14. Lob des Geheimnisses[15] 1

Man schaut nach ihm und sieht ihn nicht:

Sein Name ist: Gleich.

Man horcht nach ihm und hört ihn nicht:

Sein Name ist: Fein.

Man faßt nach ihm und ergreift ihn nicht:

Sein Name ist: Klein.

Diese drei kann man nicht trennen,

sie sind vermischt und bilden Eines.

Sein Oberes ist nicht klarer,

sein Unteres ist nicht trüber.

Grenzenlos quellend,

man kann ihn nicht nennen,

er reicht zurück ins Nicht-Wesen.

Das ist es, das gestaltlose Gestalt heißt,

und das bildloses Bild heißt.

Das ist es, das Unsichtbarkeit heißt:

Ihm entgegenkommend sieht man nicht sein Antlitz,

ihm folgend sieht man nicht seine Rückseite.

Wer erfaßt den SINN des Alten,

kann damit beherrschen das Sein des Heute

und kann die Uranfänge erkennen:

Das ist des SINNS durchgehender Faden.


Erklärung

1 Die drei Namen des SINNS: »Gleich«, »Fein«, »Verborgen« bezeichnen seine Übersinnlichkeit. Die Versuche, aus den chinesischen Lauten I, Hi, We den hebräischen Gottesnamen herauszulesen, dürfen wohl als endgültig erledigt angesehen werden. (Victor von Strauß glaubte bekanntlich noch daran; vgl. seine Übersetzung.)

Daß die hier gezeichnete Anschauung des SINNS (der Gottheit) manche Parallelen in der israelitischen hat, sei nicht geleugnet; vgl. bes. die Stellen II. Mos. 33 und I. Kön. 19 zu unserem Abschnitt. Doch sind derartige Übereinstimmungen auch ohne direkte Berührung verständlich genug. Diese Anschauung von der Gottheit bezeichnet einfach eine bestimmte Entwicklungsstufe des menschlichen Bewußtseins in seiner Erkenntnis des Göttlichen. Zudem darf der fundamentale Unterschied zwischen der unpersönlich-pantheistischen Konzeption Laotses und der scharf umrissenen historischen Persönlichkeit des israelitischen Gottes nicht außer acht gelassen werden.

Die letzten Zeilen beziehen sich auf die Übergeschichtlichkeit dieser Wahrheit. In dieser Wahrheit ist Vergangenheit und Gegenwart eins. Das Historische, das bei Kung eine so wichtige Rolle spielte, fällt für Laotse notwendig als bedeutungslos in nichts zusammen. Er verwendet zwar die Wahrheitserkenntnisse des Altertums wiederholt (vgl. die mannigfachen Zitate), aber nur insofern sie in seiner Richtung liegen. Er steht neben ihnen, nicht auf ihnen (vgl. den folgenden Abschnitt).

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 15-16.