1852) vortreffliche Dienste getan; aber er[827] ließ sich doch durch den Titel seines Buches nicht abhalten, den empirisch-kritischen Untersuchungen hundertundsiebzig Seiten Metaphysik voranzuschicken, welche denn auch bewirkt haben, daß die Mediziner aus diesem Buche nicht den Nutzen zogen, den sie sonst daraus hätten gewinnen können. Später empfahl sich der jüngere Fichte den Naturforschern und Ärzten mit seiner Anthropologie (1856) gleichsam als philosophischer Hausarzt und Gewissensrat. Obwohl sein Buch durch logische Schwäche und anspruchsvolle Wiederholung veralteter Irrtümer gerade bei den Naturforschern dem Ansehen der Philosophie nur geschadet hat, so hat es doch in andern Kreisen viel dazu beigetragen, den nahen Zusammenhang der Psychologie und Physiologie dem allgemeinen Bewußtsein fühlbarer zu machen. Ja, es geschah in diesen Zeiten sogar das Wunder, daß die Epigonen der Hegelschen Philosophie sich zum Teil einer nüchternen, fast naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Psychologie zuwandten. George schrieb ein tüchtiges Büchlein über die fünf Sinne; Schaller sah sich durch seinen Kampf gegen den Materialismus zur eingehenden Berücksichtigung des Physiologischen gezwungen. Später gaben beide Männer eine Psychologie heraus, und beide diese Werke lassen den Zug der Zeit nicht verkennen. Es verdient alles Lob, daß sie sich vollkommen bewußt sind, in der Hauptsache noch auf dem Boden der Spekulation zu stehen, während sie dies doch nicht mehr tun, als auch die Urheber der angeblich naturwissenschaftlichen Psychologie. Es muß dagegen immer wieder bekämpft werden, wenn die Prätension auftaucht, als sei das spekulative Wissens ein höheres und glaubwürdigeres als das empirische, zu dem es sich einfach wie eine höhere Stufe zur niederen verhalte. Mögen unsre Leser sich's nicht verdrießen lassen. Es gehört eben zu den Kernwahrheiten einer hereinbrechenden neuen Periode der Menschheit – nicht daß man, wie Comte wollte, die Spekulation abschaffe, wohl aber, daß man ihr ein für allemal ihren Platz anweise, daß man wisse, was sie für das Wissen leisten kann und was nicht.

Schaller äußert sich über das Verhältnis so: »Die Naturwissenschaft kann sich eines exakten Wissens rühmen, wenn sie sich damit begnügt, aus der Beobachtung der Erscheinungen die Gesetze derselben zu finden und die quantitativen Verhältnisse, welche unmittelbar in diesen gefundenen Gesetzen enthalten sind, zu formulieren. Natürlich steht es jedem frei, mit diesem exakten Wissen sich zu begnügen; damit resigniert er aber auch notwendig auf die[828] Beantwortung aller der Fragen, mit welchen sich von jeher die Philosophie beschäftigt hat.«537 Nun dann! Wie verschieden die Philosophie die Fragen beantwortet hat, mit denen sie sich von jeher beschäftigt, ist bekannt genug. Die Übereinstimmung, welche dagegen in den Naturwissenschaften herrscht, rührt aber nicht daher, daß sich diese Wissenschaften auf ein Feld beschränken, wo sich alles von selbst versteht; sondern von der Anwendung einer Methode, deren ebenso kunstvoll entfaltete als naturgemäße Lehren sich der Menschheit erst nach langem Streben enthüllt haben, und von deren Anwendbarkeit man die Grenzen nicht kennt. Der Kernpunkt aller der zahlreichen Vorsichtsmaßregeln dieser Methode liegt aber gerade darin, daß der Einfluß der Subjektivität des Forschers neutralisiert wird. Die subjektive Natur des einzelnen Menschen ist es aber gerade, welcher die Spekulation ihre jedesmalige Gestaltung verdankt. Auch hier müssen wir annehmen, daß in der ähnlichen Organisation aller Menschen und in der gemeinsamen Entwicklung der Menschheit ein objektiver Grund der einzelnen Erscheinungen liegt, etwa wie in der Baukunst, in der Musik bei verschiednen und getrennten Völkern ähnliche Grundzüge zur Erscheinung kommen. Wer sich nun damit begnügen will, von diesem geheimen Bautrieb der Menschheit erfaßt, einen Tempel von Begriffen aufzubauen, welcher zwar dem gegenwärtigen Zustand der positiven Wissenschaften nicht sehr widerspricht, aber von jedem methodisch gewonnenen Fortschritt umgeworfen oder von jedem späteren Baulustigen bis auf den Grund abgerissen und in anderm Stile neu gebaut wird, der mag sich freilich eines anmutigen und in sich vollendeten Kunstwerkes rühmen, aber er verzichtet damit auch notwendig darauf, das wahre und bleibende Wissen, auf welchem Felde es auch sei, auch nur um einen einzigen Schritt zu fördern. Was nun jeder wählen will, muß ihm selbst überlassen bleiben. In der Regel wird jedem das am höchsten scheinen, was er selbst treibt.

In welchem Umfange nun die naturwissenschaftliche Methode auf die Psychologie anwendbar ist, muß sich durch den Erfolg zeigen. Wir wollen vorab bemerken, daß es nicht etwa nur die Grenzgebiete der Nervenphysiologie sind, welche eine exakte Behandlung zulassen. Wie unbestimmt man auch die Grenzen der Psychologie lassen mag, so wird man doch jedenfalls einstweilen nicht nur die Tatsachen des Empfindungslebens dahin rechnen, sondern auch die Erforschung des menschlichen Handelns und Redens,[829] überhaupt aller Lebensäußerungen, soweit aus ihnen ein Schluß auf die Natur und den Charakter des Menschen möglich ist. Der klarste Beweis dafür ist das Bestehen einer Tierpsychologie, deren Material man doch nicht gut durch Beobachtung mittels des »inneren Sinnes« aufbringen kann. Hier, wo die äußere Beobachtung uns zunächst nur Bewegungen, Gebärden, Handlungen zeigt, deren Deutung dem Irrtum unterliegt, läßt sich dennoch ein vergleichsweise sehr exaktes Verfahren durchführen, da man das Tier leicht Experimenten aussetzen und in Lagen bringen kann, welche die genaueste Beobachtung jeder neuen Regung und die willkürliche Wiederholung oder Unterlassung jedes Reizes zu einer psychischen Tätigkeit möglich machen. Dadurch wird jene Grundbedingung alles Exakten gegeben, nach welcher der Irrtum nicht etwa unbedingt vermieden, wohl aber durch die Methode unschädlich gemacht werden kann. Ein genau beschriebenes Verfahren mit einem genau beschriebenen Tiere kann immer wiederholt werden, wodurch die Deutung, wenn sie etwa an variable Nebenumstände anknüpft, sofort korrigiert und jedenfalls von dem Einfluß persönlicher Vorurteile, die bei der sogenannten Selbstbeobachtung eine so große Rolle spielen, gründlich geläutert wird. Haben wir nun auch noch kein System der Tierpsychologie, so haben wir doch die Anfänge von Beobachtungen, die an Genauigkeit und Ergiebigkeit weit über den Standpunkt eines Reimarus und Scheitlin hinausführen. Die immer größere Verbreitung der zoologischen Gärten unterstützt diese Studien, und wie sehr auch das freie Wesen der Tiere in Wald und Feld sich vom Zustande der Gefangenschaft unterscheiden mag, so ist doch eine auf den letzteren Zustand gegründete exakte Beobachtung deshalb nicht minder wertvoll, wo es sich um Gewinnung allgemeiner Sätze handelt. Für die Fragen des Materialismus oder Idealismus wird sich übrigens vielleicht späterhin der interessanteste Stoff da finden, wo man ihn bisher am wenigsten sucht: in der Beobachtung der niederen Tiere in Beziehung auf ihre Sinneswahrnehmungen. Schon Moleschott hat ja darauf hingewiesen, daß ein Rädertier mit einem Auge, das nur Hornhaut hat, andre Bilder von den Gegenständen aufnehmen muß als die Spinne, die auch Linse und Glaskörper besitzt. So sehr wir in der Kritik des Zusammenhanges jener Stelle (vgl. oben S. 547) eine klare Vorstellung von dem Verhältnis des Objektes zum Subjekt vermißten, so gewiß ist doch eben diese Bemerkung von Bedeutung; ja, es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich hier in einem ungleich[830] weiteren Sinne die merkwürdigsten Dinge enthüllen, wenn erst die Reihe der exakten Beobachtung an die Sinnestätigkeit von Geschöpfen kommt, die so abweichend von uns organisiert sind. Man wird die Wirkung der verschiedenen Vibrationen, welche die Physik uns kennen lehrt, hier ganz unabhängig davon prüfen müssen, ob dieselben unsern Organen bestimmte Sinneswahrnehmungen verursachen oder nicht. Sollten sich z.B. Geschöpfe finden, welche das Licht riechen oder schmecken (d.h. durch Organe wahrnehmen, die unsern Geruchs- oder Geschmacksorganen ähnlich sind), oder welche durch eine für uns dunkle Wärmequelle Gesichtsbilder erhalten, so würde dadurch die Lehre von der Gestaltung der Sinnenwelt durch das Subjekt eine neue Unterstützung erhalten; sollte dagegen sich zeigen, daß es durch die ganze Mannigfaltigkeit der Tierwelt mutmaßlich keine wesentlich andern Empfindungen gibt als die unsrigen, so käme dies einstweilen dem Materialismus zugute.538

Ein wichtiger Beitrag zu den Fundamenten einer zukünftigen Psychologie liegt ferner unzweifelhaft in den erst in neuester Zeit systematisch angestellten Versuchen an Neugebornen. Will man das Getriebe der psychischen Vorgänge erfassen, so muß man vor allen Dingen die ersten und einfachsten Elemente dieses Getriebes zu beobachten suchen. Es ist erstaunlich, mit welchem Phlegma unsre guten Philosophen über die Entstehung des Bewußtseins räsonieren können, ohne je das Bedürfnis zu empfinden, einmal in die Kinderstube zu gehen und genau zuzusehen, was sich etwa ereignet, das mit diesem Problem zusammenhängt. Aber solange die Worte sich geduldig zu einem System zusammenfügen, die Studenten dies System geduldig niederschreiben, die Verleger es geduldig drucken lassen und das Publikum den Inhalt solcher Bücher für sehr wichtig hält, findet der Philosoph zu weiteren Schritten so leicht keine Veranlassung. Dann kommt endlich der Physiologe,539 gibt den Neugebornen Zucker- oder Chininlösung zu schmecken, hält ihnen ein Licht vor oder erzeugt ein Geräusch vor ihren Ohren und verzeichnet auf das genaueste, was er für Bewegungen, Muskelverzerrungen u. dgl. beobachtet hat. Er kombiniert die Beobachtungen, die er bei zu früh gebornen oder voll ausgetragnen Kindern gemacht hat, merkt sich genau die Unterschiede und vergleicht damit die Erfahrungen der Anatomie und Pathologie. Er sucht endlich seine Beobachtungen so zu ordnen, daß er von der einfachen Reflexbewegung bis zu den sichern Zeichen des Bewußtseins[831] aufsteigt, und schließlich weiß er eine Masse Dinge, die der Philosoph auf seinem einsamen Studierzimmer nicht erfährt, und die doch oft zur Entscheidung wichtiger Fragen ganz unentbehrlich sind. Wenn auch weiter nichts aus diesen empirischen Untersuchungen folgte als die Tatsache, daß von der reinen Reflexbewegung bis zur bewußten Zwecktätigkeit der unmerklichste Übergang stattfindet, und daß die Anfänge der letzteren bis in das Leben vor der Geburt zurückreichen, so wäre das im Lichte wirklicher Wissenschaft schon weit mehr, als man aus ganzen Bänden spekulativer »Untersuchungen« lernen kann.

Ein andrer hierher gehöriger Gegenstand neuerer Bemühungen ist die »Völkerpsychologie«, die jedoch noch keine hinlänglich bestimmte Form und Methode gewonnen hat, um eine Besprechung zu fordern, zumal da die Fragen des Materialismus mit diesem Gebiete in weniger enger Verbindung stehen. Bemerkenswert ist jedoch, daß die Linguistik, die man mit Recht als eine der wesentlichsten Quellen der Völkerpsychologie betrachtet, sehr dazu beigetragen hat, die Sprache in den Bereich naturwissenschaftlicher Betrachtungen zu ziehen und dadurch die frühere Kluft zwischen den Wissenschaften des Geistes und denen der Natur auf einem neuen, bedeutungsvollen Punkte auszufüllen. Auch in dieser Beziehung ist die erste Hälfte unsres Jahrhunderts epochemachend. W. v. Humboldts berühmtes Werk über die Kawisprache und Bopps Grammatik der Sanskritsprache und vergleichende Grammatik erschienen in der auch sonst so reichhaltigen Periode von 1820-1835. Seitdem machte die linguistische Forschung nach allen Seiten bewunderungswürdige Fortschritte, und Steinthal namentlich bemühte sich in einer Reihe bedeutender Schriften, das psychologische Wesen der Sprache in ein helles Licht zu stellen und der beständigen Verwechslung des logischen Denkens mit der an der Hand der Sprache vor sich gehenden Vorstellungsbildung einen Riegel vorzuschieben.

Auffallend unfruchtbar für die Fragen der Psychologie blieben geraume Zeit hindurch die wissenschaftlichen Reisen und die Zusammenstellung ihrer Ergebnisse in anthropologischer und ethnographischer Hinsicht. Man darf nur das einst so berühmte Werk über die Naturgeschichte des Menschen von Prichard zur Hand nehmen, um sich zu überzeugen, welch eine Fülle von Mißverständnissen hervorging aus den religiösen Vorurteilen der Berichterstatter, aus ihrem Rassenstolz und ihrer Unfähigkeit, sich in den[832] Zusammenhang eines fremdartigen Kulturlebens oder in die Denkweise niederer Kulturstufen hineinzuversetzen. In neuester Zeit ist das besser geworden. Namentlich Bastians Reiseberichte sind reich an psychologischen Zügen, und seine zusammenfassenden Werke540 verraten ein vorwiegendes Interesse für die vergleichende Psychologie, wenn auch die leitenden Gesichtspunkte oft unter dem zusammengehäuften Material verloren gehen. In Waitz' Anthropologie der Naturvölker kann man den Fortschritt des psychologischen Verständnisses fast von Band zu Band verfolgen; Vorzügliches aber bietet in dieser Hinsicht der letzte, von Gerland verfaßte Band des Waitzschen Werkes. Nimmt man nun dazu Lubbocks lichtvolle Zusammenstellung der Resultate der Paläontologie mit dem Zustande der heutigen Wilden, sowie Tylors »Anfänge der Kultur« und »Urgeschichte der Menschheit«, so hat man schon ein so reichhaltiges Material von Tatsachen und Kombinationen, daß eine systematische »Völkerpsychologie« oder eine »pragmatische Anthropologie« auf ganz neuer Grundlage nicht mehr als unmöglich erscheinen kann. Fragt man aber nach denjenigen Resultaten, welche schon jetzt am sichtbarsten hervortreten, so läßt sich nicht leugnen, daß in allen neueren und besseren Beobachtungen der Mensch mit seinem gesamten Kulturzustande als ein Naturwesen erscheint, dessen Tun und Treiben durch seine Organisation bedingt ist. Wo man früher, bei oberflächlicher Betrachtung, nur »Wilde« oder harmlose Naturkinder sah, da findet man jetzt die Beweise einer Geschichte, einer alten, raffinierten Kultur und oft schon die deutlichen Spuren des Verfalls und Rückganges. Wir sehen, wie die Gesellschaft, selbst bei Völkern, die in andrer Beziehung noch auf einem Standpunkt kindischer Unmündigkeit stehen, allenthalben schon früh besondre und oft bizarre Ordnungen mit sich bringt, die bei der buntesten Mannigfaltigkeit doch sich aus einigen wenigen immer wiederkehrenden psychologischen Grundzügen entwickeln lassen. Despotismus, Adelsherrschaft, Kastenwesen, Aberglauben, Pfaffentrug und fesselnde Zeremonien schießen überall schon früh aus der gemeinsamen Wurzel menschlichen Wesens hervor, und in den Prinzipien dieser weit verbreiteten Mißbildungen zeigt sich oft die auffallendste Analogie zwischen Stämmen, welche kaum Kleider und Hütten haben und andern, welche Paläste, stolz gebaute Städte und eine Fülle von Werkzeugen und Luxusgegenständen besitzen. Der Naturzustand, dessen Verlust Rousseau und Schiller beklagten, zeigt sich[833] nirgend; es ist vielmehr alles Natur, aber eine Natur, die unsern Idealen so wenig entspricht wie die Affengestalt unsrer hypothetischen Vorfahren den Idealen eines Phidias oder Raffael. Es scheint, als ob der Mensch, während er die Schranken der Tierheit hinter sich läßt und als Individuum durch die Gesellschaft gebildet und veredelt wird, in der Gesellschaft des völkerpsychologischen Gesamtwesens noch einmal die ganze Widerwärtigkeit und Häßlichkeit des Affenwesens durchmachen mußte, bis endlich die tief aber sicher in ihm ruhenden Keime edlerer Eigenschaften – – aber so weit sind wir ja noch nicht! Selbst die hellenische Kultur ruhte auf dem faulen Boden der Sklaverei, und die edle Humanität des achtzehnten Jahrhunderts war nur das Eigentum eng begrenzter, von den Massen sich sorgsam sondernder Kreise.

Auch Darwin hat ein großartiges Material für das psychologische Verständnis der Menschenspezies beigebracht und neue Bahnen gebrochen, auf denen für ganze Gebiete der Psychologie ein reicher Stoff gewonnen werden kann. Hierher gehört namentlich auch seine wegen ihrer Härten und Einseitigkeiten oft unterschätzte Abhandlung über den »Ausdruck der Gemütsbewegungen«. Schon Descartes hatte in seiner viel zu wenig beachteten Schrift über die Gemütsbewegungen den Weg betreten, sie nach ihren körperlichen Symptomen zu bestimmen und zu erklären, wiewohl nach seiner Theorie die Gemütsbewegung als solche erst dadurch zustande kommen kann, daß die Seele dasjenige »denkt«, was sie im Gehirn als körperlichen Vorgang wahrnimmt. In neuerer Zeit hat sich namentlich Domrich das Verdienst erworben, die körperlichen Erscheinungen, von welchen die psychischen Zustände begleitet werden, eingehend zu behandeln, allein seine Arbeit ist von den Psychologen wenig benutzt worden.541 Es müßte damit anders stehen, wenn man erst allgemein einsähe, in wie hohem Grade das Bewußtsein von unsern eignen Gemütsbewegungen erst durch die Empfindung von ihren körperlichen Rückwirkungen bedingt und vermittelt wird. Es verhält sich aber damit in der Tat ganz wie mit dem Bewußtsein von unsern Körperbewegungen: ein unmittelbares Wissen um den ergangenen Impuls ist zwar vorhanden, allein zur vollen Klarheit über den Vorgang gelangen wir erst durch den Rückstrom der Empfindungen, welche durch die Bewegung veranlaßt wurden.

Eine ganz besondre Bedeutung gewinnt aber das körperliche Symptom für den psychischen Vorgang bei den Ausdrucksbewegungen.[834] Man darf nur beobachten, wie die Sprache sich in der Grundbedeutung der Ausdrücke für Gemütsbewegungen immer an das körperliche Symptom hält und besonders häufig gerade an die Ausdrucksbewegungen, so sieht man bald, wie sich der Mensch an diesen Symptomen orientiert hat und wie durch sie erst alle inneren Vorgänge ihre Charakteristik und ihre Abgrenzung gegen andre verwandte Vorgänge erhalten haben. Es ist daher auch nicht zu hoffen, daß man jemals in der Lehre von den Gemütsbewegungen irgend erhebliche Resultate gewinnt, wenn man nicht auf das ernstlichste ihre Symptome studiert.

Wir kommen so auch hier wieder auf ein Verfahren in der Psychologie, welches man materialistisch nennen könnte, wenn nicht in diesem Ausdruck zugleich eine Beziehung auf das Fundament der ganzen Weltanschauung läge, welche keineswegs hierher gehört. Man tut daher besser, von einer »somatischen Methode« zu reden, welche sich auf den meisten Gebieten der Psychologie als einzig Erfolg versprechend empfiehlt. Diese Methode fordert, daß man bei der psychologischen Untersuchung sich so weit als irgend möglich an die körperlichen Vorgänge hält, welche mit den psychischen Erscheinungen unauflöslich und gesetzlich verknüpft sind. Man ist aber, indem man sie anwendet, keineswegs genötigt, die körperlichen Vorgänge als den letzten Grund des Psychischen oder gar als das eigentlich allein Vorhandene zu betrachten, wie dies der Materialismus tut. Ebensowenig darf man sich freilich durch die wenigen Gebiete, welche der somatischen Methode bisher unzugänglich sind, verleiten lassen, hier ein psychisches Geschehen ohne physiologische Grundlage anzunehmen. Man kann nämlich die Lehre vom Vorstellungswechsel, d.h. vom Einflusse vorhandener oder neu in das Bewußtsein getretener Vorstellungen auf die nachfolgenden nicht nur theoretisch entwickeln, sondern auch in einem bei weitem größeren Maße als es bisher geschehen ist, auf Experiment und Beobachtung stützen, ohne sich um die physiologische Grundlage weiter zu kümmern. So kann z.B. das Kunststück der Mnemoniker, eine beliebige Folge von Worten dadurch zu behalten, daß man sich in Gedanken gewisse Verbindungsworte einschaltet, ganz gut als ein wertvolles psychologisches Experiment behandelt werden, dessen Geltung, wie die eines jeden guten Experimentes, von der Erklärung, die man ihm gibt, unabhängig ist.542 Man kann auf empirischem Wege eine vollständige Theorie der Schreibfehler aufstellen, oder, wie dies Drobisch getan hat, die[835] Neigung eines Dichters zu leichteren oder schwereren Versformen auf bestimmte Zahlenverhältnisse bringen,543 ohne das Gehirn und die Nerven überhaupt zu berücksichtigen. Hier könnte es einem Kritiker vielleicht einfallen zu behaupten: entweder muß hier die Unabhängigkeit des Vorgangs vom Psychologischen anerkannt werden, oder das Verfahren ist nicht streng wissenschaftlich, weil es nicht auf den vorausgesetzten Grund der Erscheinungen zurückgeht. Diese Alternative ist aber falsch, weil empirisch vermittelte Tatsachen und sogar die »empirischen Gesetze« ihr Recht behaupten, ganz unabhängig von der Zurückführung auf die Gründe der Erscheinungen. Man könnte sonst mit dem gleichen Rechte auch die ganze Nervenphysiologie für ungenügend erklären, weil sie noch nicht auf die Mechanik der Atome zurückgekehrt ist, welche doch im letzten Grunde aller Erklärung der Naturerscheinungen zugrunde liegen muß.

In England war die Psychologie zur Zeit von Dugald Stewart und Thomas Brown auf gutem Wege, zu einer empirischen Wissenschaft vom Vorstellungswechsel (»Assoziationspsychologie«) zu werden, und namentlich der letztere verfolgt das Prinzip der Assoziation mit Geist und Scharfsinn durch die verschiedensten Gebiete psychischer Tätigkeit. Seitdem ist die Psychologie eine Lieblingsdisziplin der Engländer geblieben, und es läßt sich nicht leugnen, daß das Studium ihrer Werke dem Staatsmanne, dem Künstler, dem Pädagogen, dem Arzt eine weit reichere Fülle von Beiträgen zur Menschenkenntnis gibt, als dies unsre deutsche psychologische Literatur vermag. Um so schwächer steht es mit der kritischen Sicherung der Prinzipien und mit der streng wissenschaftlichen Form dieser Psychologie. In dieser Beziehung ist im Grunde kein wesentlicher Fortschritt seit Brown und Stewart gemacht worden. Was die neueren Werke von Spencer und besonders von Bain544 auszeichnet, ist eine genaue Berücksichtigung der neueren Anatomie und Physiologie und ein energischer Versuch, die Assoziationspsychologie mit unsrer Kenntnis des Nervensystems und seiner Funktionen in Einklang zu setzen. So gesund nun auch die Tendenz dieser Bestrebungen ist, so geht es doch dabei nicht ab ohne gewagte Hypothesen und weitläufige Gebäude der Theorie, denen eine feste experimentelle Unterlage noch fehlt. Wir haben oben bemerkt (S. 804 ff.), daß es hinsichtlich der Hirnfunktionen zwar nicht Sache der exakten Forschung, wohl aber der vorbereitenden Aufklärung sein könne, einmal an einer durchgeführten[836] Hypothese zu zeigen, wie die Dinge zusammenhängen könnten: diesem Bedürfnisse entsprechen Spencer und Bain in überreichem Maße, und ihre Werke dienen daher auch in diesem Punkte der deutschen Literatur zu einer willkommnen Ergänzung, wie sehr auch die gestrenge aber etwas sterile deutsche Kritik an den Grundlagen dieser Lehrgebäude rütteln mag. Der Unterschied zwischen dem englischen und dem deutschen Verfahren in der Psychologie läßt sich in der Tat darauf zurückführen, daß die deutschen Gelehrten ihre ganze Geisteskraft daran setzen, möglichst sichere und richtige Prinzipien zu erlangen, während die Engländer vor allen Dingen bemüht sind, aus ihren Prinzipien zu machen, was nur irgend gemacht werden kann. Dies gilt sowohl für die Assoziationspsychologie als solche, als auch für ihre physiologische Begründung. Statt die Theorie der Assoziation in ihren so höchst mangelhaften Grundlagen zu verbessern und die Methode der Forschung strenger zu gestalten, geben uns die neueren Schriftsteller nur breite Ausführungen und Analysen, während die Grundlagen dieselben bleiben wie bei ihren Vorgängern. Man hat neuerdings in Deutschland von verschiednen Seiten einen Teil dieser Grundlagen angegriffen, und namentlich die in England herrschende Ableitung der Raumvorstellungen aus dem Prinzip der Assoziation ist einer durchaus berechtigten Kritik unterzogen worden.545 Diese Kritik trifft jedoch einen Punkt, der zwar für die Erkenntnistheorie von größter Wichtigkeit ist, aber für die spezielle Grundlegung der empirischen Psychologie von untergeordneter Bedeutung. Man könnte diese Erklärung der Raumvorstellungen fallen lassen, und die Assoziationspsychologie würde dabei im wesentlichen unbeschädigt fortbestehen. Es gibt jedoch einen andern Punkt, der nicht nur über das Schicksal dieser Wissenschaft entscheidet, sondern auch für die Grundfragen des Verhältnisses von Leib und Seele die höchste Bedeutung besitzt. Es ist dies die Frage, ob es überhaupt für den Vorstellungswechsel eine durchgehende und immanente Kausalität gibt oder nicht.

Der Sinn der inhaltsschweren Frage ist leicht zu verstehen, wenn man nur auf Leibniz oder Descartes zurückblickt. Unter einer »immanenten« Kausalität verstehen wir eine solche, welche keiner fremden Zwischenglieder bedarf. Es soll sich also der Vorstellungszustand eines gegebenen Augenblickes rein aus den früheren Vorstellungszuständen erklären lassen. Bei Descartes sowohl wie bei Leibniz bildet der Vorstellungsinhalt der Seele eine Welt völlig[837] für sich, abgetrennt von der Körperwelt. Selbst diejenigen Vorstellungen, welche einem neuen Sinneseindruck entsprechen, muß der Geist aus sich hervorbringen. Nach welchem Gesetze aber nun die Zustände der Seele wechseln, bleibt im unklaren. Descartes sowohl wie Leibniz huldigen für die Körperwelt dem strengen Mechanismus. Dieser ist auf die Vorstellungswelt nicht anwendbar, weil hier nichts gemessen und gewogen werden kann; aber welcher Art ist denn nun überhaupt das Band der Kausalität, welches hier die wechselnden Zustände verbindet? Descartes hat hierauf gar keine Antwort, Leibniz eine sehr geistreiche, aber doch nicht genügende. Er verlegt die Kausalität des Vorstellens in das Verhältnis der Monade zum Universum, die prästabilierte Harmonie. Wiewohl also die Monade »keine Fenster« hat, wird doch das, was in ihr geschieht, nicht durch ein immanentes Prinzip regiert, sondern durch ihr Verhältnis zum Weltganzen, welches nur der Spekulation, nicht der Beobachtung zugänglich ist. Damit ist jede empirische Psychologie unmöglich gemacht, und von Gesetzen der Assoziation oder irgendwelchen andern durchgehenden Gesetzen kann im Grunde keine Rede sein.

Die Assoziationspsychologie macht daher auch in ihren Bemühungen zur Herstellung eines gesetzmäßigen Vorstellungswechsels von vornherein eine Ausnahme. Die Sinneswahrnehmungen, im weitesten Umfange des Begriffes, kommen von außen herein, ohne daß weiter gefragt wird, wie dies möglich sei. Sie sind, vom Standpunkt der Seele betrachtet, gleichsam Schöpfungen aus dem Nichts, beständig auftretende neue Faktoren, welche den Gesamtzustand der Vorstellungswelt sehr erheblich modifizieren, welche jedoch vom Augenblicke ihres Eintretens an sich den Assoziationsgesetzen unterwerfen. Die in dieser Annahme liegende Schwierigkeit wurde in England leicht verdeckt durch den traditionellen Materialismus von Hartley und Priestley her. Die Nachfolger, welche die Konsequenzen desselben ablehnten, behielten gleichwohl die Bequemlichkeit seiner Erklärungsweise bei und dachten nicht daran, daß ein neuer Standpunkt auch neue Probleme mit sich bringe.

Stuart Mill hat in seiner Logik (Buch VI Kap. 4) die hier berührte Frage ausführlich behandelt. Er wendet sich gegen Comte, der mit großer Bestimmtheit sich dahin entscheidet, daß den Geisteszuständen keine immanente Gesetzmäßigkeit zukomme, sondern daß sie schlechthin durch Zustände des Körpers hervorgerufen[838] werden. Den letzteren kommt Gesetzmäßigkeit zu; wo sich in den erstern eine Gleichförmigkeit in der Folge der Erscheinungen herausstellt, da ist sie eine bloß abgeleitete, keine ursprüngliche und also auch kein Gegenstand einer möglichen Wissenschaft. Mit einem Worte: Psychologie ist nur als Teil der Physiologie begreiflich.

Dieser streng materialistischen Ansicht gegenüber sucht Mill das Recht der Psychologie zu behaupten. Indem er das ganze Gebiet der Sinneswahrnehmungen ohne weiteres preisgibt, glaubt er die Autonomie des Wissens vom Denken und von den Gemütsbewegungen retten zu können. Die Sinneswahrnehmungen überläßt er der Physiologie. Von den übrigen psychischen Vorgängen weiß die Physiologie uns noch wenig oder gar nichts zu erklären; die Assoziationspsychologie dagegen lehrt uns auf dem Wege methodischer Empirie eine Reihe von Gesetzen kennen: also halten wir uns an diese und lassen die Frage dahingestellt, ob die Erscheinungen der Gedankenfolge sich vielleicht auch einmal später als bloße Produkte der Hirntätigkeit herausstellen werden oder nicht! So wird die metaphysische Frage zurückgeschoben und der Assoziationspsychologie ein wenigstens provisorisches Recht gesichert. Die tiefer führende und zur Kritik drängende Frage aber bleibt unerörtert, ob wir nicht in der Assoziationspsychologie selbst bei schärferem Zusehen die Spuren davon entdecken, daß ihre vermeintlichen Gesetze keine durchgehende Geltung haben, weil sie eben nur einen Teil der Folgen tiefer liegender physiologischer Gesetze darstellen.

Herbert Spencer huldigt, unserm eignen Standpunkte verwandt, einem Materialismus der Erscheinung, dessen relative Berechtigung in der Naturwissenschaft ihre Schranken findet an dem Gedanken eines unerkennbaren Absoluten. Deshalb hätte er ruhig den Standpunkt Comtes für das Gebiet des Erkennbaren annehmen können; gleichwohl behauptet er, die Psychologie sei eine Wissenschaft einzig in ihrer Art und vollkommen unabhängig von jedem andern Gebiete.546 Zu dieser Behauptung verleitet ihn die Tatsache, daß das Psychische allein uns unmittelbar gegeben ist, während das Physische nur vorausgesetzt wird und sich also in gewissem Sinne in Psychisches auflösen läßt. In der Tat sind unsre Vorstellungen von einer Materie und ihren Bewegungen eben auch nur eine Art von Vorstellungen. Farbe und Schall aber, so wie sie unserm Geiste unmittelbar erscheinen, sind, gleich unsern Gemütsbewegungen, früher gegeben als die Theorie ihrer Entstehung[839] aus Vibrationen und Hirnprozessen. Hiernach ist so viel richtig, daß das Gebiet der psychischen Erscheinungen jene Unabhängigkeit besitzt, welche Spencer der Psychologie zuschreibt. Die Frage ist aber eben, ob das Gebiet der psychischen Erscheinungen sich in einen Kausalzusammenhang bringen läßt, ohne Zurückführung auf die Theorien der physischen Wissenschaften.

Alexander Bain will einem »vorsichtigen und gemäßigten Materialismus« huldigen, welcher den Kontrast zwischen Geist und Materie wahrt. Nach ihm, wie nach Spencer, ist der Körper dasselbe Ding, objektiv betrachtet, welches subjektiv, im unmittelbaren Bewußtsein des Individuums, Seele ist. Durch diesen Gedanken, den auch Kant als Vermutung gelten ließ, läßt sich nun aber Bain verleiten, einen vollständigen Parallelismus zwischen Geistestätigkeit und Nerventätigkeit anzunehmen. Nach seiner Ansicht hat jeder Nervenreiz ein »sensationelles Äquivalent«.547 Wäre dem so, so müßte allerdings der Zusammenhang auf der psychischen Seite ebenso vollständig sein wie auf der physikalischen; allein die Tatsachen widersprechen. Schon das von Bain anerkannte Gesetz der Relativität, nach welchem wir nicht sowohl durch die absolute Stärke des Reizes, als vielmehr durch die Tatsache einer Veränderung des Reizzustandes zu einer bewußten Empfindung gelangen,548 ist mit dem sensationellen Äquivalent unvereinbar; denn es ist klar genug, daß danach ein und derselbe Nervenreiz das eine Mal eine sehr lebhafte Empfindung auslösen kann, das andre Mal gar keine. Wollte man aber unter dem »sensationellen Äquivalent« etwas verstehen, was zwar zur inneren, subjektiven Seite des Vorganges gehört, aber gleichwohl nicht eigentliche Empfindung ist, so kommt man auf die unbewußten Vorstellungen, von denen gleich noch zu reden sein wird.

Aber auch die strenge Gültigkeit der Assoziationsgesetze muß uns hier sehr zweifelhaft werden. Spencer freilich bedient sich, um recht sicher zu gehen, hier der Zauberformel: »all other things equal«. Freilich, wenn alle andern Umstände absolut gleich sind dann scheint es fast axiomatisch, daß dann z.B. der lebhaftere Eindruck stärker im Gedächtnis haftet; allein damit ist auch die Geltung des Satzes fast auf nichts reduziert. Wenn man behauptet, daß unter übrigens gleichen Umständen ein schnelleres Schiff früher sein Ziel erreichen oder ein stärkeres Feuer mehr Wärme geben müsse, so will man damit sagen, daß die Schnelligkeit des Schiffes, die Heizkraft des Feuers unter allen Umständen ihre konstante[840] Wirkung üben, daß es aber noch von andern Umständen abhängt, ob ein gewisser äußerer Effekt, wie die Erreichung des Zieles, die Erwärmung eines Zimmers, zustande komme oder nicht. Damit ist ein Satz von großer Allgemeinheit und weittragender Bedeutung ausgesprochen. Im psychologischen Falle aber stehen die Sachen ganz anders. Es ist z.B. gar nicht unwahrscheinlich, daß die Fähigkeit der Wiedererinnerung mitbedingt wird durch die absolute Stärke des Nervenvorgangs oder durch die bleibende organische Veränderung, welche mit demselben verbunden ist, während dagegen die Lebhaftigkeit der entsprechenden Vorstellung nur von der relativen Stärke der Erregung abhängig ist. So haben wir z.B. im Traum oft Vorstellungen von der überraschendsten Lebhaftigkeit und Deutlichkeit, an die wir uns gleichwohl nur schwer und durchaus nicht mit der ursprünglichen Lebhaftigkeit zu erinnern vermögen. Es sind aber auch im Traume nur sehr schwache Nervenströmungen, welche Träger unsrer Vorstellungen sind. Nimmt man nun die Bedingung »unter übrigens gleichen Umständen« wörtlich, d.h. vergleicht man nur Traumvorstellung mit Traumvorstellung, überhaupt nur ganz bestimmte Erregungszustände, so mag der Lehrsatz der Assoziationspsychologie richtig sein, allein er ist dann offenbar von einer sehr beschränkten Bedeutung. In dem Falle der obigen physischen Beispiele ist das Resultat, die Erreichung des Zieles, die Erwärmung des Zimmers, nur ein Mittel, um mir die konstante Bedeutung der Schnelligkeit, der Heizkraft klar zu machen. Gerade diese konstante Geltung des einen Faktors fällt nun aber in dem psychologischen Beispiel weg. Die größere Lebhaftigkeit der Vorstellung gibt nicht unter allen Umständen einen gleichen Beitrag an das zu erzielende Resultat, sondern dieser Beitrag kann in dem einen Falle sehr groß in dem andern schlechthin Null sein. Wir können z.B. im Traume höchst lebhafte Vorstellungen gehabt haben, an die wir uns gleichwohl unter keinen Umständen wieder zu erinnern vermögen; es sei denn, daß wir den gleichen Traumzustand wiederherstellen könnten.

Ein Beispiel mag dies Verhältnis noch klarer machen. Der nationalökonomische Wert entsteht unzweifelhaft aus einer Reihe physischer Bedingungen, unter welchen die Arbeit eine hervorragende Rolle spielt. Gleichwohl ist der Wert nicht der Arbeit proportional. Die übrigen Umstände, wie namentlich das Bedürfnis, kommen nicht nur äußerlich hinzu, um das Resultat zu bestimmen, wie z.B. Wind und Wetter zu der Schnelligkeit des Schiffes, sie gehören[841] vielmehr notwendig mit dazu, damit Wert überhaupt entstehe. Ebenso gehört der Gesamtzustand des Bewußtseins mit dazu, damit aus einem Reize überhaupt Empfindung werde. Ebendeshalb gibt es auch kein Gesetz der »Erhaltung des Wertes«, welches etwa dem physikalischen Gesetze der Erhaltung der Arbeit entsprechen würde. Ebensowenig scheint es ein Gesetz der »Erhaltung des Bewußtseins« geben zu können. Der gesamte Vorstellungsinhalt kann von größter Lebhaftigkeit auf Null herabsinken, während für die entsprechenden Hirnfunktionen das Gesetz der Erhaltung der Kraft seine Geltung behauptet. Wo bleibt dann aber die Möglichkeit einer auch nur einigermaßen exakten Assoziationspsychologie?

Trotzdem hat Stuart Mill darin recht: so weit die Lehre vom Vorstellungswechsel wirklich empirisch begründet werden kann, hat sie auch Anspruch, als Wissenschaft zu gelten; es möge sich nun mit der Grundlage der Vorstellungen und ihrer Abhängigkeit von den Gehirnfunktionen verhalten, wie es wolle. Die bisher angewandten Methoden geben jedoch sehr wenig Bürgschaft gegen Selbsttäuschungen. Wir haben einige sehr allgemeine Sätze, welche auf sehr unvollständiger Induktion ruhen, und mit diesen wird nun in breit ausgeführten Analysen das Feld der psychischen Erscheinungen durchwandert, um zu sehen, was sich auf jene angeblichen Gesetze der Assoziation zurückführen läßt. Will man aber, statt bloß die allgemeinen Begriffe psychischer Erscheinungen zu analysieren, an das Leben herantreten und den Vorstellungswechsel in bestimmten Fällen zu begreifen suchen, wie sie sich etwa dem Irrenarzt, dem Kriminalisten oder dem Pädagogen darbieten, so kommt man überall keinen Schritt vorwärts, ohne auf die »unbewußten Vorstellungen« zu stoßen, welche ganz nach den Gesetzen der Assoziation in den Vorstellungsverlauf eingreifen, wiewohl sie eigentlich gar keine Vorstellungen sind, sondern nur Hirnfunktionen von derselben Art wie diejenigen, welche mit Bewußtsein verknüpft sind.549

Neben der Lehre vom Vorstellungswechsel haben wir nun aber noch ein andres Gebiet der empirischen Psychologie, welches einer streng methodischen Forschung zugänglich ist. Es ist dies die anthropologische Statistik, deren Kern bis jetzt die Moralstatistik bildet. Wir befinden uns hier recht eigentlich auf dem Boden dessen, was Kant »pragmatische Anthropologie« nannte; d.h. es handelt sich um eine Wissenschaft vom Menschen als einem »frei handelnden[842] Wesen«, also offenbar um die geistige Seite des Menschen, wiewohl die Statistik sich um den Unterschied von Leib und Seele gar nicht kümmert. Sie verzeichnet menschliche Handlungen und menschliche Schicksale, und aus der Kombination dieser Aufzeichnungen läßt sich mancher Blick gewinnen in das Getriebe nicht nur des sozialen Lebens, sondern auch der Motive, welche den einzelnen in seinen Handlungen leiten.

Im Grunde ist fast die ganze Statistik für die exakte Anthropologie zu verwerten, und es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, psychologische Schlüsse nur aus den Angaben über die Zahl und Art der Verbrechen und Prozesse, über die Verbreitung des Selbstmords oder der unehelichen Geburten, oder über die Verbreitung des Unterrichts, der Erzeugnisse der Literatur u. dgl. ableiten zu können. Bei glücklicher Kombination der zu vergleichenden Werte müssen sich aus den Ergebnissen des Handels und der Schiffahrt, aus der Transportstatistik der Eisenbahnen für Güter wie für Personen aus den Durchschnittswerten der Ernteerträge und des Viehbestandes, den Resultaten der Güterteilung und der Verkoppelung und unzähligen andern Angaben ebensogut psychologische Schlüsse ziehen lassen, als aus den bevorzugten Thematen der Moralstatistik. Umgekehrt hat man, weil man die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse und Motive nicht beachtete, oder weil man den Menschen noch zu sehr im Lichte einer veralteten Psychologie betrachtete, aus jenen Zahlen der Moralstatistik oft vorschnell Resultate gezogen. Der verdienstvolle Quételet hat namentlich durch den unglücklichen Ausdruck »Hang zum Verbrechen« (penchant vers le crime) viel falsche Vorstellungen verbreitet, obwohl bei ihm selbst dieser Ausdruck nur ein ziemlich gleichgültiger Name für einen an sich tadellosen mathematischen Begriff ist. So wenig irgendeine durch Abstraktion ermittelte Wahrscheinlichkeit als objektiv vorhandene Eigenschaft eines einzelnen Dinges betrachtet werden darf, welches zu der Klasse gehört, auf die die Abstraktion angewandt wurde, so wenig ist auch daran zu denken, durch einfache Ermittlung einer Wahrscheinlichkeitszahl einen Hang zum Verbrechen zu entdecken, der als wirklicher Faktor menschlicher Handlungen eine psychologische Bedeutung hätte. Man hat nun aber den Hang zum Verbrechen, die Neigung zum Selbstmord, den Trieb zur Ehe und andre solche statistische Begriffe nur zu oft wörtlich verstanden und aus der merkwürdigen Regelmäßigkeit der jährlich wiederkehrenden Zahlen einen Fatalismus abgeleitet,[843] der mindestens ebenso sonderbar ist als der Versuch Quételets, die Willensfreiheit neben der allgemeinen Gesetzmäßigkeit zu retten. Quételet läßt nämlich den freien Willen, d.h. natürlich den freien Willen nach der französisch-belgischen Schulüberlieferung, innerhalb der großen Kreise überwiesener Gesetzmäßigkeit noch als akzidentelle Ursache gelten, deren Wirkung, bald positiv, bald negativ eingreifend, sich nach dem Gesetz der großen Zahlen neutralisiert. Es ist ja keinem Zweifel unterworfen, daß es solche individuelle Willensimpulse gibt, welche bald dahin wirken, dem Jahresbudgetder gewollten Handlungen eine Einheit hinzuzufügen, bald ihm eine zu entziehen, während die Durchschnittsziffer schließlich besser stimmt als eine Staatsrechnung mit dem Budget. Wenn nun aber der Durchschnittswille, der zugleich die große Masse aller einzelnen Willensimpulse annähernd vertritt, durch die Einflüsse von Alter, Geschlecht, Klima, Nahrung, Arbeitsweise usw. naturhistorisch bedingt ist, würde man dann nicht auf jedem andern Gebiete schließen, daß auch die individuelle Regung naturhistorisch bedingt ist? Würde man nicht voraussetzen, daß sie sich zu dem Durchschnittsergebnis nur so verhält wie z.B. die Regenmenge des 1. Mai oder irgendeines andern Kalendertages zur durchschnittlichen Regenmenge des Jahres? In der Tat ist denn auch, von dem scholastischen Vorurteile abgesehen, nicht der leiseste Grund vorhanden, für jene individuellen Schwankungen neben den zahlreichen akzidentellen Ursachen, die wir naturhistorisch verfolgen können, noch eine besondere anzunehmen, welche das Eigentümliche hat, daß sie auf sehr enge Grenzen der Wirkung eingeschränkt, jedoch innerhalb derselben von der allgemeinen Kausalverbindung der Dinge unabhängig ist. Es ist dies eine ganz überflüssige und in der Tat unnütz störende Annahme, auf die kein Vernünftiger, geschweige denn ein Quételet fallen würde, wenn er nicht in den überlieferten Vorurteilen einer modern zugestutzten Scholastik aufgewachsen wäre.

Da man in Deutschland längst an die Vorstellung einer Einheit von Geist und Natur gewöhnt war, so ist es natürlich, daß unsre Philosophen durch den Widerspruch zwischen den Resultaten der Statistik und der veralteten Doktrin der Willensfreiheit nicht so sehr affiziert wurden. A. Wagner hat es in seiner schönen Arbeit über die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen (Hamburg 1864) für nötig gehalten, unsern Philosophen einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie sich so wenig um[844] Quételet und seine Forschungen gekümmert haben; allein dieser Vorwurf trifft nicht ganz die richtige Stelle. Männer wie Waitz, Drobisch, Lotze und zahlreiche andre, bei denen Wagner eine solche Berücksichtigung gesucht haben mag, sind über jenen Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit so weit hinaus, daß es ihnen gewiß schwer wird, sich auf einen Standpunkt zurückzuversetzen, für den hier noch ein ernsthaftes Problem vorliegt. Wir dürfen hier wohl auf das verweisen, was wir in dem Abschnitt über Kant über das Problem der Willensfreiheit gesagt haben. Zwischen der Freiheit als Form des subjektiven Bewußtseins und der Notwendigkeit als Tatsache objektiver Forschung kann so wenig ein Widerspruch sein wie zwischen einer Farbe und einem Ton. Dieselbe Schwingung einer Saite gibt für das Auge das Bild der schwirrenden Bewegung, für die Rechnung eine bestimmte Zahl von Schwingungen in der Sekunde und für das Ohr den einheitlichen Ton. Aber diese Einheit und jenes Vielfache widersprechen sich nicht, und wenn das gewöhnliche Bewußtsein der Schwingungszahl einen höheren Grad von Wirklichkeit zuschreibt als dem Ton, so ist dabei nicht viel zu erinnern. So interessant und förderlich auch Quételets bahnbrechende Studien sind, so sind sie doch für den aufgeklärteren deutschen Philosophen nicht eben wegen ihrer Beziehungen zur Willensfreiheit interessant, da die empirische Bedingtheit und strenge Kausalität aller menschlichen Handlungen, die Quételet nicht einmal vollständig zu behaupten wagt, seit Kant ohnehin schon als sicher und gewissermaßen als eine bekannte und abgemachte Sache gilt. Auch das ist ganz in der Ordnung, daß dem materialistischen Fatalismus gegenüber die Bedeutung der Freiheit aufrecht erhalten wird, namentlich für das sittliche Gebiet. Denn hier gilt es nicht mehr zu behaupten, daß das Bewußtsein der Freiheit, eine Wirklichkeit ist, sondern auch, daß der mit dem Bewußtsein der Freiheit und Verantwortlichkeit verbundene Vorstellungsverlauf eine ebenso wesentliche Bedeutung für unser Handeln hat, als diejenigen Vorstellungen, in welchen uns eine Versuchung, ein Trieb, ein natürlicher Reiz zu dieser oder jener Handlung unmittelbar zum Bewußtsein kommt. Wenn daher Wagner meint, der Grund der Nichtbeachtung der Moralstatistik liege in der Abneigung gegen Zahlen und Tabellen, so ist er entschieden im Irrtum. Wie sollte wohl eine solche Abneigung bei Drobisch zu suchen sein, der sich's nicht verdrießen ließ, Tabellen für die hypothetischen Schwellenwerte seiner mathematischen Psychologie zu[845] entwerfen, und der in der Tat auch Quételets Forschungen nicht nur kennt, sondern sie in jeder Richtung versteht und zu beurteilen weiß? Aber wie schwer ist auch ein solcher deutscher Philosoph selbst für wissenschaftlich tüchtige Leser zu verstehen, wenn sie nicht die Systeme und ihre Geschichte im Zusammenhang vor Augen haben! So sagt Drobisch z.B. in einer kurzen und treffenden Kritik der moralstatistischen Folgerungen (Zeitschr. f. ex. Phil. IV. 329): »In allen solchen Tatsachen spiegeln sich nicht reine Naturgesetze ab, denen der Mensch wie einem Verhängnis unterliegen müßte, sondern zugleich die sittlichen Zustände der Gesellschaft, die durch die mächtigen Einflüsse des Familienlebens, der Schule, Kirche, Gesetzgebung bedingt, daher der Verbesserung durch den Willen der Menschen gar nicht fähig sind.« Wer sollte nicht ohne genauere Kenntnis der Herbartschen Psychologie und Metaphysik darin eine apologetische Äußerung für die alte Willensfreiheit finden, wie man sie von einem französischen Professor nicht anders erwarten würde? Und doch ist der menschliche Wille auch nach dem System, welchem Drobisch sich angeschlossen hat, nur eine in strengster Kausalität erzeugte Folge von Zuständen der Seele, welche wieder in letzter Linie nur durch ihre Wechselwirkung mit andern realen Wesen erzeugt werden. Seitdem hat sich denn auch Drobisch in seiner 1867 erschienenen Abhandlung über »Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit« eingehend und für jedermann verständlich über das Verhältnis von Freiheit und Naturnotwendigkeit ausgesprochen und zugleich einige sehr schätzenswerte Beiträge zur Methodologie der Moralstatistik geliefert.

In der Tat hätte Wagner schon durch Buckle, dessen geistvolle Studien ihm sonst mehrfach zur Anregung gedient haben, darauf gebracht werden können, daß die deutsche Philosophie in der Lehre von der Willensfreiheit nun einmal einen Vorsprung hat, der sie diese neuen Studien mit Gemütsruhe betrachten läßt; denn Buckle fußt vor allen Dingen auf Kant, indem er dessen Zeugnis für die empirische Notwendigkeit der menschlichen Handlungen anführt und die transzendentale Freiheitslehre beiseite schiebt (vgl. seine Note am Schluß vom Kap. I.) – Obwohl sonach alles, was der Materialismus aus der Moralstatistik schöpfen kann, schon von Kant eingeräumt ist und alles übrige im voraus zurückgewiesen,550 so bleibt es dennoch für die praktische Geltung einer materialistischen Zeitrichtung gegenüber dem Idealismus keineswegs gleichgültig,[846] ob die Moralstatistik und, wie wir wünschen, die gesamte Statistik in den Vordergrund anthropologischer Studien gerückt wird oder nicht. Denn die Moralstatistik richtet den Blick nach außen auf die wirklich meßbaren Fakten des Lebens, während die deutsche Philosophie, trotz ihrer Klarheit über die Nichtigkeit der alten Freiheitslehre, ihren Blick noch immer gern nach innen, auf die Tatsachen des Bewußtseins richtet. Nur mit dem ersteren Verfahren jedoch darf die Wissenschaft hoffen, allmählich Errungenschaften von dauerndem Werte zu bekommen.

Freilich müssen dabei die Methoden noch ungleich feiner und namentlich die Schlußfolgerungen ungleich behutsamer werden, als sie durch Quételet geworden sind, und man kann in dieser Hinsicht die Moralstatistik als einen der feinsten Prüfsteine vorurteilsfreien Denkens betrachten. So gilt es z.B. noch immer als Axiom, daß die Zahl der verbrecherischen Handlungen, welche in einem Lande jährlich vorkommen, als ein Maßstab der Sittlichkeit zu betrachten sei. Nichts kann verkehrter sein, sobald man einen Begriff der Sittlichkeit im Auge hat, welcher sich einigermaßen über das Prinzip kluger Vermeidung der Strafen erhebt. Von vornherein schon müßte man mindestens, um eine der Sittlichkeit proportionale Zahl zu finden, die Zahl der strafbaren Handlungen dividieren durch die Zahl der Gelegenheiten oder Versuchungen zu strafbaren Handlungen. Es ist ganz selbstverständlich, daß eine gewisse Zahl von Wechselfälschungen in einem Bezirk mit lebhaftem Wechselverkehr nicht dieselbe Bedeutung hat wie dieselbe Zahl in einem gleich großen Bezirk, dessen Wechselverkehr um die Hälfte geringer ist. Die Kriminalstatistik summiert aber nur die absolute Zahl der Fälle, und wo sie sich zu Verhältniszahlen versteigt, nimmt sie höchstens die Bevölkerungszahl als Maßstab und nicht die Zahl der Handlungen oder Geschäfte, aus welchen durch Mißbrauch Verbrechen hervorgehen können. Für manche Arten von Vergehungen ist aber auch der passende Nenner zur Herstellung einer richtigen Verhältniszahl gar nicht zu finden, und doch besteht eine Verschiedenheit der ganzen moralischen Entwicklung zwischen den Bevölkerungsgruppen, die man vergleichen möchte, bei welcher gar nicht daran zu denken ist, daß die auf den Kopf berechnete Verhältniszahl der Verbrechen in beiden Fällen dieselbe ethische und psychologische Bedeutung hätte. Da dieser Punkt von den Moralstatistikern noch nicht hinlänglich beachtet ist, so gestatte ich mir, hier kurz auf die wichtige Erscheinung der ethischen[847] Evolution hinzuweisen, die ich zuerst in meinen Vorlesungen über Moralstatistik an der Bonner Universität (Winter 1857/58) entwickelt und seitdem stets bestätigt gefunden habe, ohne zu einer Veröffentlichung Zeit zu gewinnen. Vergleicht man nämlich den Zustand einer einförmig dahinlebenden Hirtenbevölkerung, wie wir sie etwa in mehreren Departements des innern Frankreich finden, mit dem Zustand einer Bevölkerung, die von der industriellen, literarischen politischen Bewegung der Geister ergriffen ist, bei der das tägliche Leben an sich schon eine reichere Fülle von Vorstellungen erweckt, Handlungen und Entscheidungen fordert, Zweifel erregt und zu Gedanken spornt, und bei welcher noch dazu für den Einzelnen wie für die Gesamtheit der Wechsel von Glück und Unglück größer ist und außergewöhnliche Krisen häufiger werden, so sieht man leicht, daß bei der letzteren Bevölkerung, wie schon eine Betrachtung der Gesichter, der Gestalten, Trachten und Gewohnheiten zeigt, eine ungleich größere Verschiedenheit zwischen den Individuen eintreten muß, und daß jedes einzelne Individuum einem viel stärkeren Wechsel der Einflüsse aller Art ausgesetzt ist. Da nun in ethischer Beziehung eine solche Evolution ebensogut edle wie unedle Eigenschaften fördert und ebensowohl außerordentliche Handlungen der Aufopferung und uneigennützigen Nächstenliebe oder eines heroischen Kampfes für das Gemeinwohl hervorruft, als sie anderseits die Erscheinungen der Habsucht, des Egoismus und maßloser Leidenschaften erzeugt, so kann man einen ethischen Schwerpunkt der Handlungen dieser Bevölkerung fingieren, von welchem sich die einzelnen Akte bald nach der guten, bald nach der schlimmen Seite hin, bald in der Richtung einer sittlich gleichgültigen Exzentrizität entfernen. Bei einer Bevölkerung von geringerer Evolution werden sich sämtliche Handlungen näher um den Schwerpunkt gruppieren, d.h. es werden exzentrische und ausnehmend edle Handlungen verhältnismäßig ebenso selten sein als sehr schlechte. Da nun das Gesetz sich um die große Masse der Handlungen gar nicht kümmert und nur nach gewissen Richtungen hin dem Egoismus und den Leidenschaften eine Schranke zieht, jenseits welcher die Verfolgung und Bestrafung beginnt; so ist es ganz natürlich, daß eine Bevölkerung von höherem Evolutionsgrade bei gleichem ethischen Schwerpunkt eine größere Zahl unsittlicher Handlungen hat, teils weil auf den Kopf überhaupt mehr einzelne erhebliche Willensakte kommen, teils aber auch, weil die größere Exzentrizität der Individuen sich[848] sowohl im guten wie im schlechten Sinne weiter von der Mitte entfernt, während nur ein Teil der Handlungen letzterer Art zur Aufzeichnung kommt. Wie ein starker Wellenschlag auch bei niedrigem Wasserstand leichter über den Uferdamm spritzt als ein schwacher bei höherem, so muß es sich auch hier hinsichtlich der strafbaren Handlungen verhalten.

Eine weitere Ausführung dieses Gegenstandes ist hier nicht an der Stelle, und wir begnügen uns damit zu zeigen, wie weit die Moralstatistik noch davon entfernt ist, schon jetzt in das Innere der Psychologie einzudringen. Um so wichtiger sind jedoch die Außenwerke, und man darf nie vergessen, daß wenn nur eine scharfe Kritik für festen Boden sorgt, hier die geringfügigsten Kleinigkeiten einen bleibenden Wert gewinnen, während ganze Systeme der Spekulation, nachdem sie für einen Augenblick ein blendendes Licht verbreitet haben, für immer der Geschichte anheimfallen.[849]

532

»Die Grundlegung der mathematischen Psychologie. Ein Versuch zur Nachweisung des fundamentalen Fehlers bei Herbart u. Drobisch.« Duisburg 1865 (jetzt im Verl. von Bleuler-Hausheer & Comp. in Winterthur). Cornelius hat in der Zeitschr. f. ex. Phil. Bd. VI, H. 3 eine Widerlegung versucht, welche mir ungeachtet ihres absprechenden Tones keine Replik zu fordern scheint. Eine ruhige Vergleichung der Gründe und Gegengründe dürfte genügen, um die Unhaltbarkeit der mathematischen Psychologie darzu tun. – Wittstein hat eine neue Grundlegung der math. Psychol. versucht, welche den von mir gerügten Fehler in der Grundlegung Herbarts vermeidet, zugleich aber auch zu ganz andern Resultaten führt als die Herbartischen. Es ist aber leicht einzusehen, daß, wenn einmal der Anspruch an strenge metaphysische Deduktion des Prinzips aufgegeben wird, methodologisch bis jetzt keine Veranlassung vorliegt, eine solche Theorie überhaupt aufzustellen.

533

Herbart, Psychol. als Wissenschaft, I, S. 44 (Anfang von § 17): »Wir haben neuerlich eine Geschichte der Psychologie von Carus erhalten, ohne Zweifel ein verdienstliches Werk. Doch wäre eine Kritik der Psychologie im Geiste von Schleiermachers Kritik der Sittenlehre etwas weit Wünschenswerteres.«

534

Vgl. Brentano, Psychol. vom empir. Standpunkte, Leipz. 1874, I. S.13. Die Lehre vom »inneren Sinn« wurzelt in den Reflexionen des Aristoteles (de anima III, c. 2) über das Wahrnehmen der Wahrnehmungen. Sie findet sich entwickelt bei Galen, der drei innere Sinne unterscheidet: das phantastikon, dianoêtikon und mnêmoneutikon. Die Aufgabe derselben ist, das Material, welches die äußeren Sinne liefern, zu ergreifen und mit Bewußtsein zu erkennen (der »sensus communis« der Scholastiker, dem phantastikon Galens entsprechend) durch Verbindung und Trennung andre Erkenntnisse daraus zu gewinnen (cogitatio- dianoêtikon) und die Erkenntnisse aufzubewahren und dem Bewußtsein durch Erinnerung wiederzugeben (memoria). Diesen drei inneren Sinnen wurden im Vorder-, Mittel- und Hinterhaupt besondere Gehirnorgane zuerteilt. Über ihnen stand dann noch, als wesentlich andrer Natur, die Vernunft. Diese Lehre blieb herrschend (vgl. z.B. in Melanchthons Psychologie das Kapitel »de sensibus interioribus«) bis auf Descartes, der die Galenische Basis verließ und eine ganz andre Unterscheidung machte, die späterhin mit den Traditionen von einem äußeren und einem inneren Sinne vielfach konfundiert wurde. Nach Descartes liefern nämlich die Sinne nur rein körperliche Abbilder der Dinge im Gehirn, welche von der Seele wahrgenommen werden. Dieser unglaublich naive Anthropomorphismus, der einfach einen Menschen in den Menschen steckt, verbindet sich mit einer ebenso naiven Abstraktion: die körperlichen Bilder der Dinge im Gehirn sind ausgedehnt; ihre »Wahrnehmung« (perceptio) aber durch die Seele ist ein Akt des »Denkens« (cogitare) im weiteren Sinne, d.h. ein ausdehnungsloser Akt eines ausdehnungslosen Wesens. So wird das Objekt des Vorstellens, welches doch eigentlich dasjenige ist, was unser Bewußtsein erfüllt, willkürlich und widersinnig losgerissen vom Akt des Vorstellens. Damit wird aber das schlechthin nichtsinnliche und unräumliche Denken, welches sich durch die ganze neuere Philosophie hinzieht (die schärfste Opposition gegen dies Phantom findet man bei Berkeley), erst möglich gemacht, und man spricht von den »Vorstellungen« der Seele ganz unbefangen, als ob in ihnen der Inhalt, der doch das allein Wesentliche ist, mitgedacht sei; sobald es aber darauf ankommt, die Unräumlichkeit der Seele zu behaupten, wird die Vorstellung wieder als bloßer Akt des Vorstellens aufgefaßt, d.h. als etwas, das in seiner Lostrennung vom vorgestellten Gegenstande ein reines Nichts ist. Leibniz brachte uns dann die Unterscheidung der sinnlichen »Perzeption« (bei Descartes ist »perceptio« die Wahrnehmnug der Seele) von der »Apperzeption«, welche die bewußte Erfassung des Gegenstandes durch die Seele ist; wiederum eine Unterscheidung, die mit dem »inneren« und »äußeren« Sinn in der Tradition verschmolzen wurde, wiewohl Leibniz sich um die Lehre vom inneren Sinne dabei gar nicht kümmert. Aber auch bei Wolff, Bilfinger und andern hervorragenden Nachfolgern findet sich diese Lehre nirgends ausdrücklich behandelt. Wolff redet jedoch in der »rationalen Psychologie« von einem inneren und äußeren »acumen« des Sinnes (§ 269) und versteht darunter die Schärfung des sinnlichen Wahrnehmungsvermögens durch eine innere oder äußere Ursache: also wiederum eine Unterscheidung ganz andrer Art. – Tetens, phil. Verf. über d. menschl. Natur, 1777 I. S. 45, beklagt sich darüber, daß Wolff den Begriff des inneren Sinnes nicht anwendet. Er selbst nennt, in starker Annäherung an Lockes »reflexion« im Gegensatze zu »sensation«, »Vorstellungen des inneren Sinnes« diejenigen, »die wir von uns selbst, von unsern innern Veränderungen, von unsern Tätigkeiten und Vermögen haben.«

Kant scheint den »inneren Sinn« aus dem gleichen Grunde eingeführt zu haben, aus welchem er überhaupt den Begriffen der überlieferten Psychologie und Logik einen so weitgehenden und in der Tat verhängnisvollen Einfluß auf sein System gestattete: weil er nämlich glaubte, in dem alten und in gewisser Beziehung bewährten Begriffsnetze eine Garantie für die Vollständigkeit der zu behandelnden Erscheinungen zu haben. Daß ihm überall nicht die überlieferte Theorie, sondern die überlieferte Einteilung die Hauptsache war, zeigt er in der Freiheit, zum Teil aber auch in der Vorsicht seiner Definitionen, welche überall sich so wenig als möglich an überlieferte Begriffe binden und nur auf genaue, nichts ohne Not präjudizierende Abgrenzung des Stoffes abzielen. – Nach Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, X, S. 146 u. ff. nimmt Kant den inneren Sinn deswegen an, um den »materiellen Idealismus« gerade auf dem Gebiete zu widerlegen, auf welchem er seine Hauptstütze suchte und um dem Dogma von der Seelensubstanz seine wesentlichste Grundlage zu entziehen. Kant lehrt daher ausdrücklich, entweder dürfe gar kein innerer Sinn angenommen werden, oder das Subjekt, welches der Gegenstand desselben ist, muß, gleich den Gegenständen des äußeren Sinnes, Erscheinung sein. Inwiefern Kant dabei (nach Cohen) schon auf dem Wege zu einer ganz gesunden Psychologie war, welche die »Vermögen« zu Prozessen umgestaltete, lassen wir hier dahingestellt. Jedenfalls ist die nächste Wirkung der Aufnahme des »inneren Sinnes« eine ungünstige und irreleitende gewesen. Auch darf hier wohl noch angedeutet werden, daß die mit der Lehre vom »inneren Sinn« zusammenhängende transzendentale Deduktion der Zeit bei weitem nicht die Evidenz hat wie diejenige des Raumes, daß sie vielmehr den erheblichsten Bedenken ausgesetzt ist.

535

Es mag hier gern zugestanden werden, daß in neuester Zeit die Beobachtung von Vorgängen, die man als »innere« bezeichnet, große Fortschritte gemacht hat und daß nicht nur von Physiologen, sondern auch von Männern, welche sich um die Herstellung einer empirischen Psychologie bemühen, auf diesem Gebiete einiges Brauchbare geleistet worden ist; so z.B. von Stumpf in seiner fein geführten Untersuchung über die Flächenvorstellung des Gleichsinnes (»Über den psychol. Ursprung der Raumvorstellung«, Leipz. 1873, I. Kapitel. – Weit weniger gelungen sind die Untersuchungen des 2. Kap. über »die Tiefenvorst. des Gesichtssinnes«). Es ist jedoch leicht zu sehen, daß das Verfahren hier durchaus dasselbe ist wie bei der äußeren Beobachtung und daß diese Art von »Selbstbeobachtung«, wenn man den Ausdruck anwenden will, genau so weit reicht als die Phantasie, deren Funktionen mit denen der äußeren Wahrnehmung so eng verwandt sind. – Brentano, Psychol. vom empir. Standpunkte, I, Leipz. 1874 stimmt unsrer Kritik der »Selbstbeobachtung« nach der Weise Fortlages vollständig zu; er behauptet aber (S. 41), ich habe, durch die Verwirrung auf diesem Gebiete veranlaßt, die innere »Wahrnehmung«, d.h. also auch den »inneren Sinn« (vgl. die vorhergehende Anmerkung) mit Unrecht geleugnet. Man könne den psychischen Vorgängen niemals unmittelbar die Aufmerksamkeit zuwenden und sie daher auch nicht »beobachten«, wohl aber könne man sie »wahrnehmen«, und diese Wahrnehmung lasse sich alsdann mit Hilfe des Gedächtnisses einer genaueren Untersuchung unterwerfen. Gegenstand der »inneren Wahrnehmung« im Gegensatz zu der äußeren sind nach Brentano die »psychischen Phänomene« und diese sollen sich von den physischen unterscheiden lassen durch das Kriterium der »intentionalen Inexistenz«, d.h. der Beziehung auf etwas als Objekt (S. 127). Danach zählt Brentano nicht nur die Erscheinungen, welche uns die Sinne geben, sondern auch die Bilder der Phantasie zu den physischen Phänomenen; psychisch dagegen ist die Vorstellung als Akt des Vorstellens (S. 103 u. f.). Damit gewinnt Brentano allerdings wie Descartes (vgl. die vorhergehende Anmerkung) einen sicheren Unterschied des Physischen und des Psychischen, aber auf die Gefahr hin, eine bloße Illusion zur Basis seines ganzen Systems zu machen. Die Unmöglichkeit einer Trennung des Aktes der Vorstellung von ihrem Inhalte haben wir schon in Anm. 43 gezeigt. Wie verhält es sich aber mit den Gemütsbewegungen? Der Zorn z.B. ist nach Brentano ein psychisches Phänomen, weil er sich auf einen Gegenstand bezieht. Was aber kann man am Zorn wahrnehmen und mit Hilfe des Gedächtnisses beobachten? Nichts als lauter sinnliche Symptome, bei denen überall wieder die Wahrnehmung in vollkommner Analogie stehe mit der gewöhnlichen äußeren Wahrnehmung. Das Geistige im Zorn liegt in der Art und Weise, in Maß, Verbindung und Folge dieser Symptome, nicht in einem abtrennbaren Vorgang, der sich besonders wahrnehmen ließe.

536

Schaller, Psychologie, Weimar 1860, S. 17.

537

Auch auf diesem Gebiete sind seit dem Erscheinen unsrer 1. Aufl. einige vielversprechende Anfänge der Einsicht gewonnen worden. Auf der einen Seite haben wir den Versuch von Bert über die Lichtempfindungen der Wasserflöhe, welcher zu beweisen scheint, daß für diese Tiere genau dieselben Strahlen Lichtempfindung hervorrufen, wie für den Menschen (der Pariser Akad. mitgeteilt d. 2. Aug. 1869); auf der andern die Untersuchung von Eimer und Schöbl (Arch. f. mikrosk. Anat. VII, Heft 3; zitiert Naturf. VI, Nr 26) über die Tastorgane in der Schnauze des Maulwurfs und im inneren Ohr der Mäuse, wo sich ein so ungemeiner Reichtum von Tastapparaten vorfindet, daß wir uns die Empfindungsart wie die Leistungen von dem, was wir Tastempfindung nennen, wohl spezifisch verschieden denken müssen. Genaue Experimente über die Leistungen fehlen freilich noch, so wie man umgekehrt für die längst bekannten Leistungen des »Fledermaussinnes« (nach Spallanzanis Versuchen) die physiologische und anatomische Erklärung noch vermißt. Auch die von den Schallschwingungen bewegten Härchen an der freien Körperfläche der Krebse (Hensen, Studien über das Gehörorgan der Decapoden, Leipz. 1863, zitiert bei Helmholtz, Lehre von d. Tonempfind., S. 234 u. f.), sowie die Nervenhaare auf der Oberhaut junger Fische und nackter Amphibien (nach F. H. Schulze, in Müllers Archiv 1861 p.759) dürften wohl Empfindungen von ganz andrer Qualität als die unsrigen vermitteln. – Wundt, physiol. Psychol. S. 342, Anm. 1 bemerkt: »Es muß übrigens zugestanden werden, daß es Organismen geben mag, bei welchen die beim Menschen nur als Anlage vorhandene Disposition zu einem Kontinuum der Geruchs- und der Geschmacksempfindungen zu einer wirklichen Ausbildung gelangt ist, ebenso wie anderseits sehr wahrscheinlich Organismen existieren, bei denen das Kontinuum der Gehör- und Lichtempfindungen, das der Mensch besitzt, fehle, so daß statt dessen nur diskrete Mannigfaltigkeiten vorhanden sind.«

538

Vgl. Kußmaul, Unters. über das Seelenleben des neugebornen Menschen. Leipzig u. Heidelberg 1859.

539

Bastian, der Mensch in der Geschichte, Leipzig 1860, 3 Bde.; Beitr. zur vergl. Psychol., Berl. 1868; Ethnolog. Forschungen, Jena 1871. – Hauptsächlich in der Schrift: Das Beständige in den Menschenrassen, Berlin 1868, hat sich Bastian in eine schroffe und viel zu weit gehende Opposition gegen den Darwinismus eingelassen, was jedoch dem Werte seines Grundgedankens keinen Eintrag tut: die Gleichmäßigkeit im geistigen Zustande der Völker und namentlich in ihren mythologischen Überlieferungen nicht sowohl aus der Abstammung von einem gemeinsamen Urvolke zu erklären, als vielmehr aus der gleichen psychologischen Grundlage, welche mit Notwendigkeit zu gleichen und ähnlichen Gebilden des Aberglaubens und der Sage führen mußte.

540

Domrich, die psychischen Zustände; ihre organische Vermittlung und ihre Wirkung in Erzeugung körperlicher Krankheiten. Jena 1849.

541

In meinen Vorlesungen über Psychologie habe ich stets einige Experimente dieser Art eingeschaltet und mich dabei von ihrer Stichhaltigkeit und Beweiskraft ebensosehr wie von ihrem didaktischen Werte immer mehr überzeugt.

542

Vgl. die Abhandlungen in den Berichten der königl. sächs. Gesellsch. d. Wissensch., phil.-hist. Klasse, 1866, S. v. 26. Mai, S. 75 u. ff. und 1871, S. v. 1. Juli, S. 1 u. ff. Drobisch hat durch diese bahnbrechenden Untersuchungen nicht etwa nur ein glänzendes Beispiel der Anwendung der numerischen Methode auf die Philologie gegeben, sondern auch den psychologisch wichtigen Beweis geliefert, daß in Sprache und Poesie Regelmäßigkeiten zutage treten, von deren Herstellung im einzelnen die Schriftsteller kein Bewußtsein haben. Was sich subjektiv als Takt, Gefühl, Geschmack darstellt, erscheint objektiv als ein bestimmten Gesetzen folgender Bildungstrieb. Hierdurch fällt u. a. auch ein ganz neues Licht auf die zahlreichen metrischen »leges«, welche man seit Ritschls Plautus-Forschungen in den lateinischen Dichtern entdeckt hat. Manches, was man, wiewohl mit einiger Verwunderung, als bewußte Regel ansah, stellt sich jetzt als Wirkung eines unbewußt waltenden Naturgesetzes heraus.

543

Vgl. Herbert Spencer, principles of psychology, 2. ed., London 1870 u. 1872. – Alexander Bain, the senses and the intellect, 2. ed., London 1864; – the emotions and the will, 2. ed., London 1865. Von demselben erschien ferner in der »Internationalen Bibliothek« III. Bd.: Geist und Körper, die Theorien über ihre gegenseitigen Beziehungen, Leipzig 1874.

544

Dr. Johnson, die Ableit. der Raumvorstell. bei den englischen Psychologen der Gegenwart, in d. Phil. Monatsh. IX. 1. Januar 1873, S. 43 u. ff. – Stumpf, Dr. Karl, über den psychol. Urspr. der Raumvorstellung. Leipzig 1873.

545

Spencer, princ. of psychol. 2. ed. I, p. 140, § 56: »Under its subjective aspect, Psychology is a totally unique science, independent of and antithetically opposed to all other sciences whatever.«

546

Bain, Geist und Körper, S. 46: »Es findet eine ganz bestimmte Veränderung der Empfindung, eine gleichmäßige Steigerung des Behagens oder des Schmerzes statt, je nachdem die Temperatur um 10°, 20 oder 30 zunimmt. So gibt es für alle Verhältnisse ein sensationelles Äquivalent des Alkohols, von Gerüchen, von Musik usw.«

547

A.a.O. S. 59 u. ff.

548

Man hat neuerdings (so Stumpf, Brentano u. a.) etwas darin gesucht, die »unbewußten« oder »latenten« Vorstellungen aus der Psychologie zu beseitigen. Wenn man sich dabei auf Lotze stützt, ist nicht viel dagegen zu erinnern, denn dieser nimmt ausdrücklich an, daß die Vorstellungen mit Hirnfunktionen verbunden sind, welche sich, ohne selbst Bewußtsein zu erregen, doch an unserm Gedankenlaufe beteiligen (Mediz. Psychol. §1 409 u. 410). Daß Lotze dabei gleichwohl die Assoziationen (§ 411) nicht der Physiologie, sondern einer »metaphysischen Psychologie« zuweist, ist eine Inkonsequenz, die sich bei näherer Betrachtung leicht heben muß. Der Rest bleibt Wortstreit. Ein materieller Irrtum liegt dagegen sicherlich bei Brentano vor, wenn er meint, überall mit bewußt gewesenen, aber wieder vergessenen Vorstellungen durchzukommen. Vgl. namentlich die unzureichende Art, in welcher Brentano die Annahmen Maudsleys über unbewußte Geistesarbeit zu widerlegen versucht (Psychol. vom empir. Standp. S. 138 u. ff.). Gerade Goethe, dessen Äußerung, daß ungewöhnliches Talent nur eine geringe Abweichung von gewöhnlichem sei, von Brentano gegen das unbewußte Arbeiten des Genies benutzt wird, hat sich so oft und so deutlich über die unbewußten Prozesse ausgesprochen, aus denen die künstlerische Produktion hervorgeht, daß man sein Zeugnis als ein durchaus vollwichtiges wird annehmen müssen. Mit der Seltenheit der genialen Denker ist aber gar nichts gesagt, denn die genialische Art zu produzieren braucht deshalb nicht auch selten zu sein. Man findet sie mehr oder weniger bei jedem Künstler. – Eine Sammlung hierher gehöriger Äußerungen von Schriftstellern und Künstlern gibt J. C. Fischer, das Bewußtsein, Leipzig 1874, im 6. Kapitel.

549

Wie wenig der ethische Materialismus berechtigt ist, die Moralstatistik wegen ihres Gegensatzes gegen die Lehre von der Willensfreiheit zu einer spezifisch materialistischen Wissenschaft zu machen, zeigt die interessante Tatsache, daß wir die beste Bearbeitung derselben gegenwärtig einem streng lutherischen Theologen verdanken, der seine christliche Ethik auf diese empirische Grundlage zu stützen sucht. Vgl. Oettingen, die Moralstatistik. Induktiver Nachweis der Gesetzmäßigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschlichkeit. Erlangen 1868; neuerdings schon in 2. Aufl. erschienen. – Freilich ist die Moralstatistik ebensowenig orthodox lutherisch als materialistisch.

550

Eine spezielle Ausführung der hier angedeuteten Punkte müßte schon sehr eingehend sein, um den Leser von andern Hilfsmitteln einigermaßen unabhängig zu machen; sie ist aber auch um so weniger nötig, da wir außer den Handbüchern der Physiologie mit den größeren Monographien von Helmholtz u. a. zugleich des letzteren »populäre Vorträge« haben (Braunschweig 1865 u. 1871); ferner Wundts Physiol. Psychol., in welcher alle hierher gehörige Fragen in eingehendster Weise behandelt sind. Vgl. ferner Fick, die Welt als Vorstellung, akad. Vortr., Würzburg 1870 und Preyer, die fünf Sinne des Menschen, Leipzig 1870.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 818-850.
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