20. Abseits von der Menge[21] 1

Gebt auf eure Gelehrsamkeit:

so werdet ihr frei von Sorgen!

Zwischen Ja und Jawohl: was ist da für ein Unterschied?

Zwischen Gut und Böse: was ist da für ein Unterschied?

Was aber alle verehren,

das darf man nicht ungestraft bei Seite setzen.

O Einöde, habe ich noch nicht deine Mitte erreicht?

Die Menschen der Menge sind strahlend,

wie bei der Feier großer Feste,

Wie wenn man im Frühling auf die Türme steigt:

Ich allein bin unschlüssig, noch ohne Zeichen für mein Handeln.

Wie ein Kindlein, das noch nicht lachen kann!

Ein müder Wanderer, der keine Heimat hat!

Die Menschen der Menge leben alle im Überfluß:

Ich allein bin wie verlassen!

Wahrlich, ich habe das Herz eines Toren!

Chaos, ach Chaos!

Die Menschen der Welt sind hell, so hell:

Ich allein bin wie trübe!

Die Menschen der Welt sind so wißbegierig:

Ich allein bin traurig, so traurig!

Unruhig, ach, als das Meer!

Umhergetrieben, ach, als einer der nirgends weilt!

Die Menschen der Menge haben alle etwas zu tun:

Ich allein bin müßig wie ein Taugenichts!

Ich allein bin anders, als die Menschen:

Denn ich halte wert die spendende Mutter.


Erklärung

1 Der Abschnitt wird vielfach mißverstanden, indem man die Analogie von Zeile 2 und 3 übersieht und übersetzt: »Zwischen Ja und Jawohl (der bestimmten, männlichen und der zögernden, weiblichen Bejahung) ist zwar kein wesentlicher Unterschied. Wie groß dagegen ist der Unterschied zwischen Gut und Böse!« Unsere Auffassung wird übrigens durch No. 2 gedeckt. Man versperrt sich auch den Weg zum Verständnis der folgenden tragischen Klagen des vereinsamten Individualisten inmitten der »ungebrochenen«, daseinsfreudigen Menschenwelt, wenn man die bittere Ironie von Zeile 4 als platte Ermahnung faßt. Die Klagen über Vereinsamung dessen, der »unter Larven die einzige fühlende Brust« ist, sind religionsgeschichtlich überaus interessant als die Kehrseite des religiösen Individualismus, wie sie ganz ähnlich der Prophet Jeremia zum Ausdruck bringt (vgl. Jer. 20, 8 ff.). Es handelt sich hier um eine typische Erscheinung, die mit der Erlangung einer prinzipiell höheren Entwicklungsstufe stets notwendig verknüpft ist. Besonders interessant, weil in China die soziale Psyche den Sieg errungen hat über die individuelle.

»Einöde, habe ich noch nicht deine Mitte erreicht?« Wir folgen hier der überwiegenden Tradition. Andre wollen erklären: »Des Weisen Erkenntnis ist unbegrenzt und unermeßlich«.

»Ich bin allein unschlüssig, weil mir noch kein Zeichen geworden.« Das »Zeichen« ist das Orakel, das vor jeder wichtigen Unternehmung befragt wird (im Altertum durch Schildkrötenschalen, die angebrannt werden und aus deren Rissen man die Antwort liest) und das gesprochen haben muß, ehe man etwas unternehmen kann. Hier wohl weiter zu fassen. Vgl. die Klagen Kungs, daß ihm kein Zeichen zuteil werde (Gespräche Buch IX, 8, pag. 89).

»Unruhig, ach, als das Meer«; wir folgen hier dem Text Wang Bi's. Die andere Lesart ist »unruhig wie umdüstert«.

Zur letzten Zeile sei die Lesart erwähnt: »denn ich halte es wert, von der Mutter zu essen«.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 21-22.