10. Möglichkeiten[11] 1

Wer leuchtend seinen Geist bewahrt, daß er Eines nur umfängt,

der mag wohl innern Zwiespalt vermeiden.

Wer seine Seele einfältig macht und demütig,

der mag wohl werden wie ein Kindlein.

Wer reinigt und läutert sein inneres Schauen,

der mag wohl seiner Fehler ledig werden.

Wer seine Leute liebt als Herrscher des Reichs,

der mag wohl ohne Handeln wirken können.

Wenn des Himmels Pforten sich öffnen und schließen,

so mag er wohl rein empfangend sein.

Wer mit klarem Blicke alles durchdringt,

der mag wohl ohne Kenntnisse bleiben.

Erzeugen und ernähren,

erzeugen und nicht besitzen:

wirken und nicht behalten,

mehren und nicht beherrschen:

Das ist geheimes LEBEN.


Erklärung

1 Der Anfang gibt in seiner jetzigen Gestalt keinen eindeutigen Sinn. Man muß sich wohl mit einer Korruption des Textes zufriedengeben. Der allgemeine Sinn dürfte wohl der sein: Einheitlichkeit des Strebens gibt ungeteiltes Leben, das als solches auch dem Tod widerstehen kann. Vgl. No. 22 und 39 über die Wirkung der Einheit.

Zum Bild des Kindleins, das häufig wiederkehrt, vgl. Matth. 18, 3 f.

Zeile 9. Wohl im Anschluß an No. 1 und 6 zu verstehen. Das Wort, das mit »rein empfangend« übersetzt ist, bedeutet ursprünglich das Weibchen eines Vogels. Es ist höchst wahrscheinlich, daß hier auf einen dunkeln Schöpfungsmythus angespielt ist. Vgl. auch die Auffassung des Heiligen Geistes als einer Taube in der christlichen Terminologie und die Vorstellung des über der Tiefe brütenden Geistes in Gen. I. Spätere Kommentatoren sehen in den Toren des Himmels die Körperöffnungen.

Zeile 11. Gegensatz der inneren Intuition und des diskursiven Wissens, der bei Laotse sich durchgehends findet und ihm von der konfuzianischen Schule verübelt wurde, obwohl auch Kung das angeborene, intuitive Wissen als das höchste ansieht. Vgl. Gespräche Buch XVI, 9 (pag. 187).

Die Schlußzeilen bilden einen formulierten Zusammenhang, der auch in No. 51 wiederkehrt. Wohl ebenfalls Traditionsgut.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 11-12.