Kapitel V.

Von den Namen der gemischten Modi und der Relationsbegriffe

[303] §§ 2. 3 folg. Philalethes. Allein bildet der Geist nicht die gemischten Vorstellungen durch Zusammensetzungen der einfachen nach seiner Willkür, ohne ein wirkliches Muster nötig zu haben, während ihm die einfachen Vorstellungen der Dinge ohne seine Wahl durch das wirkliche Dasein der Dinge zukommen? Sieht man nicht oft die gemischte Verteilung, ehe die Sache selbst da ist?

Theophilus. Wenn sie die Vorstellungen für wirkliche Gedanken nehmen, so haben Sie recht, aber ich sehe nicht die Notwendigkeit ein, Ihre Unterscheidung auf das anzuwenden, was die Form selbst oder die Möglichkeit dieser Gedanken betrifft; und doch ist dies eben das, um was es sich in der idealen Welt handelt, die man von[303] der wirklichen Welt unterscheidet. Das wirkliche Dasein der Dinge, die nicht notwendig sind, ist eine Tatsache oder ein historisches Faktum; aber die Erkenntnis der Möglichkeiten und Notwendigkeiten (denn notwendig ist das, dessen Gegenteil nicht möglich ist) macht die demonstrativen Wissenschaften aus.

Philalethes. Aber findet nicht eine nähere Verbindung zwischen den Vorstellungen des Tötens und des Menschen statt, als zwischen den Vorstellungen des Tötens und des Schafes? Ist Vatermord aus enger verbundenen Begriffen zusammengesetzt, als Kindesmord, und ist es natürlicher, daß das, was die Engländer Stabbing nennen, d.h. Mord durch einen Stoß oder durch Verwundung mit der Spitze, was bei ihnen ein schlimmeres Verbrechen ist, als wenn man durch einen Schlag mit der Degenscheide tötet – einen besonderen Namen und eine Vorstellung verdient hat, welche man z.B. der Handlung, ein Schaf zu töten, oder einen Menschen durch einen Schwertstreich zu töten, nicht zugestanden hat?

Theophilus. Wenn es sich nur um Möglichkeiten handelt, so sind alle diese Vorstellungen gleich natürlich. Wer Schafe töten gesehen hat, hat eine Vorstellung dieser Handlung in Gedanken gehabt, obgleich er ihr keinen Namen gegeben und sie seiner Aufmerksamkeit nicht weiter gewürdigt haben mag. Warum sollen wir uns denn auf die Namen beschränken, wenn es sich um die Vorstellungen selbst handelt, und warum uns mit dem Wert der gemischten Modi besonders beschäftigen, wenn es sich um diese Vorstellungen im allgemeinen handelt?

§ 6. Philalethes. Da die Menschen die verschiedenen Arten gemischter Modi willkürlich bilden, so findet man infolgedessen in der einen Sprache Worte, denen es in einer anderen Sprache nichts Entsprechendes gibt. Es gibt keine Worte in anderen Sprachen, welche dem unter den Römern gebräuchlichen Wort Versura oder dem Ausdruck Corban entsprechen, dessen sich die Juden bedienten. Man übersetzt dreist die lateinischen Wörter Hora, Pes und Libra mit Stunde, Fuß und Pfund, aber die Vorstellungen des Römers waren dabei von den unserigen sehr verschieden.

Theophilus. Wie ich sehe, kommt jetzt zu Gunsten der Namen dieser Vorstellungen viel von dem wieder vor,[304] was wir besprochen haben, als es sich um die Vorstellungen selbst und deren Arten handelte. Die Bemerkung ist gut, was die Namen und Gebräuche der Menschen anbetrifft, aber sie ändert nichts in den Wissenschaften und in der Natur der Dinge; wer eine allgemeine Grammatik schreiben wollte, würde allerdings gut tun, von dem Wesen der Sprache absehend ihre wirkliche Beschaffenheit aufzufassen und die Grammatiken mehrerer Sprachen zu vergleichen, ebenso wie ein Autor, welcher eine allgemeine, aus der Vernunft geschöpfte Jurisprudenz schreiben wollte, wohl daran tun würde, Parallelen der Gesetze und Gebräuche der Völker damit zu verbinden, was nicht allein in der Praxis, sondern auch in der philosophischen Betrachtung von Nutzen sein und dem Autor sogar Gelegenheit geben würde, verschiedene Erwägungen anzustellen, die ihm ohne dies entgangen sein würden. Indessen kommt es bei der von ihrer Geschichte oder ihrem wirklichen Dasein getrennten Wissenschaft nicht darauf an, ob die Völker sich dem Vernunftgebot gefügt haben oder nicht.

§ 9. Philalethes. Die zweifelhafte Bedeutung des Wortes Art ist schuld, daß manche daran Anstoß nehmen, wenn sie die Erklärung hören, daß die Arten der gemischten Modi durch den Verstand gebildet werden. Ich überlasse es indessen anderen, auszudenken, womit die Grenzen von jeder Sorte oder Art zu bestimmen sind, denn für mich sind diese Worte vollkommen gleichbedeutend.

Theophilus. Gewöhnlich bestimmt die Natur der Dinge diese Grenzen der Arten, z.B. zwischen Mensch und Vieh, zwischen Stoßdegen und Haudegen. Indessen gebe ich zu, daß bei gewissen Begriffen wirklich etwas Willkürliches mitwirkt; z.B. wenn es sich darum handelt, einen Fuß zu bestimmen, denn da die gerade Linie einförmig und unbestimmt ist, so gibt die Natur darauf keine Abschnitte an. Ebenso gibt es auch unbestimmte und unvollkommene Wesenheiten, bei deren Bestimmung die Meinung mitwirkt, wie wenn man fragt, wie viele Haare man wenigstens einem Menschen lassen muß, damit er nicht kahl sei, welches ein Sophisma der Alten war, wenn man den Gegner in die Enge treibt.

Dum cadat elusus ratione ruentis acervi.[305]

Die wahre Antwort aber ist, daß die Natur diesen Begriff nicht bestimmt hat und die Meinung daran ihren Anteil hat, daß es Leute gibt, von denen man zweifelhaft sein kann, oh sie kahl sind oder nicht, und daß es solche gibt, welche zweideutig bei den einen als kahl gelten, nicht aber bei den anderen, wie Sie bemerkt hatten, daß ein Pferd, was man in Holland als klein ansieht, in Wales für groß gehalten werden wird. Es gibt selbst etwas der Art bei den einfachen Vorstellungen; ich habe in dieser Hinsicht schon bemerkt, daß die äußersten Grenzen der Farben ungewiß sind; es gibt auch Wesenheiten, die halb und halb nominal sind, wo der Name auf die Definition der Sache von Einfluß ist. So erkennt man z.B. den Grad oder die Würde eines Doktors, Ritters, Botschafters, Königs, wenn jemand das anerkannte Recht, sich dieses Namens zu bedienen, erworben hat. Kein fremder Minister, wenn er auch noch so viel Macht und Gefolge haben mag, wird als Botschafter gelten, wenn ihm nicht sein Kreditiv diesen Namen verleiht. Aber diese Wesenheiten und Vorstellungen sind unbestimmt, zweifelhaft, willkürlich, nominal in einem von dem bisher erwähnten etwas verschiedenen Sinne.

§ 10. Philalethes. Der Name scheint aber oft das Wesen der gemischten Modi, welche Sie für nicht willkürlich halten, zu enthalten; wir würden z.B. ohne den Namen Triumph kaum die Vorstellung von dem haben, was bei den Römern zu dieser Gelegenheit geschah.

Theophilus. Ich gebe zu, daß der Name dazu dient, die Aufmerksamkeit auf die Dinge zu lenken, um deren Andenken und wirkliche Erkenntnis zu bewahren, aber dies hat nichts mit dem, worum es sich handelt, zu tun und macht die Wesenheiten nicht zu Namenwesen. Ich begreife auch nicht, warum die Anhänger Ihrer Meinung mit aller Gewalt wollen, daß die Wesenheiten selbst von der Wahl und den Namen abhängen. Es wäre zu wünschen gewesen, daß euer berühmter Autor, statt darauf zu bestehen, sich lieber mehr auf das Einzelne der Vorstellungen und der Modi eingelassen und deren Spielarten geordnet und entwickelt hätte. Auf diesem Wege würde ich ihm mit Vergnügen und Nutzen nachgewandelt sein, denn er würde uns ohne Zweifel viel Licht verschafft haben[306] § 12. Philalethes. Wenn wir von einem Pferde oder von Eisen reden, so betrachten wir sie als Sachen, welche uns die ursprünglichen Muster unserer Vorstellungen bieten, aber wenn wir von den gemischten Modi oder wenigstens von den bedeutendsten derjenigen Modi reden, welche die moralischen Wesen sind, z.B. von der Gerechtigkeit, der Dankbarkeit, so sehen wir deren ursprüngliche Muster als in unserem Geiste befindlich an Darum sprechen wir von einem Begriff der Gerechtigkeit und der Mäßigkeit, nicht aber redet man von dem Begriff eines Pferdes und eines Steines.

Theophilus. Die Muster der Vorstellungen sind für die einen ebenso real, wie die Muster der Vorstellungen für die anderen. Die Eigenschaften des Geistes sind nicht weniger real, als die des Körpers; freilich sieht man nicht die Gerechtigkeit wie ein Pferd, aber man versteht sie nicht weniger, oder vielmehr man versteht sie besser. Sie ist nicht weniger in den Handlungen, als das Gerade und das Schiefe in den Bewegungen, mag man sie nun beachten oder nicht. Und um Ihnen zu zeigen, daß die Menschen meiner Meinung sind, und zwar gerade die in den menschlichen Dingen Fähigsten und Erfahrensten, brauche ich mich nur der Autorität der römischen Juristen zu bedienen; diese, hierin von allen übrigen gefolgt, nennen diese gemischten Modi oder moralischen Wesen Sachen und insbesondere unkörperliche Sachen. So sind die Servituten z.B. wie das des Durchgangs durch des Nachbars Grundstück bei ihnen Res incorporales (unkörperliche Sachen), worauf es ein Eigentumsrecht gibt, welches man durch langen Gebrauch erwerben, das man besitzen und geltend machen kann. Was das Wort Begriff angeht, so haben sehr gescheite Leute dasselbe für eben so weit genommen als das Wort Vorstellung. Der lateinische Sprachgebrauch ist dem nicht entgegen und ebensowenig, so viel ich weiß, der der Engländer und der Franzosen.

§ 16. Philalethes. Es ist noch zu bemerken, daß man eher die Namen als die Vorstellungen der gemischten Modi lernt, indem der Name erkennen läßt, daß diese Vorstellung bemerkt zu werden verdient.

Theophilus. Diese Bemerkung ist gut, obgleich allerdings heutzutage die Kinder mit Hilfe der Wörterbücher[307] die Worte nicht allein der Modi, sondern auch der Substanzen vor den Dingen und sogar die Namen der Substanzen eher als der Modi lernen. Denn man stellt fehlerhafterweise in diesen nämlichen Wörterbüchern nur die Nennwörter und nicht die Verba auf, ohne zu bedenken, daß die Zeitwörter, wiewohl sie Modi bezeichnen, in dem sprachlichen Verkehr notwendiger sind als die meisten Hauptwörter, welche besondere Substanzen bezeichnen.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 303-308.
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