Kapitel I.

Von den Worten oder der Sprache im allgemeinen

[270] § 1. Philalethes. Da Gott den Menschen zu einem geselligen Geschöpf gemacht hat, hat er ihm nicht nur den Wunsch gegeben und ihn in die Notwendigkeit versetzt, mit seinesgleichen zu leben, sondern ihm auch das Vermögen der Sprache verliehen, welche das große Hilfsmittel und das gemeinsame Band dieser Gesellschaft sein sollte. Das ist der Ursprung der Worte, welche dazu dienen, die Vorstellungen zu vertreten und sogar zu erklären.

Theophilus. Ich freue mich, Sie von der Ansicht des Hobbes fern zu finden, der nicht zugeben wollte, daß der Mensch für die Gesellschaft gemacht sei, indem er sich vorstellte, daß man nur durch die Notwendigkeit und durch die Bosheit von seinesgleichen dazu gezwungen worden. Er erwog aber nicht, daß die besten, von jeder Bosheit freien Menschen sich, um ihnen Zweck besser zu erreichen, vereinigen würden, wie die Vögel, um in Gesellschaft besser zu reisen, sich zusammenscharen, und wie die Biber sich zu Hunderten vereinigen, um große Dämme zu bauen, was eine kleine Zahl dieser Tiere nicht zustande bringen könnte; und diese Dämme sind ihnen nötig, um damit Wasserbehälter oder kleine Seen zu machen, in denen sie ihre Hütten erbauen und Fische fangen, von denen sie sich nähren. Das ist der Grund der Geselligkeit der Tiere, die dazu gemacht sind, und keineswegs die Furcht vor ihresgleichen, welche bei den Tieren nicht vorkommt.

[270] Philalethes. Ganz recht; und um diese Geselligkeit besser zu pflegen, sind von Natur die Organe des Menschen in der Art geformt, daß sie artikulierte Töne zu bilden geeignet sind, die wir Worte nennen.

Theophilus. Was die Organe betrifft, so haben die Affen dem Scheine nach ebenso geeignete, wie wir, um Worte zu bilden, und doch trifft man bei ihnen nicht die geringste Annäherung dazu an. Es muß ihnen also dazu etwas, was nicht in die Sinne fällt, fehlen. Man muß auch in Betracht ziehen, daß man sprechen d.h. durch die Laute des rundes sich vernehmlich machen könnte, wenn man sich der Töne der Musik zu diesem Zwecke bediente. Aber um eine Sprache der Töne zu finden, würde es mehr Kunst bedürfen, während die der Worte nach und nach durch Menschen, die sich in der natürlichen Einfachheit bewegen, hat gebildet und vervollkommnet werden können. Indessen gibt es Völker, wie die Chinesen, wel che mittelst der Töne und Akzente ihre Worte vermannigfaltigen, da sie deren nur eine kleine Zahl haben. Dies war denn auch der Gedanke des Golius, eines berühmten Mathematikers und großen Sprachkenners, daß die Sprache der Chinesen künstlich sei, d.h. daß sie auf einmal durch irgend einen klugen Mann erfunden worden sei, um einen Wortverkehr zwischen einer Menge von verschiedenen Nationen herzustellen, welche jenes große Land, welches wir China nennen, bewohnen, wenn diese Sprache sich auch jetzt durch den langen Gebrauch verändert haben könnte.

§ 2. Philalethes. Wie der Orang Utan und andere Affen die Organe haben, ohne Worte zu bilden, so kann man sagen, daß die Papageien und einige andere Vögel Worte haben, ohne Sprache zu haben, denn man kann diese und einige andere Vögelgattungen abrichten, ganz deutliche Worte zu bilden; dennoch sind sie keineswegs der Spräche fähig. Nur der Mensch ist imstande, sich dieser Laute als Zeichen innerer Vorstellungen zu bedienen, um sie dadurch anderen kund tun zu können.

Theophilus. Ich glaube, daß wir ohne den Wunsch, uns verständlich zu machen, in der Tat niemals die Sprache gebildet haben würden; nachdem sie aber gebildet worden ist, dient sie den Menschen noch dazu, über sich selbst nachzudenken, sowohl durch das Mittel,[271] welches ihm die Worte gewähren, sich abstrakter Gedanken zu erinnern, als durch den Nutzen, welchen man beim Nachdenken im Gebrauch von Charakteren und tauben Gedanken findet. Denn es würde zu viel Zeit erfordern, wenn man alles erklären und die Definition immer an die Stelle der Ausdrücke setzen wollte.

§ 3. Philalethes. Da aber die Vervielfältigung der Worte deren Gebrauch verwirrt haben würde, wenn man zur Bezeichnung jedes besonderen Dinges ein bestimmtes Wort nötig gehabt hätte, so ist die Sprache durch den Gebrauch allgemeiner Ausdrücke, die da die allgemeinen Vorstellungen bezeichnen, noch vervollkommnet worden.

Theophilus. Die allgemeinen Ausdrücke dienen nicht allein zur Vollkommenheit der Sprachen, sondern sind sogar notwendig, um ihr Wesen herzustellen. Denn wenn man unter den besonderen Dingen die individuellen Dinge versteht, so würde es unmöglich sein zu sprechen, wenn es nur Eigennamen und keine Appellativa gäbe, d.h. wenn es nur Worte für das Individuelle gäbe, da in jedem Augenblick Neues wiederkehrt, wenn es sich um individuelle Zufälligkeiten und besonders um Handlungen handelt, welche man gerade am meisten bezeichnete wenn man aber unter den besonderen Dingen die niedrigsten Arten (species infimas) versteht, so ist es außer der häufig vorkommenden Schwierigkeit, sie fest zu bestimmen, auch offenbar, daß sie schon auf die Ähnlichkeit begründete allgemeine Begriffe sind. Da es sich also nur um die größere oder geringere Ähnlichkeit handelt, je nachdem man von Gattungen oder Arten spricht, so ist es natürlich, jede Art von Ähnlichkeit oder Übereinstimmung zu bezeichnen und folglich allgemeine Worte jeglichen Grades anzuwenden; und selbst die allgemeinsten, da sie in Hinsicht der von ihnen umfaßten Vorstellungen oder Wesenheiten, mögen sie auch umfassender sein, weniger in sich enthalten, waren sehr oft in Hinsicht auf die Individuen, denen sie zukommen, leichter zu bilden und sind die nützlichsten. So sehen Sie auch, daß die Kinder und diejenigen, die von der Sprache, welche sie sprechen wollen oder von dem Gegenstand, wovon sie sprechen, nur wenig wissen, allgemeiner Worte sich bedienen, wie Sache, Pflanze, Tier, statt besondere Worte anzuwenden, die ihnen fehlen. Und es[272] ist sicher, daß alle Eigennamen oder individuelle Bezeichnungen ursprünglich Appellativa oder allgemeine Worte gewesen sind.

§ 4. Philalethes. Es gibt sogar Worte, welche die Menschen anwenden, nicht um eine Vorstellung, sondern um den Mangel oder die Abwesenheit einer gewissen Vorstellung zu bezeichnen, wie Nichts, Unwissenheit, Unfruchtbarkeit.

Theophilus. Ich sehe nicht ein, warum man nicht sagen könnte, daß es negative Vorstellungen gibt, wie es negative Wahrheiten gibt, denn die Handlung des Verneinens ist positiv. Ich habe dies schon vorher einigermaßen berührt.

§ 5. Philalethes. Ohne darüber zu streiten, wird es, um sich dem Ursprunge aller unserer Begriffe und Erkenntnisse ein wenig mehr zu nähern, zu bemerken nützlich sein, wie die Worte, welche man zum Ausdruck für den Sinnen ganz entrückte Handlungen und Begriffe anwendet, ihren Ursprung aus den sinnlichen Vorstellungen gewinnen, von woher sie zu abstruseren Bezeichnungen übertragen worden sind.

Theophilus. Unsere eigenen Bedürfnisse zwingen uns, die natürliche Ordnung der Vorstellungen zu verlassen, denn wenn wir nicht auf unsere Interessen Rücksicht nähmen, würde diese Ordnung Engeln und Menschen und allen Geistern im allgemeinen gemeinsam sein und von uns befolgt werden müssen. Wir haben uns also dem anpassen müssen, was Gelegenheiten und Zufälle, denen unser Geschlecht einmal unterworfen ist, uns geliefert haben, und diese Ordnung gibt nicht den Ursprung der Begriffe, sondern sozusagen die Geschichte unserer Entdeckungen.

Philalethes. Sehr richtig, und zwar kann uns die Analyse der Worte mittelst der Namen selbst die Verkettung lehren, welche die Analyse der Begriffe aus dem von Ihnen schon angeführten Grunde nicht geben kann. So sind folgende Worte: sich einbilden, begreifen, anhangen, verstehen, eingeben, sich ekeln, Verwirrung, Ruhe alle von den Wirkungen sinnlicher Dinge entlehnt und gewissen Denkmodi angepaßt. Das Wort Geist ist in seiner ersten Bezeichnung der Wind, und das Wort Engel bedeutet Bote. Daraus können wir[273] abnehmen, welche Art von Begriffen diejenigen hatten, welche jene Sprache zuerst redeten, und wie die Natur den Menschen den Ursprung und Anfang aller ihrer Erkenntnisse durch die Worte selbst unbewußterweise darbot.

Theophilus. Ich habe Ihnen schon bemerklich gemacht, daß man in dem Glaubensbekenntnis der Hottentotten den heiligen Geist durch ein Wort bezeichnet hat, das bei ihnen einen wohltätigen und sanften Windeshauch bezeichnet. Ebenso verhält es sich in Bezug auf die meisten anderen Worte, und man erkennt das sogar nicht immer, weil die wahren Wortableitungen in den meisten Fällen verloren gegangen sind. Ein gewisser der Religion wenig zugetaner Holländer hat von dieser Wahrheit (daß nämlich die Ausdrücke der Theologie, Moral und Metaphysik ursprünglich von gemeinsinnlichen Dingen hergenommen sind) den schlimmen Gebrauch gemacht, die Theologie und den christlichen Glauben in einem kleinen flamändischen Wörterbuche lächerlich zu ma chen, worin er in boshafter Wendung den Ausdrücken nicht solche Definitionen und Erklärungen gab, wie der Sprachgebrauch es verlangt, sondern wie die ursprüngliche Bedeutung der Vierte zu ergeben schiene und da er auch sonst Zeichen von Gottlosigkeit gegeben hatte, wurde er, wie man sagt, im Raspelhaus dafür bestraft. Indessen ist es gut, diese Analogie der sinnlichen und unsinnlichen Dinge in Betracht zu ziehen, welche den Übertragungen als Grund gedient hat; man wird dies besser verstehen, wenn man ein solches sich weit erstreckendes Beispiel in Betracht zieht, das uns der Gebrauch der Präpositionen liefert, wie: zu, mit, von, vor, in, außer, durch, für, über, gegen, die alle vom Ort, der Entfernung und der Bewegung hergenommen und nachher auf alle Arten von Veränderungen, Ordnungen, Folgen, Verschiedenheiten, Übereinstimmungen übertragen worden sind. Zu bedeutet, sich einer Sache nähern, wie wenn man sagt: Ich gehe zur Stadt. Wie man aber, wenn man ein Ding mit einem anderen verbinden will, es demselben da nähert, wo die Vereinigung geschehen soll, so sagen wir, daß ein Ding zu einem anderen gefügt werde; und ferner, da sozusagen eine übersinnliche Verknüpfung stattfindet, wenn etwas von einem anderen nach moralischen Gründen[274] folgt, sagen wir, daß das, welches den Bewegungen und Willensakten jemandes folgt, dieser Person zugehöre oder ihr eigen sei, wie wenn man es auf diese Person abgesehen hätte, zu ihr oder mit ihr zu gehen. Ein Körper ist mit einem anderen, wenn sie sich an demselben Orte beenden. Aber man sagt auch, ein Ding sei mit einem anderen, das sich mit ihm zu derselben Zeit in derselben Ordnung oder einem Teil derselben Ordnung beendet oder mit ihm an derselben Handlung teilnimmt. Wenn man von einem Orte kommt, so ist dieser Ort der sinnlichen Dinge wegen, welche er uns dargeboten hat, unser Gegenstand gewesen und ist noch Gegenstand unseres von ihm ganz erfüllten Gedächtnisses; und daher kommt es, daß der Gegenstand mit dem Vorworte von bezeichnet wird, wie wenn man sagt, es handelt sich davon; nämlich wie wenn man davon käme. Und da das, was in einem Orte oder einem Ganzen eingeschlossen ist, sich darauf stützt und mit ihm aufgehoben wird, so werden die Akzidenzien ebenso angesehen, als gleichsam in dem Subjekte (sunt in subjecto), als dem Subjekt inhärierend (inhaerent subjecto). Das Wörtchen über wird auch von dem Gegenstande gebraucht; man sagt: Man ist über einer Materie, ungefähr wie ein Arbeiter über dem Holz oder über dem Stein ist, den er schneidet und formt. Da nun diese Analogien außerordentlich veränderlich sind und von deutlichen Begriffen gar nicht abhangen, so sind aus diesem Grunde die Sprachen sehr verschieden in dem Gebrauch der Partikeln und Fälle, welche die Vorwörter regieren oder in welchen sie sich als gemeint und eingeschlossen finden.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 270-275.
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