1. Verkörperung des Sinns[3] 1

Der SINN, den man ersinnen kann,

ist nicht der ewige SINN.

Der Name, den man nennen kann,

ist nicht der ewige Name.

Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt.

Diesseits des Nennbaren liegt die Geburt der Geschöpfe.

Darum führt das Streben nach dem Ewig-Jenseitigen

zum Schauen der Kräfte,

das Streben nach dem Ewig-Diesseitigen

zum Schauen der Räumlichkeit.

Beides hat Einen Ursprung und nur verschiedenen Namen.

Diese Einheit ist das Große Geheimnis.

Und des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis:

Das ist die Pforte der Offenbarwerdung aller Kräfte.


Erklärung

1 Dieser Abschnitt bildet gewissermaßen die theoretische Grundlage des ganzen Werks. Er beginnt mit einer Abgrenzung gegen die übliche rein praktische Anwendung der Begriffe SINN und Name. »Sinn« (bezw. »Weg«; vgl. Einleitung) war in den Zeiten der niedergehenden Dschoudynastie häufig als die Summe der von den alten Königen überlieferten Lehren zur Leitung des Volks verstanden worden. Dieser »Sinn« in seiner historischen Begrenztheit ist nicht das, was Laotse im Auge hat. Sein Begriff (»Name«) ist überzeitlich, daher nicht anwendbar auf irgend etwas empirisch Vorhandenes. Damit verläßt Laotse den Boden des historisch Überlieferten und wendet sich der Spekulation zu.

Hier findet er das Sein in seiner zweifachen Form als absolutes An- und Für-sich-sein (»jenseits des Nennbaren«) und als Dasein (»diesseits des Nennbaren«). Im absoluten Sein in seiner negativen Form ist die Existenzmöglichkeit der Welt (der geistigen = Himmel und der materiellen = Erde) gesetzt, während innerhalb des Daseins die stetige Neugeburt der Einzelwesen sich vollzieht. Dem entsprechend gestaltet sich die Erkenntnis: die Richtung auf das Absolute führt zur Erkenntnis des Jenseitigen (des »Denkens«), die Richtung auf das Dasein führt zur Erkenntnis der räumlichen, ausgebreiteten Welt der Individuation. Diese beiden (»Denken und Sein« würde Spinoza sagen) sind aber nur Attribute des Alleinen, identisch im Wesen und nur verschieden in der Erscheinung. Zur Erklärung dieser Einheit spielt Laotse auf die symbolische Figur des Tai Gi (Uranfang) an, die im alten chinesischen Gedankenleben eine Rolle spielt und namentlich später zu unendlichen Spielereien verwendet wurde, nämlich die bildliche Darstellung des Ineinanderseins von Positivem und Negativem:


1. Verkörperung des Sinns

wobei die weiße Kreishälfte, die in sich wieder einen schwarzen Kreis mit weißem Punkt hat, das positive, männliche, lichte Prinzip bedeutet, während die entsprechend gestaltete schwarze Hälfte das negative, weibliche, dunkle Prinzip versinnbildlicht. Diese symbolische Figur ist wohl gemeint mit dem großen Geheimnis der Einheit des Seienden und Nichtseienden (= μη ὀν, wie immer bei Laotse, wenn vom »Nichtseienden« die Rede ist). Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis wäre dann das sogenannte Wu Gi (der »Nichtanfang«, noch jenseits des Tai Gi), in dem alle Unterschiede noch ungetrennt durcheinander sind, und das durch einen einfachen Kreis dargestellt zu werden pflegt:


1. Verkörperung des Sinns

Es ist sozusagen die bloße Möglichkeit des Seins, gewissermaßen das Chaos. Vgl. hierzu Abschnitt 25.

Zum »Tor des SINNS« vgl. Kung, Gespräche VI, 15 (pag. 55).

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 3.