Kapitel III.

Von den allgemeinen Ausdrücken

[287] § 1. Philalethes. Obgleich es nur besondere Dinge gibt, so besteht der größte Teil der Wörter nichtsdestoweniger in allgemeinen Ausdrücken, weil es unmöglich ist, – § 2 daß jede besondere Sache einen besonderen und bestimmten Namen für sich hat, und außerdem dazu ein wunderbares Gedächtnis nötig wäre, gegen welches dasjenige gewisser Feldherren, die alle ihre Soldaten bei Namen nennen konnten, nichts sein würde. Die Sache wächst sogar bis ins Unendliche, wenn jedes Tier, jede glänze und selbst jedes Pflanzenblatt, jedes Korn, endlich jedes Sandkörnchen, daß man zu nennen nötig hätte, seinen Namen haben müßte. Und wie soll man die für die Sinnlichkeit gleichartigen Teile der Dinge, wie des Wassers, des Feuers, benennen? § 3. Zudem wären diese besonderen Namen unnütz, weil der Hauptzweck der Sprache darin besteht, im Geiste dessen, der mich hört, eine der meinigen ähnliche Vorstellung zu erwecken. Also genügt die Ähnlichkeit, welche durch die allgemeinen Ausdrücke bezeichnet wird. § 4. Auch würden die besonderen Worte allein nicht dazu dienen, unsere Erkenntnisse zu erweitern, noch uns von der Vergangenheit auf die Zukunft, oder von einem Individuum auf ein anderes schließen zu lassen. § 5. Da man indes oft nötig hat, gewisse Individuen, besonders unserer Art, zu erwähnen, so bedient man sich der Eigennamen: diese gibt man auch den Ländern, Städten, Bergen und anderen Ortsunterscheidungen. Geben doch die Roßhändler, so gut wie Alexander seinem Bucephalus, eigene Namen, um dies oder jenes besondere Pferd, wenn es aus ihren Augen entfernt ist, unterscheiden zu können.

Theophilus. Diese Bemerkungen sind gut und darunter solche, welche mit den eben von mir gemachten zusammenstimmen. Aber ich möchte im Verfolg dessen, was ich schon bemerkt habe, hinzufügen, daß die Eigennamen gewöhnlich Appellativa gewesen sind d.h. allgemeine Ausdrücke, wie Brutus, Cäsar, Augustus, Capito, Lentulus, Piso, Cicero, Elbe, Rhein, Ruhr, Leine, Ocker, Bucephalus, Alpen, Brenner oder Pyrenäen; denn man[287] weiß, daß der erste Brutus diesen Namen von seinem anscheinenden Stumpfsinn hatte, daß Caesar den Namen eines Kindes hatte, welches durch einen Schnitt aus dem Mutterschoß gezogen worden ist, daß Augustus ein Ehrenname war, daß Capito Dickkopf bedeutet, wie auch Bucephalus, daß Lentulus, Piso und Cicero ursprünglich denjenigen Personen gegebene Namen gewesen sind, welche besonders gewisse Gemüsearten bauten. Was die Namen jener Flüsse, Rhein, Ruhr, Leine, Ocker, bedeuten, habe ich schon gesagt. Man weiß auch, daß in Skandinavien noch alle Flüsse »Elbe« genannt werden. Endlich sind Alpen solche Berge, die mit Schnee bedeckt sind, womit album, d.h. weiß, stimmt, und Brenner oder Pyrenäen bedeutet eine große Höhe, denn bren war im Keltischen hoch oder Haupt (wie Brennus), wie noch bei den Niedersachsen Brinck die Höhe ist und es zwischen Deutschland und Italien einen Brenner gibt, und wie die Pyrenäen zwischen Gallien und Spanien gelegen sind. Demnach möchte ich zu behaupten wagen, daß fast alle Worte ursprünglich Gemeinausdrücke sind, weil es sehr selten vorkommen wird, daß man einen Namen expreß ohne Grund erfindet, um dies oder jenes Individuum zu bezeichnen. Man kann also sagen, daß die Namen der Individuen Gattungsnamen waren, welche man vorzugsweise oder sonstwie irgend einem Individuum beilegte, wie den Namen Dickkopf demjenigen in der ganzen Stadt, welcher den größten hatte oder von allen dicken Köpfen, die man könnte, der am meisten beachtete war. So gibt man sogar die Geschlechtsnamen den Arten, d.h. man begnügt sich mit einem allgemeinen oder unbestimmten Worte, um mehr besondere Arten zu bezeichnen, wenn man sich um die Unterschiede dabei nicht kümmert. So begnügt man sich z.B. mit dem allgemeinen Namen Wermut, obgleich es davon so viel Arten gibt, daß einer der Bauhins darüber ein eigenes Werk vollgeschrieben hat.

§ 6. Philalethes. Ihre Bemerkungen über den Ursprung der Eigennamen sind sehr richtige um aber auf die Appellativa oder allgemeinen Ausdrücke zu kommen, so werden sie ohne Zweifel zugeben, daß die Worte allgemein werden, wenn sie Zeichen von allgemeinen Vorstellungen sind, und daß die Vorstellungen allgemein werden, wenn man durch Abstraktion die Zeit, den Ort, oder[288] diejenigen anderen Umstände davon abtrennt, welche sie zu diesem oder jenem besonderen Dasein bestimmen können.

Theophilus. Ich leugne diese Anwendung der Abstraktionen nicht, aber sie gilt viel mehr beim Aufsteigen von den Arten zu den Gattungen als von den Individuen zu den Arten. Denn es ist uns unmöglich, so widersinnig dies erscheinen mag, die Erkenntnis der individuellen Wesen zu haben und das Mittel zur genauen Bestimmung der Individualität irgend einer Sache zu finden, ohne sie selbst festzuhalten, denn alle Umstände können wiederkehren; die kleinsten Unterschiede bleiben für uns unbemerkt; Ort und Zeit, weit entfernt, von sich aus zu bestimmen, müssen vielmehr selbst durch die Dinge, welche sie enthalten, bestimmt werden. Das Bemerkenswerteste dabei ist, daß die Individualität die Unendlichkeit in sich schließt, und daß nur derjenige, welcher dies zu erkennen imstande ist, die Erkenntnis des Prinzips der Individuation dieser oder jener Sache haben kann. Dies kommt von dem – richtig zu verstehenden – Einfluß aller Dinge des Weltalls aufeinander her. Allerdings würde es nicht so sein, wenn es demokritische Atome gäbe, aber dann würde es auch keinen Unterschied zwischen zwei verschiedenen Individuen derselben Gestalt und Größe geben.

§ 7. Philalethes. Dennoch ist ganz klar, daß die Vorstellungen, welche sich die Kinder von denjenigen Personen bilden, mit denen sie umgehen (um bei diesem Beispiel zu verweilen), den Personen selbst ähnlich und eben nur besondere sind. Die Vorstellungen, welche sie von ihrer Amme oder ihrer Mutter haben, sind ihrem Geiste wohl eingeprägt, und die Namen »Amme« oder »Mama«, deren die Kinder sich bedienen, beziehen sich nur auf diese Personen. Wenn nachher die Zeit sie hat bemerken lassen, daß es mehrere andere Wesen gibt, die ihrem Vater oder ihrer Mutter gleichen, so bilden sie eine Vorstellung, an der, wie sie finden, alle diese besonderen Wesen gleichzeitig teilhaben, und geben ihr dann, wie andere auch, den Namen Mensch. § 8. Auf dem nämlichen Wege erwerben sie allgemeinere Namen und Begriffe; so wird z.B. die neue Vorstellung »lebendes Wesen« nicht durch Addition gebildet, sondern[289] nur durch Aufhebung der Gestalt oder besonderer Eigenschaften der Menschen und durch Festhaltung des mit Leben, Gefühl und selbständiger Bewegung versehenen Körpers.

Theophilus. Sehr gut; aber dies beweist nur das soeben von mir Bemerkte; denn wie das Kind durch Abstraktion von der Auffassung der Vorstellung des Menschen zu der der Vorstellung des lebenden Wesens fortgeht, ist es von der mehr spezifischen Vorstellung, welche es an seiner Mutter oder seinem Vater oder anderen ansehen auffaßte, zu der der menschlichen Natur gekommen. Denn um zu schließen, daß es keine genaue Vorstellung des Individuums hatte, braucht man nur zu erwägen, daß eine mäßige Ähnlichkeit es leicht täuschen und veranlassen würde, eine andere Frau für seine Mutter zu halten, die es nicht wäre. Sie kennen die Geschichte von dem falschen Martin Guerra, welcher sogar die Frau des wirklichen und dessen nächste Verwandte durch die mit Gewandtheit verbundene Ähnlichkeit betrog und die Richter lange in Verlegenheit setzte, selbst nachdem der wahre dazugekommen war.

§ 9. Philalethes. So kommt dies ganze Geheimnis von der Gattung und den Arten, wovon man in den Schulen so viel Lärm macht, das aber außerhalb derselben mit Recht so wenig beachtet wird, dies ganze Geheimnis, sage ich, kommt einzig auf die Bildung mehr oder minder weiter abstrakter Vorstellungen zurück, denen man gewisse Namen gibt.

Theophilus. Die Kunst, die Dinge in Geschlechter und Arten zu ordnen, ist von nicht geringer Bedeutung und dient sowohl dem Urteil als dem Gedächtnis erheblich. Sie wissen, von welcher Wichtigkeit dies in der Botanik ist, nicht zu reden von den Tieren und anderen Substanzen und auch von den moralischen und rationalen Wesen, wie einige sie nennen. Ein guter Teil der Ordnung hängt davon ab, und mehrere gute Schriftsteller drücken sich so aus, daß ihr ganzer Vortrag sich auf Einteilungen oder Untereinteilungen beschränkt gemäß einer Methode, nach welcher man sich an Geschlechter und Arten hält, und die nicht nur dazu dient, die Dinge zu behalten, sondern sie sogar zu finden. Auch diejenigen, welche alle Arten von Begriffen unter gewisse in Unterabteilungen[290] zerfällte Titel oder Kategorien verteilt haben, haben etwas sehr Nützliches vollbracht.

§ 10. Philalethes. Indem wir die Worte definieren, bedienen wir uns des nächsten Geschlechtes oder allgemeinen Ausdruckes, und zwar geschieht dies, um sich die Mühe zu sparen, die verschiedenen einfachen Vorstellungen aufzuzählen, welche dies Geschlecht bezeichnet, oder vielleicht mitunter auch, um uns die Schande zu sparen, diese Aufzählung nicht machen zu können. Obgleich aber der kürzeste Weg zu definieren durch das Mittel des Geschlechts und des (artbildenden) Unterschiedes, wie die Logiker sprechen, er reicht wird, so kann man meines Erachtens zweifeln, ob es der beste sei; wenigstens ist er nicht der einzige. In der Definition, welche besagt, daß der Mensch ein vernünftiges lebendes Wesen sei (welche vielleicht die genaueste nicht ist, aber dem vorliegenden Zweck hinlänglich dient), könnte man an die Stelle von »lebendes Wesen« dessen Definition setzen. Dies zeigt, wie unnötig die Regel ist, daß eine Definition aus Geschlecht und Artunterschied bestehen müsse, und wie unvorteilhaft es ist, sie sorgfältig zu beobachten. Ferner sind die Sprachen nicht immer dergestalt nach den Regeln der Logik gebildet, daß die Bedeutung eines jeden Ausdruckes durch zwei andere genau und klar ausgedrückt werden kann. Auch haben die, welche diese Regel gemacht haben, unrecht gehabt, uns so wenig Definitionen, welche damit übereinstimmen, zu geben.

Theophilus. Ich bin mit Ihren Bemerkungen einverstanden, gleichwohl würde es aus vielen Gründen vorteilhaft sein, daß die Definitionen aus zwei Ausdrücken bestehen könnten. Dies würde ohne Zweifel die Sache sehr abkürzen, und alle Einteilungen könnten auf Dichotomien zurückgeführt werden, welche die beste Art der Einteilungen sind und für die Erfindung, das Urteil und das Gedächtnis vorzugsweise dienen. Indessen glaube ich nicht, daß die Logiker immer das Geschlecht oder den Artunterschied in einem Worte ausgedrückt verlangen. So kann z.B. der Ausdruck regelmäßiges Polygon für die Gattung des Quadrats gelten; und in der Figur des Kreises kann die Gattung eine flache krummlinige Figur sein, und der Artunterschied würde dann[291] darin bestehen, daß alle Punkte der Umkreislinie gleichmäßig von einem bestimmten Punkte als Mittelpunkt entfernt sind. Übrigens ist noch gut zu bemerken, daß das Geschlecht oft mit dem Artunterschied und dieser mit dem Geschlecht vertauscht werden kann, z.B. das Quadrat ist ein regelmäßiges Viereck oder eine vierseitige Figur, die regulär ist, so daß also Geschlecht und Artunterschied nur wie Substantiv und Adjektiv sich voneinander unterscheiden, wie wenn man, anstatt zu sagen: der Mensch ist ein vernünftiges Lebewesen, der Sprache zu sagen verstattete, daß der Mensch ein lebendiges Vernunftwesen ist, d.h. eine vernünftige Substanz, die mit einer natürlichen Lebenskraft begabt ist, wahrend die Geister vernünftige Substanzen sind, deren Wesen aber nicht das Leben in dem gewöhnlichen Sinne wie bei den Tieren ist. Und zwar hängt die Möglichkeit dieses Wechsels von Gattungen und Artunterschieden von der Veränderung der Ordnung in den Unterabteilungen ab.

§ 11. Philalethes. Aus dem, was ich eben gesagt habe, folgt, daß das, was man allgemein und universell nennt, nicht zum Dasein der Dinge gehört, sondern das Werk des Verstandes ist. § 12. Und die Wesenheiten jeder Art sind nur abstrakte Vorstellungen.

Theophilus. Ich sehe diese Folgerung nicht ein. Denn die Allgemeinheit besteht in der Ähnlichkeit der einzelnen Dinge untereinander, und diese Ähnlichkeit ist eine Realität.

§ 13. Philalethes. Ich wollte Ihnen schon selbst sagen, daß diese Arten auf der Ähnlichkeit beruhen.

Theophilus. Warum sollen wir denn also nicht auch das Wesen der Gattungen und Arten darin suchen?

14 §. Philalethes. Man wird sich über den von mir ausgesprochenen Satz weniger wundern, daß die Wesenheiten das Werk des Verstandes sind, wenn man in Betracht zieht, daß es wenigstens zusammengesetzte Vorstellungen gibt, die im Geiste verschiedener Personen häufig verschiedene Vereinigungen einfacher Vorstellungen bilden, und so ist das, was im Geist des einen Menschen Geiz ist, nicht dasselbe im Geist eines zweiten.

Theophilus. Ich gestehe Ihnen, daß ich in wenige Punkten die Gültigkeit Ihrer Folgerungen weniger eingesehen[292] habe als hierbei, und das tut mir leid. Wenn die Menschen über das Wort nicht einige sind, ändert denn das die Dinge selbst oder deren Ähnlichkeiten? Wenn der eine das Wort Geiz der einen Ähnlichkeit, der andere einer anderen leiht, so sind das zwei verschiedene durch das nämliche Wort bezeichnete Arten.

Philalethes. Bei derjenigen Art von Substanzen, die uns die vertrauteste ist, und welche wir auf die genaueste Art kennen, hat man mitunter gezweifelt, ob die von einer Frau zur Welt gebrachte Frucht ein Mensch sei, so daß man sogar darüber uneinig wurde, ob man sie erziehen und taufen sollte; dies könnte nicht der Fall sein, wenn die abstrakte Vorstellung oder das Wesen, dem der Name des Menschen zukommt, das Werk der Natur wäre, und nicht eine davon verschiedene unsichere Verknüpfung einfacher Vorstellungen, welche der Verstand zusammengefügt hat und welcher er einen Namen beilegt, nachdem er sie auf dem Wege der Abstraktion allgemein gemacht. Dergestalt ist im Grunde genommen eine jede bestimmte durch Abstraktion entstandene Vorstellung für sich eine bestimmte Wesenheit.

Theophilus. Verzeihen Sie mir die Bemerkung, daß Ihre Rede mich in Verlegenheit setzt, weil ich darin keinen Zusammenhang sehe. Wenn wir nicht immer von den äußeren Ähnlichkeiten auf die inneren schließen können, sind diese denn darum weniger wirklich? Wenn man ungewiß ist, ob eine Mißgeburt ein Mensch ist, so kommt dies daher, daß man an ihrer Vernunft zweifelt. Sobald sich findet, daß sie eine solche hat, werden die Theologen den Ausspruch tun, daß sie getauft werde, und die Juristen, daß sie erzogen werde. Freilich kann man über die, im logischen Sinne genommen, niedrigsten Arten miteinander streiten, die sich durch Zufälligkeiten innerhalb derselben physischen Art oder in demselben Zeugungsstamme abändern; man hat aber gar nicht nötig, sie zu bestimmen; man kann sie sogar bis ins Unendliche abändern, wie man an der großen Verschiedenheit der Orangen, Apfelsinen und Zitronen sieht, welche die Sachkundigen zu benennen und zu unterscheiden wissen. Ebenso sah man es an den Tulpen und Nelken, als diese Blumen in der Mode waren. Ob übrigens die Menschen diese oder jene Vorstellungen damit[293] verbinden oder nicht, und selbst ob die Natur sie wirklich oder nicht damit verbindet, hat auf die Wesenheiten, Geschlechter oder Arten keinen Einfluß, weil es sich dabei nur um Möglichkeiten handelt, die von unserem Denken unabhängig sind.

§ 15. Philalethes. Gewöhnlich setzt man voraus, daß die Art eines jeden Dinges in der Wirklichkeit begründet ist; und daß es etwas geben müsse, von dem jede Vereinigung einfacher Vorstellungen oder zugleich vorhandener Eigenschaften in einem bestimmten Dinge abhangen muß, ist ohne Zweifel. Aber da augenscheinlich die Dinge nur insofern unter bestimmten Namen in Klassen und Arten geordnet sind, als sie mit gewissen abstrakten Vorstellungen übereinkommen, denen wir diesen bestimmten Namen beigelegt haben, so ist auch das Wesen eines jeden Geschlechtes oder jeder Art nichts anderes, als die durch den allgemeinen oder besonderen Namen bezeichnete abstrakte Vorstellung, und wir werden finden, daß dies der gewöhnlichste Gebrauch des Wortes Wesenheit ist. Meiner Meinung nach würde es nicht übel sein, diese zwei Arten von Wesenheiten mit zwei verschiedenen Namen zu bezeichnen und die erstere reale Wesenheit, die andere nominale Wesenheit zu nennen.

Theophilus. Mir scheint, daß unsere Sprache in ihren Ausdrucksweisen außerordentlich viel Neuerungen einführt. Man hat bisher wohl von nominalen und von kausalen oder Real – Definitionen, nicht aber, daß ich es wüßte, von anderen als realen Wesenheiten gesprochen; wenigstens würde man unter nominalen Wesenheiten falsche und unmögliche verstanden haben, die Wesenheiten zu sein nur scheinen, aber es nicht sind, wie z.B. die eines regelmäßigen Dekaeders d.h. des von 10 Flächen umschlossenen regelmäßigen Körpers. Die Wesenheit ist im Grunde nichts anderes als die Möglichkeit dessen, was man denkt. Was man als möglich voraussetzt, wird durch die Definition ausgedrückt, aber diese Definition ist nur nominal, wenn sie nicht zugleich die Möglichkeit ausdrückt. Denn dann kann man zweifeln, ob eine solche Definition etwas Wirkliches d.h. Mögliches ausdrückt, bis die Erfahrung uns zu Hilfe kommt, um uns diese Wirklichkeit a posteriori zu zeigen, wenn die Sache sich[294] tatsächlich in der Welt findet, was da in Ermangelung des Grundes genügt, der die Wirklichkeit a priori zeigen würde, indem er die mögliche Ursache der Entstehung des definierten Dinges angibt. Es hängt also nicht von uns ab, die Vorstellungen nach unserem Belieben zu verknüpfen, wenn diese Verknüpfung nicht entweder durch die Vernunft, welche sie als möglich zeigt, oder durch die Erfahrung, welche sie als tatsächlich und folglich auch als möglich zeigt, gerechtfertigt wird. Um Wesenheit und Definition besser zu unterscheiden, muß man auch erwägen, daß es nur eine Wesenheit des Dinges, aber mehrere Definitionen davon gibt, welche die nämliche Wesenheit ausdrücken, wie dasselbe Bauwerk oder dieselbe Stadt von verschiedenen Seiten, aus denen man sie betrachtet, durch verschiedene Ansichten dargestellt werden kann.

§ 19. Philalethes. Ohne Zweifel, denke ich, werden Sie mir zugeben, daß das Reale und das Nominale in den einfachsten Vorstellungen und in den Vorstellungen der Modi stets dasselbe ist; in den Vorstellungen der Substanzen aber sind sie immer ganz verschieden. Eine Figur, welche einen Raum mit drei Linien einschließt, ist sowohl die reale als die nominale Wesenheit des Dreiecks, denn sie ist nicht allein die abstrakte Vorstellung, mit der der allgemeine Name verbunden ist, sondern die Wesenheit oder das eigentümliche Sein der Sache oder der Grund, aus dem ihre Eigenschaften hervorgehen und mit dem sie alle verknüpft sind. Ganz anders aber verhält es sich mit dem Golde. Der wirkliche Zusammenhang seiner Teile, von der die Farbe, die Schwere, die Schmelzbarkeit, die Feuerfestigkeit abhangen, ist uns unbekannt, und da wir davon keine Vorstellung haben, haben wir auch kein dieselbe bezeichnendes Wort. Gleichwohl machen es jene Eigenschaften, daß dieser Stoff Gold genannt wird, und sind seine nominale Wesenheit d.h. dasjenige, was zum Namen ein Recht gibt.

Theophilus. Ich würde lieber nach dem eingeführten Sprachgebrauch sagen: die Wesenheit des Goldes ist das, was dasselbe bildet und ihm jene sinnlichen Eigenschaften gibt, die es erkennen lassen und seine Nominaldefinition ausmachen, während wir die Real– und Kausaldefinition dann haben würden, wenn wir diese[295] innere Bildung oder Verfassung erklären könnten. Indessen wird hierbei die Nominaldefinition auch als reale gefunden, zwar nicht durch sie selbst (denn sie läßt die Möglichkeit oder Entstehung der Körper a priori nicht erkennen), sondern durch die Erfahrung, indem wir erfahren, daß es einen Körper gibt, in dem jene Eigenschaften sich zusammen finden. Sonst könnte man doch zweifeln, ob so viel Schwere und so viel Dehnbarkeit zusammen bestehen könnten, wie man bis zur Stunde zweifeln kann, ob es Glas gibt, das unerhitzt sich hämmern läßt. Übrigens bin ich nicht Ihrer Meinung, daß es hier zwischen den Vorstellungen der Substanzen und denen der Prädikate einen Unterschied gibt, als wenn die Definitionen der Prädikate (d.h. der Modi und der Gegenstände der einfachen Vorstellungen) immer zugleich reale und nominale wären und die der Substanzen nur nominale. Ich gebe freilich gern zu, daß es schwerer ist, Realdefinitionen von den Körpern zu haben, welche substantielle Wesen sind, weil ihre innere Bildung weniger bemerkbar ist. Aber nicht mit allen Substanzen verhält es sich ebenso, denn wir haben von den wahren Substanzen oder Einheiten, wie von Gott oder von der Seele eine ebenso genaue Erkenntnis wie von den meisten der Modi. Übrigens gibt es auch Prädikate, die ebensowenig bekannt sind, wie die innere Körperbildung es ist, denn das Gelbe oder das Bittere z.B. sind die Gegenstände einfacher Vorstellungen oder Phantasiebilder, und dennoch hat man davon nur eine verworrene Erkenntnis. Sogar in der Mathematik ist dies der Fall, wo derselbe Modus ebensogut eine Nominal- als Realdefinition haben kann. Worin der Unterschied dieser beiden Definitionen besteht, welcher auch den Unterschied der Wesenheit und der Eigenschaft setzen muß, haben wenige richtig erklärt. Meiner Meinung nach besteht dieser Unterschied darin, daß die Realdefinition die Möglichkeit des Definierten zeigt, was die Nominaldefinition nicht tut. Die Definition von zwei geraden Parallellinien, welche besagt, daß sie in derselben Fläche sind und sich nicht begegnen, wenn man sie auch bis in das Unendliche verlängert, ist nur nominal, und man könnte zunächst zweifeln, ob so etwas möglich ist. Sobald man aber begriffen hat, daß man eine gerade Linie in einer Fläche[296] mit einer anderen gegebenen geraden Linie parallel ziehen kann, wenn man nur darauf achtet, daß die Spitze des Stiftes, welcher die Parallele beschreibt, von den gegebenen Graden stets gleich weit entfernt bleibt, so sieht man zugleich, daß die Sache möglich ist, und warum die Linien jene Eigenschaft haben, sich niemals zu begegnen, was zwar ihre Nominaldefinition ausmacht, aber das Kennzeichen des Parallelismus nur dann ist, wenn die beiden Linien gerade sind, während wenn nur eine davon krumm wäre, sie ihrer Natur nach sich niemals zu begegnen brauchten, und dessenungeachtet darum doch nicht miteinander parallel wären.

§ 19. Philalethes. Wenn die Wesenheit etwas anderes wäre als eine abstrakte Vorstellung, so würde sie nicht unerschaffbar und unvergänglich sein. Ein Einhorn, eine Sirene, ein vollkommener Kreis sind vielleicht gar nicht in der Welt vorhanden.

Theophilus. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Wesenheiten ewig sind, weil dabei bloß von Möglichkeiten die Rede ist.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 287-297.
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