Kapitel III.

Von der Ausdehnung der menschlichen Erkenntnis

[398] § 1. Philalethes. Unsere Erkenntnis geht nicht weiter als unsere Vorstellungen; § 2 auch nicht weiter als die Wahrnehmung ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung. § 3. Sie kann nicht immer intuitiv sein, weil man die Dinge nicht immer unmittelbar vergleichen kann, z.B. die Größen zweier Dreiecke, welche von gleicher Basis aber sonst ganz verschieden sind. § 4. Unsere Erkenntnis kann auch nicht immer demonstrativ sein, denn man kann nicht immer die vermittelnden Vorstellungen finden. § 5. Endlich betrifft unsere sinnliche Erkenntnis nur das Dasein derjenigen Dinge, welche tatsächlich unsere Sinne treffen. § 6. So sind nicht allein unsere Vorstellungen sehr beschränkt, sondern ist auch unsere Erkenntnis noch beschränkter als unsere Vorstellungen. Gleichwohl zweifle ich nicht, daß die menschliche Erkenntnis viel weiter gebracht werden kann, wenn die Menschen sich aufrichtig der Auffindung der Mittel zur Vervollkommnung der Wahrheit mit völliger Geistesfreiheit und mit allem dem Fleiß und aller der Emsigkeit widmen wollten, welche sie zur Beschönigung oder Aufrechterhaltung des Falschen und der Verteidigung eines Systems anwenden, für welches sie sich erklärt haben, oder auch einer bestimmten Partei und gewisser Interessen, an denen sie beteiligt sind. Aber trotzdem kann unsere Erkenntnis niemals alles dasjenige umfassen, was wir in Betreff unserer Vorstellungen zu erkennen wünschen können. Wir werden zum Beispiel vielleicht[398] niemals fähig sein, ein einem Kreise gleiches Quadrat zu finden und sicher zu wissen, ob es ein solches gibt.

Theophilus. Es gibt verworrene Vorstellungen, bei denen wir uns keine völlige Erkenntnis versprechen können, welcher Art die mancher sinnlicher Eigenschaften sind. Aber wenn die Vorstellungen deutlich sind, so darf man alles davon hoffen. Was das dem Kreise gleiche Quadrat anbetrifft, so hat schon Archimedes gezeigt, daß es ein solches gibt. Es ist nämlich dasjenige, dessen Seite die mittlere Proportionale zwischen dem Halbmesser und dem Halbkreis ist. Er hat sogar auch vermittelst einer geraden Tangente der Spirallinie (wie andere durch die Tangente der Quadratlinie) eine dem Kreisumfange gleiche gerade Linie bestimmt; mit welcher Art von Quadratur Clavius ganz zufrieden war, ohne eines an den Umkreis befestigten und darauf ausgestreckten Fadens oder des Umkreises, welcher eine Cycloïde zu beschreiben sich entrollt und in eine gerade Linie sich verwandelt, zu gedenken. Einige verlangen, daß die Konstruktion nur mittels Lineals und Zirkels gemacht werde; aber die meisten Probleme der Geometrie können durch dies Mittel nicht konstruiert werden. Es handelt sich also viel mehr darum, das Verhältnis zwischen Quadrat und Kreis zu finden. Da nun aber dies Verhältnis sich durch keine endlichen Rationalzahlen ausdrücken läßt, so hat man, um nur Rationalzahlen anzuwenden, dieses selbige Verhältnis durch eine unendliche Reihe solcher Zahlen ausdrücken müssen, wie ich dies auf eine sehr einfache Weise zu tun vorgeschlagen habe. Nun handelt es sich darum, zu wissen, ob es nicht irgend eine endliche Größe gibt, welche diese unendliche Reihe ausdrücken kann, möge sie auch irrational oder mehr als das sein, d.h. wenn man gerade eine Abkürzung dafür finden kann. Aber die endlichen, besonders die irrationalen Ausdrücke können, wenn man zu den allerirrationalsten geht, auf zu viel Arten abgeändert werden, als daß man davon eine Herzählung vornehmen und alle Möglichkeiten dabei leicht bestimmen könnte. Es gäbe vielleicht noch ein Mittel, es zu vollbringen, wenn diese Irrationalität durch eine gewöhnliche oder selbst auch ungewöhnliche Gleichung auszudrücken ist, die das Irrationale oder selbst das Unbekannte in den Exponenten einführte, wozu freilich[399] auch eine weitläufige Berechnung erforderlich wäre, zu welcher man sich nicht so leicht entschließen wird, wenn man nicht einst noch zur Überwindung dieser Schwierigkeit eine Abkürzung findet. Aber alle endlichen Ausdrücke auszuschließen, ist unmöglich; das habe ich erfahren, und gerade den letzten Ausdruck zu bestimmen, ist eine schwierige Sache. – Alles dies zeigt, daß der menschliche Geist sich so sonderbare Probleme setzt, besonders wenn das Unendliche dabei im Spiel ist, daß man sich nicht wandern darf, wenn man damit zustande zu kommen Mühe hat, zumal da oft alles in diesen geometrischen Dingen Ton einer Abkürzung abhängt, auf die man sich nicht immer Rechnung machen kann, gerade wie man nicht immer die Brüche auf kleinste Ausdrücke zurückfahren oder die Divisoren einer Zahl finden kann. Man kann freilich diese Divisoren an sich betrachtet immer haben, weil ihre Zahl endlich ist, aber wenn der Gegenstand der Untersuchung bis ins Unendliche veränderlich ist und von Stufe zu Stufe zeigt, so ist man nicht immer Herr darüber, wenn man es will, und zu mühsam ist es, alle nötigen Versuche zu machen, um auf methodische Weise zu derjenigen Abkürzung oder Progressionsregel zu gelangen, welche der Notwendigkeit, noch weiter zu gehen, überhebt. Und da der Nutzen nicht der Mühewaltung entspricht, so überläßt man die Auflösung davon lieber der Nachwelt, die davon Gebrauch machen wird, wenn diese Mühe oder Weitläufigkeit durch neue Vorbereitungen und Entdeckungen, welche die Zeit liefern kann, verringert sein wird. Damit soll nicht gesagt sein, daß wenn diejenigen, welche sich von Zeit zu Zeit diesen Studien widmen, gerade das Nötige, um weiter zu kommen, tun wollten, man mit der Zeit nicht bedeutend fortzuschreiten hoffen könnte. Man darf sich auch nicht einbilden, daß alles schon getan sei, da man ja selbst in der niederen Geometrie noch keine Methode hat, die besten Konstruktionen zu bestimmen, wenn die Probleme ein wenig zusammengesetzt sind. Ein gewisser Fortschritt der Synthese müßte mit unserer Analyse verbunden werden, um einen besseren Erfolg zu erzielen. Wie ich mich erinnere, erfahren zu haben, hatte der Ratspensionär de Wit mit diesem Gegenstand sich beschäftigt.

[400] Philalethes. Eine ganz andere Schwierigkeit ist es, herauszubringen, ob ein bloß materielles Wesen denken kann oder nicht. Wir werden das vielleicht niemals auszumachen imstande sein, obgleich wir die Vorstellungen der Materie und des Denkens haben – aus dem Grunde, weil es uns unmöglich ist, durch die Betrachtung unserer eigenen Vorstellungen ohne die Offenbarung zu entdecken, ob nicht Gott irgend welchen nach seinem Willen geordneten materiellen Massen das Vermögen des Bewußtseins und Denkens verliehen, oder ob er nicht einer so geordneten Materie eine immaterielle denkende Substanz verknüpft und verbunden hat? Denn was unsere Begriffe angeht, so ist es für uns nicht schwerer, zu begreifen, daß Gott nach seinem Wohlgefallen unserer Vorstellung von der Materie das Denkvermögen hinzufügen kann, als zu fassen, daß er eine andere mit dem Denkvermögen begabte Substanz damit verknüpft hat, weil wir nicht wissen, worin das Denken besteht, und welcher Art von Substanz dies allmächtige Wesen solch ein Vermögen zu verleihen beliebt hat, das sich in einem geschaffenen Wesen nur auf Grund des freien Willens und der Güte des Schöpfers finden kann.

Theophilus. Diese Frage ist zweifelsohne unvergleichlich wichtiger als die vorhergehende, aber ich wage Ihnen zu erklären, daß ich wünschen möchte, es wäre ebenso leicht, die Seelen zum Rechttun zu bewegen und die Leiber von ihren Krankheiten zu heilen, als es meiner Ansicht nach in unserer Macht steht, sie zu entscheiden. Hoffentlich werden Sie mir zugeben, daß ich dies wenigstens behaupten kann, ohne die Bescheidenheit zu verletzen und aus Mangel guter Gründe absprechend zu sein, denn nicht allein, daß ich nur der angenommenen und allgemeinen Ansicht nachspreche, habe ich der Sache auch eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit geschenkt. Zuerst gebe ich Ihnen zu, daß wenn man, wie dies gewöhnlich der Fall ist, nur verworrene Vorstellungen vom Denken und von der Materie hat, man sich nicht wundern darf, wenn man solche Fragen zu entscheiden außer stande ist. Ebensowenig wird jemand, wie ich schon kurz vorher bemerkt habe, der nur solche Vorstellungen von den Winkeln eines Dreiecks hat,[401] wie man sie gewöhnlich zu haben pflegt, jemals zu der Entdeckung gelangen, daß sie stets zwei rechten Winkeln gleich sind. Man muß in Betracht ziehen, daß die Materie, wenn man sie für ein vollständiges Wesen nimmt (d.h. die der ersten Materie entgegengesetzte zweite Materie, welche etwas rein Leidendes und folglich unvollständiges ist), nur eine Zusammenhäufung oder deren Resultat ist, und daß jedes wirkliche Zusammengesetzte einfache Substanzen oder reale Einheiten voraussetzt. Erwägt man ferner, was das Wesen dieser realen Einheiten ist, nämlich die Wahrnehmung und deren Folgen, so wird man sozusagen in eine andere Welt versetzt, nämlich in die intelligible Welt der Substanzen, während man vorher nur unter den sinnlichen Erscheinungen gewesen war. Und diese Erkenntnis des Inneren der Materie zeigt hinlänglich, wessen sie von Natur fähig ist, und daß, so oft Gott ihr angemessene Organe, die Vernunfttätigkeit auszudrücken, verleiht, die immaterielle Substanz, welche denkt, ihr auch nicht fehlen, sondern gegeben sein wird kraft jener Harmonie, die auch eine natürliche Folge der Substanzen ist. Die Materie kann ohne immaterielle Substanzen d.h. ohne die Einheiten nicht bestehen, daher man nicht mehr fragen darf, ob es Gott frei steht, ihr jenes Vermögen zu geben oder nicht. Und wenn jene Substanzen nicht in sich die Korrespondenz oder Harmonie, von der ich eben gesprochen habe, hätten, so würde Gott nicht nach der Ordnung der Natur handeln. Wenn man ganz einfach vom Geben oder Verleihen der Vermögen spricht, so kehrt man damit zu den »nackten Vermögen« der Scholastiker zurück und bildet sich kleine für sich bestehende Wesen, die wie die Tauben zum Schlag kommen und wieder daraus gehen können. Das heißt, Substanzen machen, ohne daß man darüber denkt. Die ursprünglichen Kräfte machen die Substanzen selbst aus, und die abgeleiteten Kräfte oder, wenn Sie wollen. Vermögen sind nur Arten des Seins, welche man von den Substanzen ableiten muß; aus der Materie jedoch lassen sie sich nicht ableiten, sofern sie nur etwas Mechanisches ist, d.h. sofern man sie mittels Abstraktion nur als das unvollständige Sein der ersten Materie oder das ganz und rein Leidende[402] betrachtet. Das aber, denke ich, werden Sie mir zugeben, daß es nicht in der Macht einer bloßen Maschine steht, die Wahrnehmung, Empfindung, Vernunft entstehen zu lassen. Sie müssen also aus irgend einem anderen substantiellen Dinge hervorgehen. Wollen, daß Gott anders handeln und den Dingen Akzidenzien geben solle, die nicht Arten des Seins oder aus den Substanzen abgeleitete Modifikationen sind, heißt zu Wundern und zu dem seine Zuflucht nehmen, was die Scholastik potentia obedientalis nannte, durch eine Art übernatürlicher Versteigung, wie wenn gewisse Theologen behaupten, daß das Feuer der Hölle die vom Körper getrennten Seelen brenne, in welchem Falle man sogar bezweifeln kann, ob das Feuer das dabei Tätige ist, und nicht Gott selbst, indem er an Stelle des Feuers tätig ist, diese Wirkung hervorbringt.

Philalethes. Sie überraschen mich ein wenig durch Ihre Aufklärungen und kommen mir in gar manchem zuvor, was ich Ihnen über die Schranken unserer Erkenntnisse sagen wollte. Ich würde Ihnen gesagt haben, daß wir nicht im Zustande des Schauens sind, wie die Theologen sich ausdrücken, daß der Glaube und die Wahrscheinlichkeit uns für viele Dinge genügen müssen und besonders hinsichtlich der Immaterialität der Seele; daß alle die großen Endzwecke der Moral und Religion auf hinlänglich festem Grunde ohne Hilfe der aus der Philosophie gezogenen Gründe für diese Immaterialität ruhen, und daß offenbar derjenige, welcher uns den Anfang unseres Daseins hienieden als sinnlich-vernünftiger Wesen gegeben und uns eine Reihe von Jahren in diesem Zustande erhalten hat, die Macht und den Willen besitzt, uns im anderen Leben den Genuß eines ähnlichen Zustandes von Empfindung zu verleihen und uns in demselben des Empfanges der Vergeltung fähig zu machen, die er den Menschen gemäß dem, wie sie in diesem Leben sich aufgeführt haben, bestimmt hat; daß man endlich ebendadurch schließen kann, die Entscheidung für und gegen die Immaterialität der Seele sei nicht von entschiedener Notwendigkeit, wie einige für ihre eigenen Meinungen zu leidenschaftlich eingenommenen Leute es haben glauben machen wollen. Alles das wollte ich Ihnen sagen und in diesem Sinne noch mehr, aber jetzt[403] sehe ich, welch ein Unterschied es ist, zu behaupten, daß wir sinnlich empfindend, denkend und unsterblich von Natur, und daß wir es nur durch ein Wunder sind. Allerdings erkenne ich an, daß man ein Wunder annehmen muß, wenn die Seele nicht immateriell ist, aber diese Meinung von einem Wunder ist nicht nur unbegründet, sondern macht auch auf viele Leute keinen besonders guten Eindruck. Auch sehe ich wohl, daß man auf die Art, wie Sie die Sache nehmen, über die vorliegende Frage sich vernünftigerweise entscheiden kann, ohne nötig zu haben, den Zustand des Schauens zu Hilfe zu nehmen und sich in die Gesellschaft jener höheren Genien zu begeben, welche in das innere Wesen der Dinge tief eindringen und deren lebhafter und durchdringender Blick und ausgedehntes Erkenntnisgebiet uns vermutungsweise ein Bild des Glückes, dessen sie genießen müssen, verstatten kann. Ich hatte geglaubt, daß es gänzlich über unsere Erkenntnis hinausgehe, die sinnliche Empfindung mit einer ausgedehnten Materie und das Dasein mit einem Dinge, das durchaus keine Ausdehnung hat, zu verbinden. Ich war aus dem Grunde überzeugt, daß diejenigen, welche dafür Partei nehmen, die unvernünftige Methode gewisser Leute befolgen, welche sich, nachdem sie erkannt haben, daß die Dinge, von einer gewissen Seite angesehen, unbegreiflich sind, sieh mit geschlossenen Augen zur entgegengesetzten Partei schlagen, obwohl dies nicht weniger unbegreiflich ist. Dies kam meines Erachtens daher, daß die einen, die ihren Geist zu tief in die Materie versenkt haben, dem, was nicht materiell ist, kein Dasein zuerteilen mögen, und die anderen, welche nicht annehmen, daß das Denken in dem natürlichen Vermögen der Materie beschlossen ist, daraus schlossen, daß selbst Gott einer körperlichen Substanz das Leben und die Wahrnehmung nicht geben könne, ohne eine immaterielle Substanz hineinzulegen, während ich jetzt sehe, daß, wenn er es täte, dies durch ein Wunder geschehen müßte, und daß diese Unbegreiflichkeit der Einheit von Seele und Körper oder der Verknüpfung sinnlicher Empfindung mit Materie durch Ihre Hypothese von der zwischen den verschiedenen Substanzen vorherbestimmten Harmonie zu verschwinden scheint.

[404] Theophilus. In der Tat gibt es in dieser neuen Hypothese nichts Unbegreifliches, weil sie der Seele und dem Körper nur solche Modifikationen zuschreibt, welche wir in uns und in ihnen erfahren, und weil sie dieselben nur in besserer Ordnung und Verbindung, als man es bisher geglaubt hat, aufstellt. Die noch übrig bleibende Schwierigkeit findet nur rücksichtlich derer statt, welche das, was nur durch den Verstand erkennbar ist, mit der Einbildungskraft auffassen wollen, wie wenn sie die Töne sehen oder die Farben hören wollten; und zwar sind dies diejenigen, welche allem nicht Ausgedehnten das Dasein absprechen, was sie eigentlich nötigt, es Gott selbst abzusprechen d.h. den Ursachen und Gründen der Veränderungen und zwar solcher Veränderungen zu entsagen, da diese Gründe nicht von der Ausdehnung und von bloß leidenden Wesen, ja nicht einmal gänzlich von den besonderen und niederen tätigen Wesen ohne den reinen und allgemeinen Akt der obersten Substanz herstammen können.

Philalethes. Hinsichtlich der Dinge, deren Materie dem Gefühlsreize zugänglich ist, bleibt mir noch ein Einwurf übrig. Der Körper, soweit wir ihn uns vorstellen können, ist nur fähig, einen Körper zu treffen und zu affizieren, und die Bewegung kann nichts anderes als Bewegung erzeugen, so daß, wenn wir darin übereinkommen, daß der Körper die Lust oder den Schmerz oder wenigstens die Vorstellung einer Farbe oder eines Tones erzeugt, wir gezwungen zu sein scheinen, unsere Vernunft aufzugeben und, über unsere eigenen Vorstellungen hinausgehend, diese Hervorbringung der bloßen Willkür unseres Schöpfers zuzuschreiben. Welchen Grund werden wir also zu dem Schlusse haben, daß es mit der Wahrnehmung in der Materie sich ebenso verhält? Ich sehe ungefähr, was man darauf erwidern kann, und obwohl Sie darüber schon mehr als einmal etwas gesagt haben, so verstehe ich Sie erst jetzt besser als früher. Ich werde mich indessen freuen zu hören, was Sie mir bei dieser wichtigen Gelegenheit darauf zu antworten haben.

Theophilus. Ich werde, wie Sie richtig urteilen, erklären, daß die Materie nicht Lust, Schmerz oder Empfindung in uns erzeugen kann. Die Seele ist es, welche diese selbst für sich erzeugt, entsprechend dem, was in[405] der Materie vorgeht. Und einige tüchtige Männer unter den Neueren fangen an, sich dahin zu erklären, daß sie die Gelegenheitsursachen nur so wie ich verstehen. Dies nun vorausgesetzt, ist nichts Unbegreifliches mehr dabei, außer daß wir nicht allen Inhalt unserer verworrenen Wahrnehmungen, welche selbst vom Unendlichen etwas an sich haben und der Ausdruck, der in den Körpern vor sich gehenden einzelnen Vorgänge sind, uns klar machen können. Was ferner die freie Willkür des Schöpfers betrifft, so ist sie, wie man sagen muß, dergestalt den Wesenheiten der Dinge gemäß geordnet, daß sie darin nichts hervorbringt und erhält, als was ihnen zukommt und sich durch ihre Wesenheiten wenigstens im allgemeinen erklären läßt, – denn das Einzelne geht oft über unsere Kräfte, so wie etwa die Arbeit und das Vermögen, die Sandkörner eines Berges nach der Ordnung der Figuren zu legen, obwohl es dabei nichts Schwieriges zu verstehen gibt als die Masse.

Wenn diese Erkenntnis, an sich selbst genommen, uns entginge und wir nicht einmal den Grund der Beziehungen der Seele und des Körpers im allgemeinen begreifen könnten, wenn endlich Gott den Dingen zufällige, von ihren Wesenheiten abgesonderte und mithin der Vernunft im allgemeinen fremde Kräfte gäbe, würde dies sonst nur eine Hintertür sein, jene zu verborgenen Beschaffenheiten, welche kein Geist verstehen kann, zurückzubringen und jene kleinen, grundlosen Geister von Vermögen


Et quidquid schola finxit otiosa

(Und was sonst der müßige Schulwitz erdachte):


die dienstbaren Geisterlein, welche wie die Götter auf dem Theater oder die Feen im Amadis erscheinen und, wenn es nötig ist, alles, was ein Philosoph verlangen kann, ohne Umstände und Werkzeuge verrichten. Aber den Ursprung davon dem freien Belieben Gottes zuzuschreiben, das scheint demjenigen, der die oberste Vernunft ist, bei welchem alles geregelt, alles in Harmonie ist, nicht besonders zu geziemen. Solches freie Belieben würde sogar weder etwas Gutes noch etwas Liebliches sein, während doch zwischen der Macht und der Weisheit Gottes ein beständiger Parallelismus stattfinden muß.[406]

§ 8. Philalethes. Unsere Erkenntnis der Einerleiheit und Verschiedenheit geht ebensoweit als unsere Vorstellungen, aber die der Verknüpfung unserer Vorstellungen (§ 9 und 10) hinsichtlich des gleichzeitigen Vorhandenseins derselben in demselben Subjekt ist sehr unvollständig und fast keine, (§ 11) vor allem hinsichtlich der Eigenschaften zweiten Ranges, wie der Farben, Töne, Geschmäcke, (§ 12) weil wir ihre Verknüpfung mit den ersten Eigenschaften nicht kennen, d.h. wie sie von der Größe der Figur oder der Bewegung abhangen. Ein wenig mehr wissen wir von der Unverträglichkeit dieser Eigenschaften zweiter Klasse miteinander, denn ein Gegenstand kann z.B. nicht zwei Farben zu gleicher Zeit haben, und wenn es scheint, daß man solche in einem Opal oder einem Aufguß von Lignum nephriticum sieht, so gilt dies doch nur von den verschiedenen Teilen des Gegenstandes (§ 16). Ebenso verhält es sich mit den tätigen und leidenden Kräften der Körper. In diesem Falle müssen unsere Untersuchungen von der Erfahrung abhangen.

Theophilus. Die Vorstellungen der sinnlichen Eigenschaften sind verworren, und die Kräfte, welche sie hervorbringen sollen, gewähren folglich auch nur Vorstellungen, in denen Verworrenes vorkommt: so kann man denn die Verbindungen dieser Vorstellungen nicht anders als durch Erfahrung erkennen, insofern man sie auf bestimmte, sie begleitende Vorstellungen zurückführt, wie man z.B. hinsichtlich der Farben des Regenbogens und der Prismen getan hat. Und diese Methode führt gewissermaßen in die Analyse ein, welche in der Physik von großem Nutzen ist; durch deren Verfolg, wie ich nicht zweifle, die Medizin mit der Zeit sich bedeutend vorgeschritten finden wird, besonders wenn das Publikum sich ein wenig mehr als bisher dafür interessiert.

§ 18. Philalethes. Was die Erkenntnis der Beziehungen betrifft, so ist dies das weiteste Feld unserer Erkenntnisse, und es ist schwer zu bestimmen, wie weit es sich ausdehnen kann. Die Fortschritte hangen von dem Scharfsinn ab, die vermittelnden Vorstellungen zu finden. Diejenigen, welche die Algebra nicht kennen, können sich die erstaunlichen Dinge nicht vorstellen, welche man in diesem Felde vermittelst dieser Wissenschaft verrichten[407] kann. Und ich sehe nicht ein, daß sich leicht bestimmen ließe, welche neuen Mittel zur Vervollkommnung der anderen Teile unserer Erkenntnisse durch einen durchdringenden Geist noch erfunden werden können. Wenigstens sind die die Größe betreffenden Vorstellungen nicht die einzigen des Beweises fähigen; es gibt andere, welche vielleicht den wichtigsten Teil unserer Betrachtungen bilden, von denen man sichere Erkenntnisse ableiten könnte, wenn die Laster, Leidenschaften und herrschenden Interessen sich der Ausführung einer solchen Unternehmung nicht geradezu widersetzten.

Theophilus. Was Sie da sagen, ist unbedingt wahr. Was gibt es Wichtigeres, – vorausgesetzt, daß es wahr ist, – als das, was wir, so nehme ich an, über das Wesen der Substanzen, über die Einheiten und Vielheiten, über die Einerleiheit und Verschiedenheit, über die innere Bildung der Individuen, über die Unmöglichkeit des leeren Raumes und der Atome, über den Ursprung der Kohäsion, über das Kontinuitätsgesetz und über die übrigen Naturgesetze, vorzüglich aber über die Harmonie der Dinge, die Immaterialität der Seelen, die Einheit der Seele und des Körpers, die Erhaltung der Seelen und selbst des Tieres bis über den Tod hinaus – festgestellt haben. Und in dem allem ist nichts, was ich nicht für bewiesen oder beweisbar halte.

Philalethes. Allerdings scheint Ihre Hypothese außerordentlich konsequent und von großer Einfachheit: ein Gelehrter, welcher sie in Frankreich hat widerlegen wollen, gesteht öffentlich, davon überrascht worden zu sein. Und zwar ist die Einfachheit, soviel ich sehen kann, eine äußerst fruchtbare. Es wird sich empfehlen, diese Lehre mehr und mehr ins rechte Licht zu stellen. Aber wenn wir von Dingen reden, die uns am wichtigsten sind, so habe ich an die Moral gedacht, für welche Ihre Metaphysik, wie ich zugebe, die vortrefflichsten Stützen gibt: aber ohne soweit vorzugehen, hat die Moral doch hinlänglich sichere Stützen, obschon sie sich vielleicht nicht soweit erstrecken (wie Sie, soviel ich mich erinnere, bemerkt haben), – wenn eine natürliche Theologie, wie die Ihrige, nicht die Grundlage davon bildet. Es dient ja schon die bloße Inbetrachtnahme der Güter dieses Lebens dazu, wichtige Folgerungen für die Anordnung der menschlichen[408] Gesellschaften festzusetzen. Man kann über das Rechte und Unrechte ebenso unbestreitbare Urteile fällen, als in der Mathematik; der Satz z.B.: Es kann da keine Ungerechtigkeit geben, wo es kein Eigentum gibt, ist ebenso gewiß wie irgend ein Beweis aus dem Euklid, da das Eigentum das Recht auf eine gewisse Sache ist und die Ungerechtigkeit die Verletzung eines Rechts. Ebenso verhält es sich mit dem Satze: Keine Regierung bewilligt eine unbedingte Freiheit. Denn die Regierung ist die Festsetzung gewisser Rechte, deren Ausführung sie fordert. Und die unbedingte Freiheit ist die Macht, welche jeder hat, zu tun, was ihm beliebt.

Theophilus. Für gewöhnlich bedient man sich des Wortes Eigentum in etwas anderem Sinne, denn man versteht darunter ein Recht des einen auf etwas mit Ausschluß des Rechtes eines anderen. Wenn es also auch kein Eigentum gäbe, wie wenn alles gemeinschaftlich wäre, so könnte es dabei doch Ungerechtigkeit geben. Ferner muß in der Definition von Eigentum unter »Sache« auch Handlung verstanden werden, denn wenn man auf die Sachen kein Recht hätte, so würde es doch immer eine Ungerechtigkeit sein, die Menschen zu verhindern, daß sie handeln, wo sie es nötig haben. Allein nach dieser Erklärung ist es unmöglich, daß es kein Eigentum gibt. Was aber den Satz von der Unvereinbarkeit einer Regierung mit der absoluten Freiheit betrifft, so gehört er zu den Folgesätzen d.h. den Sätzen, welche nur anzumerken nötig ist. In der Rechtsgelehrsamkeit gibt es noch zusammengesetzte Wahrheiten, wie z.B. hinsichtlich dessen, was man das jus accrescendi nennt, hinsichtlich der Bedingungen und verschiedener anderer Gegenstände. Ich habe dies bei Veröffentlichung der Thesen über die Bedingungen in meiner Jugend gezeigt, wo ich einige derselben bewiesen habe. Und wenn ich Zeit hätte, würde ich sie noch einmal überarbeiten.

Philalethes. Dies würde den Wißbegierigen Vergnügen machen und dazu dienen, jemand zu verhindern, sie etwa wieder auflegen zu lassen, ohne daß sie neu bearbeitet wären.

Theophilus. Wie dies meiner Ars combinatoria widerfahren ist, worüber ich mich schon beklagt habe. Es war[409] die Frucht meiner frühesten Jünglingszeit, und dennoch druckte man sie lange nachher wieder ab, ohne mich um Rat zu fragen und selbst ohne zu bemerken, daß es eine zweite Auflage sei, was einige Leute zu meinem Schaden glauben machte, daß ich fähig wäre, eine solche Arbeit im vorgerückten Alter zu veröffentlichen; denn obwohl darin Gedanken von einiger Wichtigkeit sind, die ich noch billige, so gab es darin gleichwohl auch solche, die nur einem jungen Anfänger zustehen konnten.

§ 19. Philalethes. Ich finde, daß die Figuren ein großes Hilfsmittel gegen die Ungewißheit der Worte sind, was bei den sittlichen Begriffen nicht stattfinden kann. Überdies sind die sittlichen Begriffe zusammengesetzter als die Figuren, welche man gewöhnlich in der Mathematik seinen Betrachtungen zugrunde legt. Daher hat der Geist Mühe, die scharfen Kombinationen dessen, was zu den sittlichen Vorstellungen gehört, auf eine so vollkommene Art zu behalten, als es nötig sein würde, wo lange Deduktionen eintreten müssen. Und wenn man in der Arithmetik die verschiedenen Posten nicht durch Ziffern bezeichnete, deren Bedeutung genau bekannt ist, und die da vor den Augen stehen bleiben, so würde es fast unmöglich sein, große Rechnungen zu machen. (§ 20) Die Definitionen helfen etwas, wenn man sie in der Moral beständig anwendet. Übrigens ist es nicht leicht, vorauszusehen, welche Methoden durch die Algebra oder irgend ein anderes Mittel dieser Art dargeboten werden können, um die übrigen Schwierigkeiten zu verbannen.

Theophilus. Der selige Erhard Weigel, ein Mathematiker von Jena in Thüringen, erfand mit vielem Geiste Figuren zur Darstellung moralischer Gegenstände. Und als der selige Samuel von Puffendorf, welcher sein Schüler war, seine mit den Gedanken Weigels viel übereinstimmenden »Grundzüge der allgemeinen Jurisprudenz« veröffentlichte, fügte man denselben in der Jenaischen Ausgabe die »moralische Sphäre« dieses Mathematikers hinzu. Aber diese Figuren sind eine Art von Allegorie, etwa wie die der Tafel des Cebes, wenngleich weniger populär, und dienen mehr dem Gedächtnis, um die Vorstellungen zu behalten und zu ordnen, als dem Urteile, um demonstrative Erkenntnisse zu erwerben. Übrigens haben sie darum doch ihren Nutzen, den Geist[410] zu wecken. Die geometrischen Figuren erscheinen einfacher als die moralischen Gegenstände, aber sie sind es nicht, weil das Kontinuierliche die Unendlichkeit in sich schließt, aus dem dabei eine Wahl getroffen wer den muß. Ein Dreieck z.B. in vier gleiche Teile durch zwei gerade miteinander perpendikulare Linien zu teilen, ist ein Problem, dessen Lösung einfach scheint und doch recht schwer ist. Mit den moralischen Problemen verhält es sich nicht ebenso, weil sie ganz allein durch die Vernunft bestimmbar sind. Übrigens ist hier nicht der Ort, von der »Grenzerweiterung der Wissenschaft des Beweisverfahrens« zu reden und die wahren Mittel anzugeben, die Kunst des Beweisens über ihre alten Schranken auszudehnen, welche bisher fast dieselben geblieben sind, wie die des mathematischen Gebietes. Ich hoffe, wenn Gott mir die dazu nötige Zeit schenkt, einmal darüber eine Anweisung erscheinen zu lassen, indem ich die Mittel dazu in wirkliche Ausübung bringe, ohne mich auf die bloßen Vorschriften zu beschränken.

Philalethes. Wenn Sie diesen Plan, und zwar gehörigermaßen ausführen, so werden Sie alle Philalethen wie mich unendlich verbinden, d.h. diejenigen, welche die Wahrheit zu erkennen aufrichtig begehren. Auch ist sie von Natur für die Geister anmutend; und es gibt nichts so Abstoßendes und so mit dem Verstande Unverträgliches, als die Lüge. Man darf indessen nicht hoffen, daß man sich auf diese Entdeckungen viel legen werde, so lange die Sacht und die Wertschätzung der Reichtümer oder der Macht die Menschen antreiben wird, die von der Mode angenommenen Meinungen zu den ihrigen zu machen und hinterher noch Gründe aufzusuchen, um sie als richtig darzustellen oder sie zu beschönigen und ihre Häßlichkeit zu verdecken. Und so lange die verschiedenen Parteien ihre Meinungen von allen denjenigen angenommen haben wollen, welche sie in ihrer Macht haben können, ohne zu prüfen, ob sie falsch oder richtig sind, was für ein neues Licht kann man in den der Moral zugehörigen Wissenschaften da noch erhoffen? Statt dessen müßte derjenige Teil des menschlichen Geschlechts, welcher unter dem Joch ist, in den meisten Gegenden der Welt ebenso dicke Finsternis, wie die ägyptische war, gewärtigen, wenn das Licht des Herrn nicht selber dem Geiste des[411] Menschen gegenwärtig wäre, jenes heilige Licht, welches alle menschliche Macht nicht gänzlich auslöschen kann.

Theophilus. Ich verzweifle nicht daran, daß zu einer ruhigeren Zeit oder an einem ruhigeren Orte die Menschen sich mehr, als bisher geschehen ist, nach der Vernunft richten werden. Denn man darf in der Tat an nichts verzweifeln, und ich glaube, daß dem Menschengeschlecht große Veränderungen in Gutem und Schlimmem aufbehalten sind, aber schließlich mehr im Guten als im Schlimmen. Gesetzt, daß einmal ein großer Fürst, der wie die alten Könige von Assyrien oder von Ägypten oder wie ein anderer Salomo lange in tiefem Frieden regiert, erscheint, und daß dieser Fürst aus Liebe zur Tugend und Wahrheit und mit großem und tüchtigem Geiste begabt, sich vornimmt, die Menschen glücklicher und unter sich friedfertiger und mächtiger über die Natur zu machen – welche Wunder würde er nicht in wenig Jahren vollbringen? Denn sicherlich würde man in diesem Falle in zehn Jahren mehr ausrichten, als sonst in hundert oder vielleicht in tausend, wenn man die Dinge ihren gewöhnlichen Weg gehen läßt. Ohnehin aber würden, wenn einmal die Bahn ordentlich gebrochen wäre, viele sie beschreiten, wie in der Mathematik, wäre es auch nur zu ihrem Vergnügen oder um Ruhm zu erwerben. Das besser aufgeklärte Publikum wird sich einstens mehr der Förderung der Medizin als bisher zuwenden; man wird in allen Ländern Naturgeschichten wie Musenalmanache oder galante Merkure herausgeben; man wird keine gute Beobachtung vorübergehen lassen, ohne sie zu registrieren; man wird diejenigen unterstützen, welche sich darauf legen werden; man wird die Kunst, solche Beobachtungen zu machen, verbessern und auch die, sie anzuwenden, um Aphorismen zu verfassen. Es wird eine Zeit geben, wo die Zahl der guten Ärzte größer und die Zahl von Leuten eines gewissen Schlages, deren man dann weniger bedarf, im Verhältnis kleiner geworden sein wird, so daß das Publikum imstande ist, der Naturforschung mehr Aufmunterung zu schaffen und vor allem dem Fortschritte der Medizin; und dann wird diese wichtige Wissenschaft sehr bald über ihren jetzigen Standpunkt sich erheben und zusehends wachsen. Ich glaube in der Tat, daß dieser Teil der Staatsverwaltung der Gegenstand größerer Sorge für die,[412] welche regieren, sein sollte, nächst der für die Tugend, und daß einer der größten Erfolge der wahren Sittlichkeit oder Politik die Herstellung einer besseren Medizin sein wird, wenn die Menschen weiser als jetzt zu sein angefangen und die Großen ihre Reichtümer und ihre Macht für ihr eigenes Glück besser anzuwenden gelernt haben werden.

§ 21. Philalethes. Was die Erkenntnis des wirklichen Daseins – der vierten Art der Erkenntnisse – angeht, so muß man sagen, daß wir von unserem Dasein eine intuitive, von dem Gottes eine demonstrative und von den übrigen Dingen eine sinnliche Erkenntnis haben. Davon werden wir in der Folge weitläufig reden.

Theophilus. Nichts kann treffender gesagt sein.

§ 22. Philalethes. Nachdem wir jetzt von der Erkenntnis gesprochen haben, scheint es passend, daß wir, um den gegenwärtigen Zustand unseres Geistes besser zu entdecken, auch ein wenig seine dunkle Seite in Betracht ziehen und von unserer Unwissenheit Einsicht nehmen, welche die Erkenntnis unendlich übersteigt. Folgende sind die Ursachen dieser Unwissenheit: 1) daß uns Vorstellungen fehlen, 2) daß wir die Verknüpfung zwischen unseren Vorstellungen nicht zu entdecken wissen, und 3) daß wir ihnen zu folgen und sie genau zu prüfen vernachlässigen. § 23. Was den Mangel an Vorstellungen betrifft, so haben wir von einfachen Vorstellungen nur diejenigen, welche uns durch unsere inneren oder äußeren Sinne zukommen. Daher sind wir hinsichtlich einer unendlichen Zahl von Geschöpfen des Weltalls und ihrer Eigenschaften, wie die Blinden hinsichtlich der Farben, nicht einmal im Besitze der zu ihrer Erkenntnis nötigen Geistesvermögen; und allem Anscheine nach nimmt der Mensch unter allen vernünftigen Wesen den untersten Rang ein.

Theophilus. Ich weiß nicht, ob es nicht noch dergleichen gibt, die unter uns stehen. Warum wollten wir uns ohne Not erniedrigen? Vielleicht nehmen mir unter den vernünftigen Wesen einen recht ehrenvollen Rang ein; denn höhere Geister könnten Körper von anderer Beschaffenheit haben, so daß der Name »lebende« Wesen für sie nicht passen würde. Man kann nicht sagen, ob[413] unsere Sonne unter der großen Zahl anderer mehr über als unter sich hat, und wir sind in ihrem System wohl gestellt: denn die Erde nimmt die Mitte unter den Planeten ein und ihre Entfernung scheint für ein denkendes Wesen, das sie bewohnen sollte, wohl gewählt Übrigens haben wir unendlich mehr Grund, uns über unser Los zu freuen, als zu klagen, da die meisten unserer Übel unserer eigenen Schuld zugerechnet werden müssen. Und vor allem würden wir sehr Unrecht haben, uns über die Fehler unserer Erkenntnis zu beklagen, da wir uns ja derjenigen Kenntnisse, welche die liebreiche Natur uns schenkt, so wenig bedienen!

§ 24. Philalethes. Indessen entzieht allerdings die außerordentliche Entfernung fast aller uns sichtbaren Teile der Welt sie unserer Erkenntnis, und offenbar ist diese sichtbare Welt nur ein kleiner Teil des unendlichen Weltalls. Wir sind in einem kleinen Winkel des Raumes eingeschlossen d.h. in dem System unserer Sonne, und dennoch wissen wir selbst das nicht, was auf den anderen Planeten sich zuträgt, die ebenso gut, wie unsere Erdkugel, sich um sie drehen.

§ 25. Diese Kenntnisse entgehen uns wegen der Größe und Entfernung, aber andere Körper sind uns ihrer Kleinheit wegen verborgen, und das sind diejenigen, welche zu erkennen uns am wichtigsten wäre, denn aus deren innerer Bildung würden wir den Nutzen und die Wirkungsart derer, welche uns sichtbar sind, erschließen und wissen können, warum der Rhabarber abführt, der Schirling tötet und das Opium einschläfert. So weit also auch immer der menschliche Forschungsgeist die Experimentalwissenschaft über die natürlichen Dinge bringen kann, so bin ich doch zu glauben versucht, daß wir niemals zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis über diese Stoffe werden kommen können.

Theophilus. Ich glaube gern, daß wir niemals so weit gelangen können, als es zu wünschen wäre; mir scheint es indessen, daß man mit der Zeit einige bedeutende Fortschritte in der Erklärung mancher Erscheinungen machen werde, weil die größte Zahl der Erfahrungen, welche wir zu machen imstande sind, uns mehr als hinlängliche Data liefern kann, so daß nur die Kunst sie anzuwenden fehlt. Daß man aber deren kleine Anfänge[414] weiter bringen wird, daran verzweifle ich nicht, seitdem wir in der Infinitesimalrechnung das Mittel besitzen, die Geometrie mit der Physik zu vermählen, und die Dynamik uns die allgemeinen Naturgesetze geliefert hat.

§ 27. Philalethes. Die Geister stehen unserer Erkenntnis noch ferner; wir können uns keine Vorstellungen ihrer verschiedenen Klassen bilden, und dennoch ist sicherlich die geistige Welt größer und schöner als die materielle.

Theophilus. Diese beiden Welten sind einander immer parallel, was die bewirkenden Ursachen anbetrifft, aber nicht, was die Endursachen angeht. Denn in dem Maße, als die Geister über die Materie herrschen, bringen sie darin wunderbare Ordnungen hervor.

Dies ist klar aus den Veränderungen, welche die Menschen zur Verschönerung der Erdoberfläche gemacht haben, wie kleine Götter, welche dem großen Baumeister des Weltalls nachahmen, obgleich dies nur durch die Anwendung der Körper und deren Gesetze geschieht. Was kann man nicht über diese unendliche Menge von Geistern, die über uns erhaben sind, vermuten? Und da die Geister alle zusammen eine Art von Staat unter Gott bilden, dessen Regierung vollkommen ist, so sind wir weit entfernt, das System dieser geistigen Welt zu begreifen und die Strafen und Belohnungen zu fassen, welche denen, die sie nach genauester Erwägung verdienen, bereitet sind, sowie uns vorzustellen, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und niemals in des Menschen Herz gekommen ist. Alles dies zeigt indessen, daß wir alle uns nötigen deutlichen Vorstellungen, um die Körper und die Geister zu erkennen, jedoch nicht das hinlängliche Detail der Tatsachen noch so durchdringende Sinne besitzen, um die verworrenen Vorstellungen zu entwickeln, noch soviel Ausdehnung der Erkenntnis, sich ihrer aller bewußt zu werden.

§ 28. Philalethes. Was die Verknüpfung anbetrifft, deren Erkenntnis uns bei unseren Vorstellungen fehlt, so wollte ich sagen, daß die mechanischen Körperreize keinerlei Verbindung mit den Vorstellungen der Farben, der Töne, der Gerüche und Geschmäcke, der Lust und des Schmerzes haben, und daß deren Verknüpfung nur vom Belieben[415] und der Willkür Gottes abhängt. Wie ich mich aber erinnere, urteilen Sie, daß dabei eine vollständige Korrespondenz stattfindet, obgleich das nicht immer eine vollständige Ähnlichkeit ist. Indessen erkennen Sie selbst an, daß das übergroße Detail der dabei vorkommenden Kleinigkeiten uns das darin Verborgene zu entdecken verhindert, wenngleich Sie noch die Hoffnung hegen, daß wir der Sache uns bedeutend nähern werden. Sie werden also nicht, wie mein berühmter Autor, die Behauptung zulassen, daß es (§ 29) verlorene Mühe sei, sich auf eine solche Untersuchung einzulassen, aus Furcht, daß dieser Glaube dem Wachstum der Wissenschaft Abbruch tue. Ich würde auch von der Schwierigkeit gesprochen haben, welche man bisher gehabt hat, die Verbindung von Seele und Leib zu erklären, da man nicht begreifen konnte, daß ein Gedanke eine Bewegung im Körper erzeugt oder eine Bewegung einen Gedanken im Geiste; aber seit ich Ihre Hypothese von der vorherbestimmten Harmonie kenne, scheint mir diese Schwierigkeit, an deren Lösung man verzweifelte, mit einem Schlag und wie durch einen Zauber gehoben.

§ 30. Also bleibt noch die dritte Ursache unserer Unwissenheit übrig, daß wir nämlich die Vorstellungen, welche wir haben oder doch haben können, nicht gehörig verfolgen und uns der Auffindung der Mittelbegriffe nicht befleißigen; auf diese Weise entgehen uns z.B. die mathematischen Wahrheiten, obgleich dabei weder Unvollkommenheit in unseren Geisteskräften noch irgend eine Unsicherheit in den Dingen selbst stattfindet. Der üble Gebrauch der Worte hat am meisten dazu beigetragen, uns an der Auffindung der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen zu verhindern; und die Mathematiker, welche ihre Gedanken unabhängig von den Worten bilden und gewohnt sind, ihrem Geiste die Vorstellungen selbst anstatt der Laute vorzustellen, haben dadurch einen großen Teil der Schwierigkeit vermieden. Wenn die Menschen bei ihren Entdeckungen in der materiellen Welt ebenso gehandelt hätten, wie sie es hinsichtlich der die geistige Welt betreffenden gewohnt gewesen sind, und alles in ein Chaos von Ausdrücken unbestimmter Bedeutung eingehüllt hätten, so würden sie ohne Ende über die Zonen, Ebbe und Fiat, den Bau der[416] Schiffe und die Seewege gestritten haben; man würde niemals über die Linie hinausgegangen sein, und die Antipoden wären noch jetzt so unbekannt als damals, wo man erklärt hatte, daß daran zu glauben eine Ketzerei sei.

Theophilus. Diese dritte Ursache unserer Unwissenheit ist die allein tadelnswerte. Und Sie sehen, daß die Verzweiflung, weiter zu kommen, darin einbegriffen ist. Diese Mutlosigkeit schadet viel, und gescheite und bedeutende Menschen haben die Fortschritte der Medizin durch die falsche Überzeugung aufgehalten, daß daran zu arbeiten verlorene Mühe wäre. Wenn Sie die aristotelischen Philosophen der vergangenen Zeit von den Meteoren wie z.B. vom Regenbogen reden hören, so werden Sie finden, daß sie glaubten, man dürfe nicht einmal daran denken, diese Erscheinung genau zu erklären, und die Unternehmungen eines Maurolycus und darauf des Marcus Antonius de Dominis erschienen ihnen als ein Ikarusflug. Die Folgezeit hat indessen die Welt darüber aufgeklärt. Allerdings hat der üble Gebrauch der Ausdrücke einen großen Teil der Unordnung verursacht, der sich in unseren Erkenntnissen vorfindet, nicht allein in der Moral und Metaphysik oder in dem, was Sie die geistige Welt nennen, sondern auch in der Medizin, wo dieser Mißbrauch der Ausdrücke mehr und mehr zunimmt. Wir können uns nicht immer durch Figuren wie in der Geometrie helfen, aber die Algebra zeigt, daß man große Entdeckungen machen kann, ohne immer auf die Vorstellungen der Dinge selbst zurückzugehen.

Hinsichtlich der angeblichen Ketzerei der Antipoden wollte ich noch im Vorübergehen bemerken, daß Bonifacius, Erzbischof von Mainz, den Vigilius von Salzburg allerdings in einem über diesen Gegenstand gegen ihn dem Papste geschriebenen Briefe angeklagt hat, und daß der Papst in einer Weise darauf antwortet, die zeigt, daß er nach dem Sinne des Bonifacius dachte; man findet aber nicht, daß diese Beschuldigung Folgen gehabt habe. Vigilius hat sich immer behauptet. Die beiden Gegner galten für Heilige, und die Gelehrten von Bayern, welche Vigilius als einen Apostel Kärntens und der benachbarten Länder betrachten, haben sein Andenken in Ehren gehalten.[417]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 398-418.
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