Kapitel I.

Ob es im menschlichen Geiste angeborene Vorstellungen gibt

[29] Philalethes. Nach Beendigung meiner Geschäfts in England und Rückkehr von dort habe ich gleich daran gedacht, Sie, mein Herr, zu besuchen, um unsere alte Freundschaft fortzusetzen und uns über die Dinge zu unterhalten, welche uns beiden so sehr am Herzen liegen und über die ich während meines Aufenthaltes in London neue Aufschlüsse erlangt zu haben glaube. Als wir einst zu Amsterdam ganz nahe beieinander wohnten, machte es uns allen beiden viel Vergnügen, Untersuchungen über die Grundsätze und Mittel anzustellen, um in das Wesen der Dinge einzudringen. Waren unsere Ansichten auch oft verschieden, so vermehrte diese Verschiedenheit eben nur unsere Befriedigung, wenn wir miteinander verhandelten, ohne daß der Gegensatz, der sich mitunter zeigte, etwas Unangenehmes einmischte. Sie waren für Descartes und für die Meinungen des berühmten Verfassers der »Erforschung der Wahrheit«, und ich für meinen Teil fand die durch Bernier erläuterten Ansichten Gassendis leichter faßlich und natürlicher. Gegenwärtig fühle ich mich durch das ausgezeichnete Werk ganz besonders bestärkt, welches ein berühmter Engländer, den ich persönlich zu kennen die Ehre habe, seitdem veröffentlicht hat, und welches mehrmals in England unter dem bescheidenen Titel der »Abhandlung über den menschlichen Verstand« wieder gedruckt worden ist. Man versichert[29] sogar, daß es binnen kurzem in Latein und Französisch erscheint, worüber ich mich sehr freue, denn es kann so von ausgebreiteterem Nutzen sein. Ich habe aus der Lektüre dieses Werkes und selbst aus der Unterhaltung mit dem Verfasser großen Nutzen gezogene oft bin ich mit ihm zu London und mitunter zu Oates bei Mylady Masham zusammengetroffen, der würdigen Tochter des berühmten Cudworth, eines großen englischen Philosophen und Theologen und Verfassers des Intellektualsystems dessen spekulativen Geist und dessen Liebe zu höherer Erkenntnis sie geerbt hat, welche besonders in der mit dem Verfasser der besagten Abhandlung unterhaltenen Freundschaft erscheint – und als er von einigen verdienstvollen Gelehrten angegriffen worden ist, habe ich auch mit Vergnügen die Verteidigungsschrift gelesen, welche eine sehr gescheute und geistreiche Dame für ihn verfaßt hat, außer denen, welche er selbst verfaßt hat. Im ganzen folgt er dem System Gassendis, welches im Grunde das des Demokrit ist. Er ist für den leeren Raum und für die Atome; er glaubt, daß die Materie lenken könne; daß es keine angeborenen Vorstellungen gebe daß unser Geist eine Tabula rasa sei, und daß er nicht beständig denke; auch bezeigt er sogar Lust, die Einwürfe, welche Gassendi gegen Descartes erhoben, größtenteils zu billigen. Er hat dies System mit zahlreichen vortrefflichen Bemerkungen bereichert und verstärkt, und ich zweite nicht, daß gegenwärtig unsere Partei über ihre Gegner, die Peripatetiker und Kartesianer, den entschiedenen Sieg davontrage. Dies ist der Grund, warum ich Sie, wenn Sie dieses Buch noch nicht gelesen haben, dazu auffordere, und wenn Sie es gelesen haben, mir Ihre Ansicht darüber zu sagen inständig bitte.

Theophilus. Ich freue mich, Sie nach langer Abwesenheit wieder zurückgekehrt zu sehen, nach glücklichem Ablauf Ihres wichtigen Geschäftes, gesund, in Ihrer Freundschaft für mich beständig und immer mit gleichem Eifer auf die Erforschung der wichtigsten Wahrheiten gerichtet. Ich habe mein Nachdenken nicht minder in demselben Geiste fortgesetzt, und glaube (ohne mir zu schmeicheln), ebensoweit und vielleicht weiter als Sie gekommen zu sein. Es war auch für mich nötiger als für Sie, denn Sie waren mir voraus. Sie hatten[30] mehr Umgang mit den spekulativen Philosophen und ich mehr Neigung zur Moral. Aber ich habe mehr und mehr gelernt, wieviel Stärke die Moral aus den wohlbefestigten Grundsätzen der wahren Philosophie empfängt Darum habe ich sie seitdem mit größerem Eifer studiert und bin auf ganz neue Gedanken gekommen. Es wird uns also ein gegenseitiges und langdauerndes Vergnügen machen, wenn wir uns einander die erhaltenen Aufklärungen mitteilen. Ich muß Ihnen aber als etwas Neues mitteilen, daß ich nicht mehr Kartesianer bin und gleichwohl mehr als jemals von Ihrem Gassendi mich entfernt habe, dessen Wissen und Verdienst ich übrigens anerkenne. Ich bin auf ein neues System gestoßen, wovon ich etwas in den gelehrten Zeitschriften von Paris, Leipzig und Holland und in dem bewundernswürdigen Wörterbuch Bayles art. Rorarius gelesen habe. Seitdem glaube ich einen neuen Anblick des inneren Wesens der Dinge gewonnen zu haben. Dies System scheint Plato mit Demokritus, Aristoteles mit Descartes, die Scholastiker mit den Neueren, die Theologie und Moral mit der Vernunft zu versöhnen. Von allen Seiten scheint es das Beste zu nehmen und dann weiterzukommen, als man jemals gekommen ist. Ich habe darin eine verständliche Erklärung der Einheit von Seele und Leib gefunden, etwas, an dem ich bisher verzweifelt war. Die wahren Gründe der Dinge finde ich in der von diesem System eingeführten Einheit der Substanzen und in deren durch die Ursubstanz vorherbestimmter Harmonie. Ich habe darin eine so erstaunliche Einfachheit und Übereinstimmung gefunden, daß man sagen kann, es sei alles und immer nach verschiedenen Graden der Vollkommenheit dasselbe, jetzt begreife ich, was Plato darunter verstand, wenn er die Materie für ein unvollkommenes und wandelbares Wesen nahm, was Aristoteles durch seine Entelechie sagen wollte, was jenes Versprechen eines anderen Lebens sagen will, das nach Plinius selbst Demokritus machte, wieweit die Skeptiker recht hatten, wenn sie sich gegen die Sinne aussprachen, wie die Tiere nach Descartes Automaten sind, und wie sie nach der allgemeinen Meinung der Menschen doch Seelen und Empfindung haben, wie man diejenigen, welche allen Dingen Leben und Wahrnehmung[31] verliehen haben, vernunftgemäß erklären kann, wie Cardan, Campanella und besser als sie die verstorbene Gräfin von Connaway, eine Anhängerin Platos, und unser verstorbener Freund Franz Mercurius van Helmont, der übrigens freilich durch viele unverständliche und paradoxe Meinungen dunkel bleibt, mit seinem verstorbenen Freund Heinrich Morus, wie die Gesetze der Natur, wovon man vor dem Auftreten dieses Systems einen guten Teil nicht kannte, ihrem Ursprung nach aus Grundsätzen hergeleitet werden müssen, welche über das Materielle hinausgehen, wenn sich gleich im Materiellen alles auf mechanische Weise vollzieht. Im letzteren Punkte haben die spiritualisie renden Schriftsteller, die ich eben genannt habe, mit ihren »Archeen« und selbst mit den Kartesianern gefehlt, indem sie glaubten, daß die immateriellen Substanzen, wo nicht die Kraft, so doch wenigstens die Richtung oder Bestimmung der Bewegung der Körper änderten, während nach dem neuen System die Seele und der Körper ihre Gesetze, jedes von beiden die seinigen, vollkommen einhalten und nichtsdestoweniger doch, soviel es nötig ist, einander folgen. Endlich hat mich das Nachdenken über dies System aufzufinden veranlaßt, wie die Annahme von Seelen und sinnlichen Empfindungen bei den Tieren gegen die Unsterblichkeit der menschlichen Seele nicht spricht, oder vielmehr, wie nichts geeigneter ist, unsere natürliche Unsterblichkeit zu sichern, als die Annahme, daß alle Seelen unvergänglich sind (morte carent animae), ohne daß wir deshalb doch die Seelenwanderungen zu fürchten hätten, da nicht allein die Seelen, sondern auch die Tiere lebend, empfindend, handelnd bleiben und bleiben werden. Es ist überall wie hier, und immer und überall, wie bei uns, gemäß dem, was ich Ihnen schon gesagt habe nur daß die Zustände der Tiere mehr oder weniger vollkommen und entwickelt sind ohne daß man je ganz und gar vom Körper getrennte Seelen anzunehmen braucht, während wir nichtsdestoweniger immer eine soviel wie möglich reine Geistigkeit haben, unbeschadet unserer Organe, die durch ihren Einfluß nie die Gesetze unserer Spontaneität stören können. Ich finde den leeren Raum und die Atome ganz anders, als durch den Trugschluß der Kartesianer, ausgeschlossen, welcher sich auf die angebliche Gleichbedeutung[32] der Vorstellung des Körpers und der Ausdehnung gründet Ich erblicke alles in Ordnung und Harmonie, mehr als man es bis jetzt jemals begriffen hat überall organische Materie, nichts Leeres, Unfruchtbares und Vernachlässigtes, nichts zu Einförmiges, alles mannigfaltig, aber in Ordnung, und, was über die Phantasie hinausgeht, das ganze Weltall im kleinen, jedoch von einem ganz verschiedenen Anblick in jedem seiner Teile und selbst in jeder seiner substantiellen Einheiten. Außer dieser neuen Analyse der Dinge habe ich die der Begriffe oder Vorstellungen und der Wahrheiten besser begriffen. Ich verstehe, was eine wahre, klare, bestimmte und, wenn ich dies Wort gebrauchen darf adäquate Vorstellung ist. Ich verstehe, welches die ursprünglichen Wahrheiten und die wahren Grundsätze sind, die Unterscheidung der notwendigen und der tatsächlichen Wahrheiten, des Vernunftgebrauchs der Menschen und der Folgerungen der Tiere, die nur ein Schatten von jenem sind. Kurz, Sie werden erstaunt sein, alles zu hören, was ich Ihnen zu sagen habe, und vor allen Dingen zu erkennen, wie die Erkenntnis der Größe und der Vollkommenheit Gottes dadurch erhöht wird. Denn ich kann Ihnen nicht verhehlen, da ich vor Ihnen kein Geheimnis habe, wie ich gegenwärtig von Bewunderung und (wenn wir uns dieses Ausdruckes zu bedienen wagen) von Liebe für diese oberste Quelle aller Dinge und Schönheiten durchdrungen bin, nachdem ich gefunden habe, daß diejenigen Vollkommenheiten Gottes, welche dieses System enthüllt, alles übertreffen, was man bis jetzt davon begriffen hat. Sie wissen, daß ich ehemals ein wenig zu weit gegangen bin und mich auf die Seite der Spinozisten zu schlagen anfing die Gott nur eine unendliche Macht beilegen, ohne Vollkommenheiten und Weisheit bei ihm anzuerkennen und, indem sie die Erforschung der Zweckursachen vernachlässigen, alles von einer blinden Notwendigkeit ableiten. Aber diese neue Aufklärung hat mich davon geheilt, und seitdem nehme ich mitunter den Namen Theophilus an. Ich habe das Buch jenes berühmten Engländers gelesen, wovon Sie eben gesprochen haben. Ich schätze es sehr und habe Vortreffliches darin gefunden; man muß aber weitergehen und sich sogar seiner Ansichten entschlagen, weil er oft solche angenommen hat, welche uns mehr[33] als nötig beschränken und nicht allein die Stellung des Menschen, sondern auch die des Weltalls ein wenig zu sehr herabsetzen.

Philalethes. Sie setzen mich in der Tat durch alle die Wunder in Erstaunen, von denen Sie mir Bericht abstatten; er klingt etwas zu günstig, als daß ich so leicht daran glauben könnte. Indessen will ich hoffen, daß unter so viel Neuem, von dem Sie mich unterrichten wollen, etwas haltbares sein wird. In diesem Falle werden Sie mich ganz gelehrig finden. Sie wissen, daß es immer meine Neigung war, mich an die Vernunft zu halten, und ich mir mitunter den Namen Philalethes gab. Deswegen wollen wir uns jetzt, wenn es Ihnen recht ist, dieser beiden Namen, die so viel Beziehung haben, bedienen. Um zum Ziele zu gelangen, schlage ich Ihnen ein Mittel vor. Da Sie das Buch des berühmten Engländers gelesen haben, welches mir so viel Befriedigung gewährt, und er darin die Gegenstände, wovon wir eben gesprochen haben, großenteils behandelt, und vor allem die Analyse unserer Vorstellungen und Erkenntnisse, so wird es das kürzeste sein, dem Faden desselben zu folgen und zuzusehen, was Sie zu bemerken haben.

Theophilus. Ich billige Ihren Vorschlag. Hier ist das Buch.

§ 1. Philalethes. Ich habe es so oft gelesen, daß ich es bis auf die Ausdrücke im Gedächtnisse habe, denen ich sorgfältig folgen werde. Ich werde also nur nötig haben, bei gewissen Streitfragen, wo wir es für notwendig erachten werden, nachzuschlagen. Zuerst wollen wir von dem Ursprung der Vorstellungen oder Begriffe reden (erstes Buch); darauf von den verschiedenen Arten der Vorstellungen (zweites Buch), und der Worte, deren wir uns, um sie auszudrücken, bedienen (drittes Buch) endlich von den Erkenntnissen und Wahrheiten, die daraus folgen (viertes Buch) und zwar wird dieses letzte Buch uns am meisten beschäftigen.

Was den Ursprung der Vorstellungen betrifft, so glaube ich mit diesem Schriftsteller und vielen andern Gelehrten, daß es ebensowenig angeborene Vorstellungen als angeborene Grundsätze gibt. Und um den Irrtum derjenigen, welche solche annehmen, zu widerlegen, genügt es, wie in der Folge sich zeigen wird, nachzuweisen, daß[34] man derselben gar nicht bedarf, und daß die Menschen alle ihre Erkenntnisse ohne die Hilfe irgend eines angeborenen Eindruckes erlangen können.

Theophilus. Sie wissen, Philalethes, daß ich seit langer Zeit anderer Meinung bin, daß ich beständig, wie auch jetzt noch für die angeborene Vorstellung Gottes bin, wie sie Descartes aufrechterhalten hat, und folglich auch für andere angeborene Vorstellungen, die von den Sinnen nicht stammen können. Gegenwärtig gehe ich im Anschluß an das neue System noch viel weiter und glaube sogar, daß alle Gedanken und Tätigkeiten unserer Seele aus ihrem eigenen Innern stammen, da sie ihr, wie Sie in der Folge sehen werden, nicht durch die Sinne gegeben werden können. Gegenwärtig jedoch will ich diese Untersuchung beiseite setzen und mich den einmal angenommenen Ausdrücken anbequemen, da sie in der Tat gut und haltbar sind, und man in einem gewissen Sinne sagen kann, daß die äußeren Sinne zum Teil Ursache unserer Gedanken sind, – um zu prüfen, wie man meiner Ansicht nach auch bei dem gewöhnlichen System (indem man von der Tätigkeit der Körper auf die Seele redet, wie die Anhänger des Copernicus mit den übrigen Menschen von der Bewegung der Sonne, und zwar mit Grund, reden) sagen muß, daß es Vorstellungen und Grundsätze gibt, die nicht von den Sinnen stammen und welche wir in uns, ohne sie zu bilden, verenden, wenngleich die Sinne uns Gelegenheit geben, uns derselben bewußt zu werden. Wie ich mir denke, hat unser gelehrter Schriftsteller die Bemerkung gemacht, daß man unter dem Namen angeborener Grundsätze häufig seine Vorurteile festhält und sich damit der Mühe der Untersuchungen überheben will und dieser Mißbrauch wird seinen Eifer gegen jene Voraussetzung entzündet haben. Er wird die Trägheit und oberflächliche Denkungsart derer haben bekämpfen wollen, die unter dem gleitenden Vorwand angeborener Vorstellungen und dem Geiste von Natur eingeprägter Wahrheiten, denen wir ohne Schwierigkeit beistimmen, sich nicht die Mühe nehmen, die Quellen, Verbindungen und die Gewißheit dieser Kenntnisse zu erforschen und zu untersuchen. Darin bin ich ganz seiner Ansicht und gehe sogar noch weiter. Ich wünschte, daß man unsere Analyse gar nicht[35] beschränkte, von allen Bezeichnungen, die dessen fähig sind, die Begriffsbestimmungen gäbe, und alle Grundsätze, die nicht fundamental sind, bewiese oder zu beweisen Anstalt machte, ohne auf die Meinung der Menschen darüber zu sehen und sich darum zu bekümmern, ob sie damit übereinstimmen oder nicht. Damit würde mehr Nutzen verbunden sein, als man denkt, Mir scheint aber, daß der Verfasser durch seinen sonst sehr löblichen Eifer zu weit nach der anderen Seite geführt worden ist. Er hat meiner Ansicht nach den Ursprung der notwendigen Wahrheiten, deren Quelle im Verstande ist, nicht genug von den tatsächlichen unterschieden, die man aus den Erfahrungen der Sinne und selbst aus den in uns vorhandenen verworrenen Wahrnehmungen gewinnt. Sie sehen also ich gebe nicht zu, was Sie als Tatsache hinstellen, daß wir alle unsere Erkenntnisse, ohne angeborene Eindrücke nötig zu haben, erlangen können und die Folge wird zeigen, wer von uns recht hat.

§ 2. Philalethes. Das werden wir in der Tat sehen. Ich gebe Ihnen zu, lieber Theophil, daß es keine allgemeiner angenommene Meinung gibt als die, wonach gewisse Grundsätze der Wahrheit vorhanden sind, über welche die Menschen allgemein übereinkommen; darum werden sie Gemeinbegriffe (koinai ennoiai) genannte man schließt daraus, daß diese Grundsätze ebensoviel Eindrücke seien, welche unsere Seelen mit dem Dasein empfangen.

§ 3. Aber falls die Tatsache sicher wäre, daß es von dem ganzen Menschengeschlecht angenommene Grundsätze gibt, so würde diese allgemeine Übereinstimmung doch nicht beweisen, daß sie angeboren sind, wenn man, wie ich glaube einen anderen Weg zeigen kann, auf dem die Menschen zu dieser Übereinstimmung in ihrer Ansicht haben gelangen können.

§ 4. Was aber noch viel schlimmer ist, diese allgemeine Übereinstimmung endet gar nicht statt, selbst nicht in bezug auf jene beiden berühmten Grundsätze der Spekulation (denn von denen der Praxis werden wir nachher sprechen), daß alles, was ist, ist, und daß etwas zur selben Zeit unmöglich sein und nicht sein kann; denn einem großen Teil des Menschengeschlechts sind diese beiden Grundsätze, die Ihnen ohne[36] Zweifel als notwendige Wahrheiten und Grundsätze gelten, nicht einmal bekannt.

Theophilus. Ich gründe die Gewißheit der angeborenen Grundsätze nicht auf die allgemeine Übereinstimmung, denn ich habe Ihnen schon gesagt, Philalethes, daß man meiner Meinung nach darauf hinarbeiten müsse, alle Grundsätze, die nicht fundamentale sind, beweisen zu können. Auch gebe ich Ihnen zu, daß eine sehr allgemeine Übereinstimmung, die aber nicht ganz durchgängig ist, aus einer über das ganze Menschengeschlecht verbreiteten Überlieferung stammen könne, wie die Sitte des Tabakrauchens von fast allen Völkern in weniger als einem Jahrhundert angenommen worden ist, obgleich man einige Inselbewohner gefunden hat, die, da sie nicht einmal das Feuer kannten, auch nicht rauchen konnten. So haben einige Gelehrte selbst unter den Theologen, jedoch von der Sekte des Arminius, geglaubt, daß die Gotteserkenntnis aus einer sehr alten und sehr allgemeinen Überlieferung stammte, und ich bin in der Tat zu glauben geneigt, daß der Unterricht diese Kenntnis befestigt und berichtigt hat. Gleichwohl scheint es, daß die Natur auch ohne Lehre dazu anleite; die Wunder des Weltalls sind die Ursache gewesen, an eine höhere Macht zu denken. Man hat ein taubstumm geborenes Kind dem Vollmond seine Anbetung bezeugen sehen und Völker gefunden, die nichts anderes kannten, und wieder andere Völker, welche sich vor unsichtbaren rächten fürchteten. Ich gebe Ihnen zu, lieber Philalethes, daß dies noch nicht die Idee Gottes sei, wie wir sie haben und fordern diese Idee ist jedoch nichtsdestoweniger im Grunde unserer Seele, ohne, wie wir sehen werden, hineingebracht zu sein. Auch die ewigen Gesetze Gottes sind zum Teil auf eine noch lesbarere Art und durch eine Art von Instinkt derselben eingeprägt. Aber dies sind Grundsätze des Handelns, von denen wir noch zu reden Gelegenheit haben werden. Man muß indessen gestehen, daß unsere Neigung zur Anerkennung der Idee Gottes in der menschlichen Natur liegt. Und wenn wir den ersten Unterricht darin auch der Offenbarung zuschreiben wollten, so kommt doch immer die Leichtigkeit, welche die Menschen in der Annahme dieser Lehre gezeigt haben, aus der Naturanlage ihrer Seele. Aber wir werden in der Folge zu[37] dem Urteil gelangen, daß die äußere Lehre dabei das, was in uns ist, hier nur erwecke. Ich schließe also, daß eine allgemeine Übereinstimmung unter den Menschen ein Zeichen und nicht ein Beweis für einen angeborenen Grundsatz ist, der strikte und entscheidende Beweis dieser Grundsätze aber darin besteht, aufzuzeigen, daß deren Gewißheit nur von dem uns Innewohnenden stammt. Um noch auf das zu antworten, was Sie gegen die allgemeine Zustimmung zu den beiden großen Grundsätzen der Spekulation geltend machen, die doch aufs beste festgestellt sind, so kann ich Ihnen sagen, daß sie, seihst wenn sie nicht bekannt wären, doch angeboren wären, weil man sie anerkennt, sobald man sie vernommen hat. Aber ich will noch hinzufügen, daß im Grunde genommen jedermann sie kennt, und man sich z.B. jeden Augenblick des Grundsatzes des Widerspruchs, ohne besonders darauf acht zu haben, bedient. Kein Mensch ist so roh, daß er nicht in einer ernsten Sache von dem Betragen eines Lügners, der sich selbst widerspricht, verletzt werden sollte. So wendet man diese Grundsätze an, ohne sie ausdrücklich ins Auge zu fassen, und das ist ungefähr, wie wenn man in den Enthymemen die nicht ausgedrückten Vordersätze nur der Möglichkeit nach im Geiste hat, indem man sie nicht nur im Ausdruck, sondern selbst im Denken beiseite läßt.

§ 5. Philalethes. Was Sie von diesen möglichen Kenntnissen und dem inneren Unterdrücken derselben sagen, überrascht mich; denn zu behaupten, daß es in die Seele eingeprägte Wahrheiten gibt, deren sie sich nicht bewußt ist, das scheint mir wahrlich ein Widerspruch.

Theophilus. Wenn Sie in diesem Vorurteil befangen sind, so wundere ich mich nicht, daß Sie die angeborenen Erkenntnisse verwerfen. Aber ich bin erstaunt, wie es Ihnen noch nicht eingefallen ist, daß wir unendlich viele Erkenntnisse haben, deren wir uns nicht immer bewußt sind, selbst nicht, wenn wir sie brauchen; das Gedächtnis muß sie aufbewahren und die Wiedererinnerung sie uns darbieten, wie nach Bedürfnis oft, aber nicht immer geschieht. Man nennt dies sehr gut »beikommen«, denn die Wiedererinnerung verlangt Beistand. Und sicherlich müssen wir bei dieser Menge unserer Erkenntnisse durch etwas bestimmt werden, eine davon eher als die[38] andere wieder zu erwecken, weil es unmöglich ist, an alles, was wir wissen, ganz zu derselben Zeit deutlich zu denken.

Philalethes. Darin, glaube ich, haben Sie recht, und diese zu allgemeine Vorstellung, daß wir uns immer aller Wahrheiten, die in unserer Seele sind, bewußt seien, ist mir entgangen, ohne daß ich hinlänglich Aufmerksamkeit darauf gehabt habe. Aber Sie werden etwas mehr Mühe haben, auf das, was ich Ihnen jetzt vorlegen will, zu erwidern. Wenn man nämlich von einem einzelnen Satz sagen kann, daß er angeboren ist, so wird man mit demselben Grunde behaupten können, daß alle Sätze, welche vernunftgemäß sind und die der Geist jemals als solche wird betrachten können, der Seele bereits eingeprägt sind.

Theophilus. Ich gebe Ihnen dies hinsichtlich der reinen Vorstellungen zu, die ich den phantastischen Erscheinungen der Sinne entgegensetze, sowie in betreff der notwendigen oder Vernunftwahrheiten, welche ich den tatsächlichen Wahrheiten entgegensetze. In diesem Sinne muß man sagen, daß die ganze Arithmetik und die ganze Geometrie angeboren und auf eine potentielle Weise in uns sind, dergestalt, daß man sie, wenn man aufmerksam das im Geiste schon Vorhandene betrachtet und ordnet, darin auffinden kann, ohne sich irgend einer durch die Erfahrung oder Überlieferung von einem anderen lernten Wahrheit zu bedienen, wie Plato dies in einem Gespräch gezeigt hat, wo er den Sokrates ein Kind durch bloße Fragen, ohne es etwas zu lehren, zu fernliegenden Wahrheiten führen läßt. Man kann also diese Wissenschaften in seinem Zimmer und sogar mit geschlossenen Augen sich bilden, ohne durch das Gesicht oder selbst das Gefühl die nötigen Wahrheiten zu lernen, obgleich man allerdings die Vorstellungen, um die es sich handelt, nicht gewahr werden würde, wenn man niemals etwas gesehen oder berührt hätte. Denn durch eine bewunderungswürdige Einrichtung der Natur geschieht es, daß wir niemals abstrakte Gedanken haben können, ohne dazu etwas Sinnliches zu bedürfen, wären es auch nur solche reichen, wie die Gestalten der Buchstaben oder die Töne sind, wenngleich zwischen solchen willkürlichen Zeichen und jenen Gedanken keine notwendige Verknüpfung besteht.[39] Und wenn die sinnlichen Spuren nicht erforderlich wären, so würde die vorherbestimmte Harmonie zwischen der Seele und dem Körper, womit ich Sie noch ausführlicher zu unterhalten Gelegenheit haben werde, nicht stattfinden. Dies hindert aber keineswegs, daß der Geist die notwendigen Wahrheiten aus sich selbst schöpfe. Auch sieht man mitunter, wie weit er ohne irgend eine Hilfe durch eine rein natürliche Logik und Arithmetik kommen kann, wie jener schwedische Knabe durch Ausbildung der seinigen bis zu großen Rechnungen, die er sofort im Kopfe macht, gekommen ist, ohne die gewöhnliche Rechenkunst, noch selbst lesen und schreiben gelernt zu haben, wenn ich mich dessen, was man mir davon erzählt hat, recht erinnere. Allerdings könnte er nicht mit der Auflösung so schwieriger Probleme fertig werden, welche das Ausziehen der Wurzeln erfordern. Aber das hindert nicht, daß er sie nicht durch irgend einen neuen Kunstgriff des Geistes aus sich selbst hätte lösen können. Also beweist das nur, daß es in der Schwierigkeit, sich dessen, was in uns ist, bewußt zu werden, verschiedene Grade gibt. Es gibt angeborene Grundsätze, die allen bekannt und sehr leicht faßlich sind es gibt Lehrsätze, die man auch gleich entdeckt, und aus denen die natürlichen Wissenschaften bestehen, welche bei dem einen ausgebreiteter sind als bei dem anderen. Endlich können in einem noch weiteten Sinne, den anzuwenden gut ist, um umfassendere und bestimmtere Begriffe zu haben, alle diejenigen Wahrheiten angeborene genannt werden, die man aus den ursprünglichen angeborenen Erkenntnissen ziehen kann, weil der Geist sie aus seinem eigenen Innern zu schöpfen vermag, was freilich oft keine leichte Sache ist. Wenn aber jemand den Ausdrücken einen anderen Sinn beilegt, so will ich nicht mit ihm über Worte streiten.

Philalethes. Ich habe Ihnen zugegeben, daß man in der Seele manches, dessen man sich nicht bewußt ist, haben kann, denn man erinnert sich nicht immer, wenn es gerade ein muß, alles dessen, was man weiß. Aber man muß es doch einmal gelernt und vordem ausdrücklich gekannt haben. Wenn man also sagen kann, daß etwas in der Seele ist, obgleich diese es noch nicht gekannt hat, so kann dies nur dadurch sein, daß sie die Fähigkeit oder das Vermögen, es zu erkennen, besitzt.

[40] Theophilus. Warum könnte dies nicht noch eine andere Ursache haben, nämlich die, daß die Seele etwas in sich haben kann, ohne daß man sich desselben bewußt wäre? Denn da eine erworbene Erkenntnismittels des Gedächtnisses darin verborgen sein kann, wie Sie es zugeben, warum sollte nicht auch die Natur eine ursprüngliche Erkenntnis darin haben verbergen können muß denn alles, was einer sich erkennenden Substanz natürlich ist, sogleich wirklich von ihr erkannt werden? Kann und muß nicht eine Substanz, wie unsere Seele, verschiedener Eigenschaften und Regungen haben, welche alle sofort und alle gleich gewahr zu werden unmöglich ist? Die Platoniker meinten, daß alle unsere Erkenntnisse aus der Erinnerung und zwar so herrühren, daß die Wahrheiten, welche die Seele mit der Geburt des Menschen auf die Welt gebracht hat und die man angeborene nennt, Reste einer ausdrücklichen vorhergegangenen Erkenntnis sein müssen. Aber diese Meinung ist ohne Grund, und es ist leicht einzusehen, daß die Seele schon in dem vorhergegangenen Zustand (wenn die Präexistenz stattfand), so entfernt er auch sein mochte, ganz wie hier bereits angeborene Erkenntnisse haben mußte diese müßten sich also auch aus einem vorhergegangenen Zustand herschreiben, wo sie am Ende angeboren oder wenigstens mit anerschaffen sein würden; oder aber man müßte bis ins Unendliche gehen und die Seele als von Ewigkeit herannehmen, in welchem Falle diese Kenntnisse in der Tat angeboren sein würden, weil sie dann in der Seele niemals einen Anfang gehabt haben würden. Wollte jemand noch behaupten, daß jeder frühere Zustand etwas von einem noch früheren gehabt habe, was er den folgenden nicht zurückgelassen hat, so würde man ihm antworten, daß offenbar gewisse evidente Wahrheiten allen diesen Zuständen hätten zukommen müssen, und daß, wie man die Sache auch nehme, in allen Zuständen der Seele die notwendigen Wahrheiten ganz gewiß angeboren seien und aus dem Inneren bewiesen werden, da sie durch Erfahrungen, wie man durch solche die tatsächlichen Wahrheiten begründet, nicht begründet werden konnten. Warum sollte mau denn auch in der Seele nichts besitzen können, wovon mau niemals Gebrauch gemacht hat? Ist es denn einerlei, etwas haben, ohne es zu gebrauchen, und nur[41] das Vermögen, es sich anzueignen, besitzen? Wäre dies der Fall, so würden wir immer nur das besitzen, was wir gebrauchen. Statt dessen weiß man, daß außer dem Vermögen und dem Gegenstande oft eine gewisse Anlage in der Fähigkeit oder in dem Gegenstande, oder in allen beiden nötig ist, damit die Fähigkeit sich auf den Gegenstand anwenden lasse.

Philalethes. Wenn man es auf diese Art nimmt, wird man behaupten können, es seien der Seele gewisse Wahrheiten eingeprägt, welche sie gleichwohl niemals gekannt hat und sogar niemals erkennen würde, was mir befremdlich erscheint.

Theophilus. Ich sehe darin nichts Widersinniges, obgleich man auch nicht versichern kann, daß es solche Wahrheiten gibt. Denn es möchten sich dereinst noch erhabenere Dinge, als wir im gegenwärtigen Lebenslauf erkennen können, in unseren Seelen entwickeln, wenn sie in eisern anderen Zustande sein werden.

Philalethes. Gesetzt nun, es gebe Wahrheiten, welche dem Verstande ohne daß er sich ihrer bewußt ist, eingeprägt sein können, so sehe ich nicht ein, wie sie hinsichtlich ihrer Entstehung von den Wahrheiten, welche zu erkennen er allein fähig ist, verschieden sein können.

Theophilus. Der Geist ist nicht allein fähig, sie zu erkennen, sondern auch, sie in sich aufzufinden, und hätte nur die bloße Fähigkeit, die Erkenntnisse in sich aufzunehmen oder die leidende Möglichkeit dazu, die so unbestimmt wäre, als die des Wachses, formen anzunehmen, und die der leeren Tafel, Buchstaben aufzunehmen, so würde er nicht die Quelle der notwendigen Wahrheiten sein, wie er sie doch nach meinem eben gelieferten Beweis ist, denn es ist unbestreitbar, daß die Sinne nicht ausreichen, um deren Notwendigkeit einzusehen, und daß also der Geist eine sowohl tätige als leidende Anlage hat, sie aus seinem eigenen Inneren selbst zu schöpfen, wenn auch die Sinne notwendig sein mögen, um ihm Gelegenheit dazu und Aufmerksamkeit dafür zu geben und ihn auf die einen eher als auf die anderen zu lenken. Sie sehen also, daß diejenigen sonst sehr gescheiten Leute, welche anderer Ansicht sind, nicht genug über die Tragweite des Unterschiedes nachgedacht zu haben scheinen, der, wie ich schon bemerkt habe, und wie unser ganzer[42] Streit zeigt, zwischen den notwendigen oder ewigen Wahrheiten und den Erfahrungs-Wahrheiten obwaltet. Der ursprüngliche Beweis der notwendigen Wahrheiten kommt allein vom Verstande, und die übrigen Wahrheiten stammen aus den Erfahrungen oder Beobachtungen der Sinne. Unser Geist ist fähig, die einen und die anderen zu erkennen, aber er ist die Quelle der ersteren, und so zahlreiche einzelne Erfahrungen man von einer allgemeinen Wahrheit haben mag, so kann man sich doch derselben durch Induktion nicht für immer versichern, ohne ihre Notwendigkeit durch die Vernunft zu erkennen.

Philalethes. Wenn aber diese Worte im Verstande sein etwas Positives in sich schließen, müssen sie dann nicht so viel bedeuten, als daß der Verstand ihrer sich bewußt ist und sie begreift?

Theophilus. Sie bedeuten für uns etwas ganz anderes; es genügt, daß das, was im Verstande ist, auch darin gefunden werden könne, und daß die ursprünglichen beweise der Wahrheiten, um die es sich handelt, nur im Verstande seien die Sinne können diese Wahrheiten anregen, rechtfertigen und bestätigen, aber nicht ihre unfehlbare und immerwährende Gewißheit beweisen.

Philalethes. Gleichwohl werden alle die, welche sich die Mühe geben, mit einiger Aufmerksamkeit auf das Verfahren des Verstandes zu achten, finden, daß diese vom Geiste ohne weiteres gewissen Wahrheiten erteilte Zustimmung von dem Vermögen des menschlichen Geistes abhängt.

Theophilus. Ganz rechte aber eben dieses besondere Verhältnis des menschlichen Geistes zu diesen Wahrheiten macht die Anwendung des Vermögens auf sie leicht und natürlich, und bewirkt, daß man sie angeborene nennt. Es ist also kein nacktes Vermögen, welches in der bloßen Möglichkeit, sie zu begreifen, besteht; es ist eine Anlage, eine Fertigkeit, eine Keimbildung, welche unsere Seele bestimmt und bewirkt, daß sie aus ihr gewonnen werden können. Ganz so, wie es zwischen den Gestalten, welche man dem Stein oder dem Marmor willkürlich gibt, und zwischen denen, welche seine Adern schon bezeichnen oder zu bezeichnen angelegt sind, wenn der Künstler davon Gebrauch machen will, einen Unterschied gibt.

[43] Philalethes. Ist es aber nicht wahr, daß die Wahrheiten den Vorstellungen, aus denen sie hervorgehen, nachfolgen? Es stammen also die Vorstellungen von den Sinnen ab.

Theophilus. Die intellektuellen Vorstellungen, welche die Quelle der notwendigen Wahrheiten sind, stammen nicht von den Sinnen ab, und Sie müssen anerkennen, daß es Vorstellungen gibt, welche der Reflexion des Geistes verdankt werden, wenn er über sich selbst nachdenkt. Es ist übrigens wahr, daß die deutliche Erkenntnis der Wahrheiten der deutlichen Erkenntnis der Vorstellungen (tempore vel natura, nach Zeit und Wesen) erst folgt, wie das Wesen der Wahrheiten von dem der Vorstellungen abhängt, ehe man die einen und die anderen deutlich bildet, und wie die Wahrheiten, zu denen die aus den Sinnen stammenden Vorstellungen mitwirken, wenigstens zum Teil von den Sinnen abhangen. Es sind aber die aus den Sinnen stammenden Vorstellungen verworren und die davon abhängigen Wahrheiten, zum Teil wenigstens, auch, während die intellektuellen Vorstellungen und die davon abhängigen Wahrheiten deutlich bestimmt sind und weder die einen, noch die anderen ihren Ursprung aus den Sinnen haben, obgleich wir allerdings ohne die Sinne niemals an sie denken würden.

Philalethes. Nach Ihrer Meinung sind jedoch die Zahlen intellektuelle Vorstellungen und dennoch hängt die dabei vorkommende Schwierigkeit von der deutlichen Bildung der Vorstellungen ab. Ein Erwachsener z.B. weiß, daß 18 und 19 zusammen gleich 37 sind, mit derselben Evidenz, wie er weiß, daß 1 und 2 zusammen 3 machen; gleichwohl erkennt aber ein Kind den ersteren Satz nicht so reicht als den zweiten, weil es die Vorstellungen nicht so schnell gebildet hat als die Worte.

Theophilus. Ich kann Ihnen zugeben, daß die Schwierigkeit in der deutlichen Bildung der Wahrheiten oft von der abhängt, welche man bei der deutlichen Bildung der Vorstellungen hat. Gleichwohl glaube ich, daß es in Ihrem Beispiel sich darum handelte schon gebildete Vorstellungen anzuwenden, denn die, welche bis 10 zu zählen und die Art, mittels einer gewissen Verdoppelung der Zehner weites zu gehen, gelernt haben verstehen ohne Mühe, daß 18 und 19 = 37 nämlich ist, nämlich ein- zwei- oder[44] dreimal 10 mit 8 oder 9 oder 7 aber um daraus zu schließen, daß 18 und 19 37 macht, bedarf es mehr Aufmerksamkeit, als um zu wissen, daß 1 und 2 = 3 sind, was im Grunde nur die Definition von 3 ist.

§ 18. Philalethes. Es ist kein den von Ihnen intellektuell genannten Zahlen oder Vorstellungen anhaftendes Vorrecht, Sätze zu liefern, denen man, sobald man sie hört, unfehlbar beistimmt. Es gibt deren auch in der Physik und in allen anderen Wissenschaften, und selbst die Sinne liefern uns solche. So z.B. ist der Satz: Zwei Körper können nicht zugleich an demselben Orte sein, eine Wahrheit, von der man auf keine andere Weise überzeugt ist, als von folgenden Grundsätzen: Unmöglich kann etwas zu der nämlichen Zeit sein und nicht sein; Weiß ist nicht Rot; ein Viereck ist kein Kreise die gelbe Farbe ist nicht die Süßigkeit.

Theophilus. Diese Sätze enthalten doch Unterschiede. Der erste, welcher die Unmöglichkeit der Durchdringlichkeit der Körper ausspricht, bedarf eines Beweises. In der Tat verwerfen ihn alle die, welche, wie die Peripatetiker und der verstorbene Ritter Digby, an wirkliche und im eigentlichen Sinn genommene Verdichtungen und Verdünnungen glauben, ohne von den Christen zu sprechen, welche meistens das Gegenteil glauben, daß nämlich die Durchdringung des Ausgedehnten für Gott möglich, die anderen Sätze aber sind identische oder doch beinahe, und die identischen oder unmittelbaren bedürfen keines Beweises. Was diejenigen betrifft, welche von den Sinnen geliefert werden, wie der, welcher aussagt, daß die gelbe Farbe nicht die Süßigkeit ist, so wenden diese nur den allgemeinen Identitätssatz auf besondere Fälle an.

Philalethes. Jeder aus zwei verschiedenen Vorstellungen gebildete Satz, deren eine die andere aufhebt, wie z.B. daß das Viereck kein Kreis ist, das Gelbsein nicht Süßsein ist, wird ebenso sicher als unzweifelhaft angenommen werden, sobald man die Ausdrücke darin versteht, wie jener allgemeine Grundsatz: »Unmöglich kann etwas zur nämlichen Zeit sein und nicht sein«.

Theophilus. Dies kommt daher, daß der eine (nämlich der allgemeine Grundsatz) und der andere (nämlich die[45] Aufhebung einer Vorstellung durch eine andere entgegengesetzte) davon die Anwendung ist.

Philalethes. Mir scheint vielmehr, daß der Grundsatz von jener Aufhebung, welche ihn begründet, abhängig ist, und daß er noch leichter zu verstehen ist als der Satz: Was dasselbe ist, ist nicht verschieden, oder der Grundsatz des zu vermeidenden Widerspruches. Auf diese Weise würde man ja eine zahllose Menge von Sätzen dieser Art, welche eine Vorstellung der anderen absprechen, ohne von den übrigen Wahrheiten zu reden, als angeborene Wahrheiten annehmen müssen. Dazu kommt, daß, weil kein Satz angeboren sein kann. wenn nicht die ihn bildenden Vorstellungen angeboren sind, man voraussetzen müßte, daß alle Vorstellungen, welche wir von Farben, Tönen, Geschmäcken, Gestalten usw. haben, angeboren sind.

Theophilus. Ich sehe gar nicht ein, wie der Satz: »Einerlei ist nicht verschieden« der Ursprung des Grundsatzes des Widerspruches und leichter begreiflich, als er, sein sollte; denn mir scheint, man nimmt sich mehr Freiheit, wenn man behauptet, daß A nicht B ist, als wenn man sagt, daß A nicht A ist. Der Grund, der A, B zu sein, hindert, ist, daß B nicht A in sich enthält. Übrigens ist nach dem Sinne, welchen wir diesem Ausdruck »angeborene Wahrheit« gegeben haben, der Satz: »Das Süße ist nicht das Bittere« nicht angeboren. Denn die Empfindungen des Süßen und des Bitteren stammen von den äußeren Sinnen. Also ist es ein gemischter Schluß (hybrida conclusio) wo der Grundsatz auf eine sinnliche Wahrheit angewendet worden ist. Was aber jenen Satz anbetrifft: »Das Viereck ist kein Kreis«, so kann man sagen, daß er angeboren ist; denn indem man ihn ins Auge faßt, macht man eine Subsumtion oder Anwendung des Grundsatzes des Widerspruchs auf das, was der Verstand selbst liefert, sobald man sich bewußt ist, daß diese angeborenen Vorstellungen Begriffe in sich schließen, die miteinander unverträglich sind.

§ 19. Philalethes. Wenn Sie annehmen, daß diese besonderen und durch sich selbstevidenten Sätze, deren Wahrheit man erkennt, sobald man sie aussprechen hört, wie z.B. daß das Grüne nicht das Rote ist, als Folgerungen[46] jener anderen noch allgemeineren Sätze, welche man als ebenso viele angeborene Grundsätze betrachtet, angenommen werden, so scheinen Sie nicht in Erwägung zu ziehen, daß diese besonderen Sätze von denen, welche keine Erkenntnis jener allgemeineren Grundsätze haben, als unzweifelhafte Wahrheiten angenommen werden.

Theophilus. Darauf habe ich bereits vorhin geantwortet: man beruft sich auf diese allgemeinen Grundsätze, wie man sich auf die Obersätze beruft, welche man beim Schließen durch Enthymeme voraussetzte denn obgleich man gar häufig beim Schließen nicht deutlich an das, was man tut, denkt, ebensowenig wie an das, was man beim Gehen und beim Springen tut, so ist doch immer wahr, daß die Kraft des Schlusses zum Teil in dem besteht, was man unterdrückt, und was nirgends sonst her gewonnen werden kann, – wie man finden wird, wenn man ihn zu rechtfertigen sucht.

§ 20. Philalethes. Es scheint aber, daß die allgemeinen und abstrakten Vorstellungen unserem Geiste fremder sind als die besonderen Begriffe und Wahrheiten; also müssen diese besonderen Wahrheiten dem Geiste natürlicher sein als der Grundsatz des Widerspruchs, von dem sie Ihrer Meinung nach nur die Anwendung sein sollen.

Theophilus. Allerdings beginnen wir früher der besonderen Wahrheiten uns bewußt zu sein, sowie wir mit den zusammengesetzteren und gröberen Vorstellungen beginnen dies hindert aber nicht, daß die Ordnung der Natur mit dem Einfachsten beginne und die Begründung der besonderen Wahrheiten von den allgemeineren abhange, wovon sie nur die Beispiele sind. Und wenn man in Betracht ziehen will, was in uns der Anlage nach und jedwedem Bewußtsein vorausliegt, so hat man Ursache, mit dem Einfachsten anzufangen. Denn die allgemeinen Grundsätze sind in unserem Denken enthalten und bilden deren Seele und Zusammenhalt. Sie sind so notwendig, wie die Muskeln und Sehnen zum Gehen sind, wenn man auch nicht daran denkt. Der Geist stützt sich jeden Augenblick auf diese Grundsätze; aber es gelingt ihm nicht so leicht, sie sich klar zu machen und sich deutlich und gesondert vorzustellen, weil dies eine große Aufmerksamkeit auf sein Tun erfordert, welche die meisten Menschen, zum Nachdenken wenig gewöhnt,[47] nicht besitzen. Haben nicht die Chinesen artikulierte Laute wie wir? Und dennoch sind sie bei ihrer Gewöhnung an eine andere Schreibweise noch nicht darauf gekommen, von diesen Lauten ein Alphabet zu machen. So haben wir vieles in unserem Besitz, ohne es zu wissen.

§. 21. Philalethes. Wenn der Geist gewissen Wahrheiten so schnell zustimmt, könnte das nicht eher von der Betrachtung der Natur der Dinge selbst herkommen, die ihm anders zu urteilen nicht erlaubt, als davon, daß diese Sätze von Natur unserem Geist eingepflanzt sind?

Theophilus. Eines und das andere ist richtig. Die Natur der Dinge und die Natur des Geistes tragen dazu bei. Und wenn Sie die Betrachtung der Sache dem Bewußtsein des unserem Geist Eingepflanzten entgegensetzen, so zeigt dieser Einwand selbst, daß die, deren Partei Sie ergreifen, unter den angeborenen Wahrheiten nur das verstehen, was man von Natur wie durch Instinkt und sogar bei nur verworrener Erkenntnis gutheißen würde. Es gibt Wahrheiten von dieser Art, und wir werden davon zu sprechen noch Gelegenheit haben; was man jedoch das natürliche Licht nennt, setzt eine deutliche Erkenntnis voraus, und sehr oft ist die Betrachtung des Wesens der Dinge nichts anderes, als die Betrachtung des Wesens unseres Geistes und jener angeborenen Vorstellungen, die man auswärts zu suchen nicht nötig hat. Also nenne ich diejenigen Wahrheiten angeboren, welche nur einer solchen Inbetrachtnahme bedürfen, um als wahr anerkannt zu werden. Auf den § 22 gemachten Einwurf habe ich schon im § 5 geantwortet. Dieser Einwurf besagt, daß, wenn man behauptet, die angeborenen Begriffe seien implicite im Geiste, dies nur bedeuten dürfe, er habe sie zu erkennen das Vermögen; ich habe dagegen die Bemerkung gemacht, daß er außerdem sie in sich zu finden das Vermögen; und, wenn er sie gehörig denkt, sie anzuerkennen die Neigung hat.

§ 23. Philalethes. Wie es scheint, nehmen Sie also an, daß diejenigen, welchen man jene allgemeinen Grundsätze zuerst vorträgt, nichts erfahren, was ihnen völlig neu ist. Es ist aber klar, daß sie zuerst die Bezeichnung darauf die Wahrheiten und selbst die Vorstellungen, von denen diese Wahrheiten abhangen, lernen.

[48] Theophilus. Es handelt sich hier nicht um die Bezeichnungen, welche gewissermaßen willkürlich sind, während die Vorstellungen und die Wahrheiten natürlich sind. Was aber diese Vorstellungen und Wahrheiten anbetrifft, so messen sie uns eine Lehre bei, von der wir weit entfernt sind; denn ich gebe zu, daß wir die angeborenen Vorstellungen und Wahrheiten, sei es durch Aufmerken auf ihre Quelle, sei es durch Bestätigung aus der Erfahrung, kennen lernen. Ich mache also gar nicht die von Ihnen erwähnte Voraussetzung, als ob wir in dem von Ihnen besprochenen Fall nichts Neues lernten, und würde auch den Satz: »Alles, was man lernt, ist nicht angeboren« nicht zugeben. Die arithmetischen Wahrheiten sind in uns, und dennoch lernt man sie, indem man sie entweder aus ihrer Quelle auf dem Wege demonstrativen Nachweises herleitet (was ihr Angeborensein zeigt) oder durch Beispiele erhärtet, wie die gewöhnlichen Rechner es tun, die, weil sie die Gründe nicht wissen, ihre Regeln nur durch Überlieferung lernen und höchstens, ehe sie sie lehren, durch die Erfahrung rechtfertigen, welche sie so weit treiben, als sie für angemessen erachten. Und mitunter ist selbst ein sehr geschickter Mathematiker, wenn er die Quelle der Entdeckung eines anderen nicht kennt, gezwungen, sich zu ihrer Prüfung mit dieser Induktionsmethode zu begnügen. So verfuhr ein berühmter Schriftsteller zu Paris, als ich dort war der die Untersuchung meines arithmetischen Tetragonismus durch Vergleichung mit den Ludolphschen Zahlen in dem Glauben sehr weit trieb, einen Fehler darin zu finden und er hatte auch Grund zu zweifeln, bis ihm der Beweis davon mitgeteilt wurde, der uns solcher Untersuchungen, die man immer fortsetzen könnte, ohne jemals vollkommen sicher zu sein, überhebt. Und selbst das letztere, nämlich die Unvollkommenheit der Induktionen, kann man noch durch die Beispiele aus der Erfahrung ausgleichen, denn es gibt Progressionen, in denen man sehr weit vorwärts gehen kann, ehe man die darin vorkommenden Veränderungen und Gesetze bemerkt.

Philalethes. Wäre es aber nicht möglich, daß nicht allein die Ausdrücke oder Worte, deren man sich bedient, sondern auch die Vorstellungen uns von außen kommen.

Theophilus. Dann müßten wir ja selbst außer uns[49] sein, da die intellektuellen oder Reflexions-Vorstellungen aus unserem Geiste hergeleitet werden; und ich möchte wohl wissen, wie wir die Vorstellung des Seins haben könnten, wenn wir nicht selbst Seiendes wären und so das Sein in uns fänden.

Philalethes. Was sagen Sie aber zu dieser Herausforderung eines meiner Freunde? Wenn jemand, so sagt er, einen Satz finden kann, worin die Vorstellungen angeborene sind, so nenne er ihn mir, er könnte mir keinen größeren Gefallen erweisen.

Theophilus. Ich würde ihm die Sätze der Arithmetik und Geometrie nennen, welche alle von dieser Art sind, und auf dem Gebiete der notwendigen Wahrheiten würde man gar keine anderen finden.

§ 25. Philalethes. Das wird vielen Leuten sonderbar vorkommen. Kann man sagen, daß die schwierigsten und tiefsten Wissenschaften angeboren sind.

Theophilus. Ihre wirkliche Erkenntnis ist es nicht, wohl aber das, was man die mögliche Erkenntnis nennen kann, wie die durch die Adern des Marmors vorgezeichnete Gestalt im Marmor ist, ehe man sie beim Arbeiten entdeckt.

Philalethes. Aber ist es möglich, daß die Kinder, wenn sie die ihnen von außen kommenden Begriffe empfangen und ihnen zustimmen, keine Erkenntnis von denjenigen haben, welche man als ihnen angeboren und gleichsam einen Teil ihres Geistes bildend voraussetzt, wo sie – so sagt man – in unauslöschlichen Zügen, um als Grundlage zu dienen, eingeprägt sind? Wäre das der Fall, so hätte sich die Natur unnütze Mühe gegeben oder wenigstens diese Züge schlecht eingeprägt, da sie von Augen, die anderes doch sehr gut sehen, nicht bemerkt werden können.

Theophilus. Das Bewußtsein dessen, was in uns liegt, hängt von einer bestimmten Aufmerksamkeit und Ordnung ab. Nun ist es nicht allein möglich, sondern selbst angemessen, daß die Kinder den gegriffen der Sinne mehr Aufmerksamkeit schenken, weil die Aufmerksamkeit durch das Bedürfnis geleitet wird. Indessen zeigt die Erfahrung in der Folge, daß die Natur sich nicht unnütz die Mühe gegeben hat, uns angeborene Erkenntnisse einzuprägen, da es ohne diese kein Mittel geben würde, zur[50] wirklichen Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten in den demonstrativen Wissenschaften und zu den Erkenntnisgründen der Tatsachen zu gelangen und wir würden nichts vor den Tieren voraushaben.

§ 26. Philalethes. Wenn es angeborene Wahrheiten gibt, muß es dann nicht auch angeborene Gedanken geben?

Theophilus. Durchaus nicht, denn die Gedanken sind Handlungen und die Erkenntnisse oder die Wahrheiten, sofern sie selbst dann in uns sind, wenn man nicht an sie denkt, sind nur Wertigkeiten oder Anlagen, und gar viele Dinge wissen wir, an die wir nicht denken.

Philalethes. Es ist schwer zu begreifen, daß im Geiste eine Wahrheit sei, wenn er an diese Wahrheit niemals gedacht hat.

Theophilus. Das ist ebenso, wie wenn jemand sagen wollte, es ist schwer zu begreifen, daß es im Marmor Adern gibt, bevor man sie entdeckt. Dieser Einwurf scheint sich auch einem Zirkelschluß allzusehr zu nähern. Alle diejenigen, welche angeborene Wahrheiten annehmen, ohne sie auf die Platonische Wiedererinnerung zu begründen, nehmen auch solche an, an die man noch nicht gedacht hat. Übrigens beweist dieser Schluß zu viel; denn wenn die Wahrheiten Gedanken sind, so wird man nicht nur der Wahrheiten, an die man niemals gedacht hat, sondern auch deren beraubt werden, an die man gedacht hat und an die man gegenwärtig nicht mehr denkt, und wenn die Wahrheiten nicht Gedanken, sondern natürliche oder erworbene Fertigkeiten oder Geschicklichkeiten sind, so hindert nichts, daß solche in uns seien, an die man niemals gedacht hat, noch jemals denken wird.

§ 27 Philalethes. Wenn die allgemeinen Grundsätze angeboren wären, so müssten sie im Geiste gewisser Menschen mit größerer Helligkeit erscheinen, worin wir doch davon keine Spur sehen – ich meine der Kinder, Blödsinnigen und Wilden – denn von allen Menschen ist bei diesen der Geist am wenigsten durch die Gewohnheit und den Eindruck fremder Meinungen verfälscht und verderbt.

Theophilus. Man muß, glaube ich, hier ganz anders urteilen. Die angeborenen Grundsätze treten nur durch die Aufmerksamkeit, welche man ihnen schenkt, ans Licht, aber die haben jene Menschenklassen nicht, oder haben[51] sie nur für etwas ganz anderes. Sie denken fast nur an die körperlichen Bedürfnisse, und es ist vernunftgemäß, daß die reinen und übersinnlichen Gedanken der Preis edlerer Bemühungen seien. Allerdings ist in Kindern und Wilden der Geist durch die Gewohnheiten weniger verderbt, aber dafür auch durch die geistige Bildung, welche Aufmerksamkeit verleiht, weniger gehoben. Es würde sehr ungerecht sein, wenn die lebendigsten Erkenntnisse in denjenigen Geistern mehr glänzten, welche sie weniger verdienen und in dickeren Nebel gehüllt sind. Ich wünschte also nicht, daß man der Unwissenheit und Roheit so viel Ehre antäte, wenn man so gescheit ist wie Sie, Philaleth, und wie unser trefflicher Autor. Das würde die Gaben Gottes erniedrigen heißen. Sonst würde man sagen können: je unwissender einer ist, desto mehr nähert er sich dem Vorzug eines Marmorblockes oder eines Stückes Holz, die unfehlbar und sündlos sind. Aber unglücklicherweise nähert man sich auf diese Weise jenen Eigenschaften nicht und sündigt, insofern man der Erkenntnis fähig ist, dadurch, daß man sie zu erwerben vernachlässigt, und wird, je weniger man unterrichtet ist, es desto leichter darin fehlen lassen.[52]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 29-53.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand
Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand: Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung, Lebensbeschreibung des Verfassers und erläuternden Anmerkungen versehen von C. Schaarschmidt
Philosophische Schriften.: Band 3 in 2 Teilbänden: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Philosophische Schriften. Französisch und deutsch (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon