55. Geheimnisvoller Zauber[59] 1

Wer festhält des LEBENS Völligkeit,

der gleicht einem neugeborenen Kindlein:

Giftige Schlangen stechen es nicht.

Reißende Tiere packen es nicht.

Raubvögel stoßen nicht nach ihm.

Seine Knochen sind schwach, seine Sehnen weich,

und doch kann es fest zugreifen.

Es weiß noch nichts von Mann und Weib,

und doch regt sich sein Blut,

weil es des Samens Fülle hat.

Es kann den ganzen Tag schreien,

und doch wird seine Stimme nicht heiser,

weil es des Friedens Fülle hat.

Den Frieden erkennen heißt ewig sein.

Die Ewigkeit erkennen heißt weise sein.

Das Leben mehren nennt man Glück.

Für sein Begehren seine Seelenkraft einsetzen, nennt man stark.

Sind die Geschöpfe stark geworden, altern sie.

Denn das ist Wider-SINN.

Und Wider-SINN ist nahe dem Ende.


Erklärung

1 Zur Erklärung der Besiegung aller Gefahren vgl. No. 50. Eine Parallele findet sich übrigens in den Verheißungen der apokryphen Stelle Marc. 16, 17 f. Den Ausdruck: »Es weiß noch nichts von Mann und Weib, und doch regt sich sein Blut usw.« gibt Strauß wörtlich genau auf griechisch wieder: οὔπω γιγνώσκει τὴν τῶν γυναικῶν ἀνδρῶν τε σύμμιξιν. καίτο το αἰδοῑον στύεται – σπέρματος περισσεἰα. »Weil es des Friedens Fülle hat« ist soviel wie innere Harmonie.

Zum Schluß ist wieder interessant die unmerkliche Antithese: »Den Frieden erkennen heißt ewig sein. Die Ewigkeit erkennen heißt weise sein« zu den nachfolgenden Zeilen: »Das Leben mehren nennt man Glück (vgl. dazu No. 50). Für sein Begehren seine Seelenkraft einsetzen (wir würden sagen: Nervenkraft) nennt man stark«, eine Antithese, die durch die abschließende Verurteilung eine grelle Beleuchtung bekommt.

Die Schlußzeilen passen hier besser in den Zusammenhang als in No. 30.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 59-60.