Kapitel VI.

Von den allgemeinen Sätzen, ihrer Wahrheit und ihrer Gewißheit

[426] § 2. Philalethes. Alle unsere Erkenntnis betrifft allgemeine oder besondere Wahrheiten. Die ersteren, welche die wichtigsten sind, würden wir niemals zum rechten Verständnis bringen noch selbst (als in den seltensten Fällen) begreifen können, wenn sie nicht in Worte gefaßt und ausgedruckt wären.

Theophilus. Ich glaube, daß auch andere Zeichen noch diese Wirkung haben könnten: dies zeigen die Charaktere der Chinesen. So könnte man eine sehr leicht verständliche und noch bessere Universalcharakteristik als die ihrige einführen, wenn man anstatt der Worte kleine Figuren anwendete, welche die sichtbaren Dinge durch ihre Züge und die unsichtbaren durch die sie begleitenden sichtbaren darstellten, wozu man noch gewisse zusätzliche, die Flexionen und Partikeln anzudeuten geeignete Zeichen fügen müßte. Dies würde sofort dazu dienen, mit entfernten Nationen bequem zu verkehren; aber auch wenn man es unter uns einführte, ohne deshalb der gewöhnlichen Schrift zu entsagen, so würde der Gebrauch dieser Schreibweise von großem Nutzen sein, um die Phantasie zu bereichern und weniger taube und weniger leere Gedanken, als man jetzt hat, zu bringen. Da die Zeichenkunst nicht von allen verstanden wird, so folgt daraus allerdings, daß, die auf diese Art gedruckten[426] Bücher ausgenommen, welche jedermann bald lesen lernen würde, man sich derselben nicht anders bedienen könnte, als durch eine Art von Druckverfahren, d.h. indem man alle Figuren geschnitten und vorrätig hätte, um sie auf Papier zu drucken, und nachher mit der Feder die Zeichen der Flexionen oder Partikeln hinzufügte. Aber mit der Zeit würde jedermann das Zeichnen von Jugend auf lernen, um nicht der Bequemlichkeit dieses Figurencharakterikums beraubt zu sein, welches in Wahrheit zu den Augen sprechen und dem gemeinen Manne sehr angenehm sein würde, wie in der Tat das Landvolk schon gewisse Kalender hat, die ihm ohne Worte einen großen Teil dessen, wonach es fragt, sagen. Auch erinnere ich mich in Stichen gedruckte Satiren, die einigermaßen an Rätsel erinnerten, gesehen zu haben, worin mit Worten untermischte, an sich selbst bedeutsame Figuren vorkamen, statt daß unsere Buchstaben und die chinesischen Charaktere ihre Bedeutung nur durch den Willen der Menschen (ex instituto) empfangen.

§ 3. Philalethes. Ich glaube, daß Ihr Gedanke einmal zur Ausführung kommen wird, so anmutend und natürlich scheint mir diese Schrift; und sie scheint mir von nicht geringer Wichtigkeit zu sein, um die Voll kommenheit unseres Geistes zu vermehren und unsere Begriffe solider zu machen. Aber um auf die allgemeinen Erkenntnisse und ihre Gewißheit zurückzukommen, so ist hier zu bemerken, daß es eine Gewißheit der Wahrheit nach und auch eine Gewißheit der Erkenntnis nach gibt. Wenn die Worte in den Sätzen dergestalt miteinander verbunden sind, daß sie die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, wie sie in Wirklichkeit stattfindet, genau ausdrücken, so ist das eine Gewißheit der Wahrheit nach; und die Gewißheit der Erkenntnis nach besteht darin, sich der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen bewußt zu sein, sofern sie in den Sätzen ausgedrückt ist. Das ist es, was wir gewöhnlich eines Satzes gewiß sein nennen.

Theophilus. In der Tat wird diese letztere Art von Gewißheit auch ohne den Gebrauch der Worte genügen, und sie ist nichts anderes als eine vollständige Erkenntnis der Wahrheit, während die letztere Art von[427] Gewißheit nichts anderes als die Wahrheit selbst zu sein scheint.

§ 4. Philalethes. Da wir nun von der Wahrheit irgend eines allgemeinen Satzes nicht anders versichert sein können, als indem wir die genauen Grenzen der Bedeutung der Ausdrücke, aus denen er besteht, erkennen, so müßten wir notwendigerweise die Wesenheit jeder Art kennen, was hinsichtlich der einfachen Vorstellungen und der Modi keine Schwierigkeit hat. Aber bei den Substanzen, wo vorausgesetzt wird, daß eine wirkliche, von der nominellen verschiedene Wesenheit die Arten bestimme, ist der Umfang des Ausdrucks »Allgemein« sehr unbestimmt, weil wir jene wirkliche Wesenheit nicht kennen; und folglich können wir in diesem Sinne keines allgemeinen Satzes sicher sein, welcher in Hinsicht solcher Substanzen gebildet wird. Aber wenn man voraussetzt, daß die Arten der Substanzen nichts anderes sind, als die Zurückführung der substantiellen Individuen auf gewisse, unter verschiedenen allgemeinen Namen geordnete Klassen, je nachdem sie mit den verschiedenen abstrakten Vorstellungen, welche wir durch diese Namen bezeichnen, übereinkommen, so kann man nicht zweifelhaft sein, ob ein genugsam wohlbekannter Satz wahr ist oder nicht.

Theophilus. Ich weiß nicht, warum Sie noch einmal auf einen zwischen uns hinlänglich durchgesprochenen Gegenstand, den ich erledigt glaubte, zurückkommen. Schließlich aber freue ich mich darüber, weil Sie mir eine wie mir scheint sehr angemessene Gelegenheit geben, Sie von neuem Ihres Irrtums zu überführen. Ich erkläre Ihnen also, daß wir z.B. von tausend Wahrheiten überzeugt sein können, welche das Gold oder denjenigen Körper betreffen, deren Wesen durch die größte hienieden bekannte Schwere oder durch die größte Dehnbarkeit oder durch andere Zeichen erkannt wird. Denn wir können sagen, daß der Körper von der größten bekannten Dehnbarkeit auch der schwerste aller bekannten Körper ist. Es würde allerdings nicht unmöglich sein, daß alles, was man bis jetzt am Golde bemerkt hat, sich einmal in zwei, durch andere neue Eigenschaften unterscheidbaren Körpern vorfindet, und dies also nicht mehr die unterste Art wäre, wie man es bis jetzt vorläufig so[428] annimmt. Auch könnte man, wenn die eine Art selten bliebe und die andere sehr alltäglich wäre, es für passend erachten, den Namen des wahren Goldes nun für die seltene Art allein zu sparen, um es mittels neuer ihm angemessener Versuche zum Münzgebrauch zu behalten. Man wird alsdann auch nicht mehr zweifeln, daß das innere Wesen dieser beiden Arten verschieden ist, und selbst wenn die Definition einer wirklich vorhandenem Substanz nicht in jeder Hinsicht wohl bestimmt ist, wie in der Tat die des Menschen es hinsichtlich der äußeren Figur nicht ist, so würde man darum doch eine Unzahl allgemeiner Sätze in Hinsicht auf ihn haben, die aus der Vernunft und den anderen bei ihm erkennbaren Eigenschaften folgen würden. Alles, was man über diese allgemeinen Sätze sagen kann, ist, daß man, falls man den Menschen für die unterste Art nimmt und ihn auf die Nachkommenschaft Adams beschränkt, von den Eigenschaften des Menschen alsdann diejenigen nicht haben wird, welche man in quarto modo nennt, oder welche man von ihm durch einen Reziprok- oder einfach umkehrbaren Satz aussagen könnte, wenn es nicht bloß vorläufig ist, wie wenn man sagt: der Mensch ist das einzige vernünftige Naturwesen. Und indem man als Menschen die Wesen unserer Abstammung nimmt, besteht das Vorläufige darin, darunter zu verstehen, daß er von allen uns bekannten das einzige vernünftige Wesen ist, denn es könnten sich einmal andere lebende Wesen finden, denen mit der Nachkommenschaft der Menschen von heute alles das gemeinsam wäre, was wir bis jetzt an ihnen bemerken, aber die von anderer Herkunft wären. Das wäre so, wie wenn die – phantastischerweise angenommenen – Australier unsere Gegenden überschwemmen würden, wo man alsdann, allem Anscheine nach, irgend ein Mittel, sie von uns zu unterscheiden, finden müßte. Aber im Falle dies nicht geschähe, und vorausgesetzt, daß Gott die Vermischung dieser Rassen verboten und Jesus Christus nur die unsrige erlöst hätte, so müßte man den Versuch machen, künstliche Merkmale zu ihrer Unterscheidung voneinander zu finden. Ohne Zweifel würde es einen innerlichen Unterschied geben, aber da dieser unerkennbar sein würde, so wäre man auf das bloße äußere Kennzeichen der Abkunft angewiesen, welches[429] man mit einem bleibenden künstlichen Merkzeichen zu begleiten versuchen müßte, das ein inneres Kennzeichen und einstehenden Mittel, unsere Rasse von den übrigen in unterscheiden, abgeben würde. Das sind alles erdichtete Fälle, denn wir brauchen nicht auf solche Unterscheidungen zurückzugehen, da wir die einzigen vernünftigen Wesen auf dieser Weltkugel sind. Indessen dienen solche künstlichen Fälle dazu, das Wesen der Vorstellungen von den Substanzen und allgemeinen Wahrheiten hinsichtlich ihrer zu erkennen. Wenn aber der Mensch nicht für die unterste Art noch für die der vernünftigen Wesen von adamitischer Abstammung genommen würde und statt dessen ein mehreren Arten gemeinsames Geschlecht bezeichnete, das gegenwärtig einer einzigen bekannten Rasse zukommt, aber auch anderen voneinander entweder durch die Abkunft oder selbst durch andere natürliche Merkzeichen unterscheidbaren zukommen könnte, wie z.B. den vorausgesetzten Australiern – dann, sage ich, würde dieser Geschlechtsbegriff umkehrbare Sätze zulassen, und die gegenwärtige Definition des Menschen würde nicht eine vorläufige sein. Ebenso verhält es sich mit dem Golde; denn gesetzt, daß man davon einmal zwei unterscheidbare Sorten hätte, die eine seltene und bisher bekannte, und die andere gewöhnliche und vielleicht künstliche, in der Folgezeit etwa gefundene, alsdann gesetzt, daß der Name des Goldes der gegen wärtigen Spezies verbleiben müßte, d.h. dem natürlichen und seltenen Golde, um dadurch die Bequemlichkeit der auf die Seltenheit dieses Stoffes sich gründenden Goldmünze zu erhalten, so würde dessen bis jetzt durch innerliche Kennzeichen bekannte Definition nur eine vorläufige gewesen sein und nunmehr durch neue Merkmale vermehrt werden müssen, die man entdecken würde, um das seltene Gold oder das Gold alter Art von dem neuen künstlichen Golde zu unterscheiden. Wenn aber der Name des Goldes alsdann beiden Arten gemeinschaftlich bleiben sollte, d.h. wenn man unter Gold einen Geschlechtsbegriff verstehen würde, von dem wir bis jetzt keine Unterabteilung kennen und daher gegenwärtig als die unterste Art betrachten (aber bloß vorläufig, bis daß die Unterabteilung bekannt ist), und wenn man davon einmal eine neue Art fände, d.h. ein künstliches leicht zu[430] machendes und leicht allgemein zu verbreitendes Gold – so sage ich, daß in diesem Sinne die Definition dieses Geschlechtes nicht als eine vorläufige, sondern als eine bleibende erachtet werden maß. Und selbst ohne sich um die Namen des Menschen und des Goldes zu kümmern, welchen Namen man auch immer dem Geschlechte oder der untersten bekannten Art gibt, und selbst wenn man ihnen keinen gäbe, so würde doch das eben Bemerkte immer wahr sein von den Vorstellungen, den Geschlechtern oder den Arten, und die Arten würden mitunter durch die Definition der Geschlechter nur vorläufig definiert werden. Indessen wird es immer erlaubt und vernünftig sein, anzunehmen, daß es eine innere wirkliche, mittels eines umkehrbaren Satzes, sei es dem Geschlecht, sei es den Arten angehörige Wesenheit gebe, welche sich gewöhnlich durch äußere Merkmale erkennen läßt. Ich habe dabei bisher immer vorausgesetzt, daß die Rasse nicht ausartet oder sich nicht ändert; wenn aber dieselbe Rasse in eine andere Art überginge, so würde man um so mehr genötigt sein, auf andere Merkmale und innere oder äußere Klassifikationen zurückzugehen, ohne sich an die Rasse zu halten.

§ 7. Philalethes. Die zusammengesetzten Vorstellungen, welche durch die von uns den Arten der Substanzen gegebenen Namen sich rechtfertigen lassen, sind Zusammenstellungen von Vorstellungen gewisser Eigenschaften, welche wir als in einem unbekannten Träger zusammenbestehend wahrgenommen haben, den wir Substanz nennen. Aber welche andere Eigenschaften mit solchen Kombinationen notwendig zusammenbestehen, vermögen wir nicht sicher zu erkennen, wir müßten denn ihre Abhängigkeit hinsichtlich ihrer ersten Eigenschaften entdecken können.

Theophilus. Schon früher habe ich bemerkt, daß sich dasselbe bei den Vorstellungen der Akzidenzien findet, deren Wesen ein wenig versteckt ist, wie z.B. die Figuren der Geometrie sind; denn wenn es sich z.B. um die Gestalt eines Spiegels handelt, der alle parallelen Strahlen in einen Punkt als Fokus sammelt, so kann man mehrere Eigenschaften dieses Spiegels finden, ehe man die Konstruktion desselben erkennt, aber man wird über viele andere Beziehungen, die er haben kann, in Ungewißheit[431] sein, bis man das in ihm findet, was der inneren Beschaffenheit der Substanzen entspricht, d.h. die Konstruktion jener Gestalt des Spiegels, welche gleichsam den Schlüssel der weiteren Erkenntnis ausmacht.

Philalethes. Wenn wir aber die innere Beschaffenheit dieses Körpers erkannt hätten, würden wir darin doch nur finden, wie die ersten oder die von Ihnen als bekannt bezeichneten Eigenschaften davon abhangen können, d.h. man würde erkennen, welche Größen, Gestalten und bewegenden Kräfte davon abhangen; aber niemals würde man die Verbindung erkennen, welche sie mit den Eigenschaften zweiter Klasse oder den verworrenen Eigenschaften d.h. mit den sinnlichen Qualitäten, wie Farben, Geschmäcken usw., haben können.

Theophilus. Sie nehmen also noch immer an, daß diese sinnlichen Qualitäten oder vielmehr die Vorstellungen, die wir davon haben, nicht naturgemäß von den Gestalten und Bewegungen, sondern bloß von dem Belieben Gottes, der uns diese Vorstellungen gibt, abhangen. Sie scheinen also vergessen zu haben, was ich schon mehr als einmal gegen diese Meinung dargetan habe, um Sie vielmehr zu überzeugen, daß diese sinnlichen Vorstellungen von dem Detail der Gestalten und Bewegungen abhangen und sie genau ausdrücken, obgleich wir dabei dies Detail in der Verworrenheit einer zu bedeutenden Menge und Kleinheit der mechanischen Wirkungen, welche unsere Sinne treffen, nicht entwirren können. Wenn wir indessen zu der inneren Beschaffenheit einiger Körper vorgedrungen wären, würden wir auch sehen, wann sie diese Eigenschaften haben müßten, die ihrerseits selbst auf ihre vernünftigen Gründe zurückgeführt werden würden – selbst wenn es niemals in unserer Macht stehen würde, sie in diesen sinnlichen Vorstellungen, welche ein verworrenes Resultat der Wirkungen der Körper auf uns sind, sinnlich zu erkennen, wie wir z.B. jetzt, wo wir die vollkommene Analyse des Grünen in Blau und Gelb besitzen und in bezug darauf fast nichts mehr zu fragen haben, als hinsichtlich dieser Ingredienzien, doch nicht imstande sind, die Vorstellungen des Blauen und des Gelben in unserer sinnlichen Vorstellung des Grünen zu scheiden, eben deswegen, weil es eine verworrene Vorstellung ist. Das ist ungefähr ebenso, als[432] wie man die Vorstellung der Zähne eines Rades d.h. der Ursache in der Wahrnehmung eines künstlichen Transparentes, welches ich bei den Uhrmachern bemerkt habe, nicht auflösen kann, das durch die rasche Drehung eines gezahnten Bades entsteht, welche die Zähne desselben verschwinden und an deren Stelle ein kontinuierliches von der Phantasie gebildetes Transparent erscheinen läßt, zusammengesetzt aus den hintereinander folgenden Erscheinungen der Zähne und ihrer Zwischenräume, wobei aber die Aufeinanderfolge so schnell ist, daß unsere Phantasie sie nicht mehr unterscheiden kann. Man findet also wohl diese Zähne in dem deutlichen Begriff dieses Transparents, nicht aber in der verworrenen sinnlichen Wahrnehmung, deren Natur es ist, verworren zu sein und zu bleiben, sonst würde, wenn die Verworrenheit aufhörte (wie wenn die Bewegung so langsam wäre, daß man die einzelnen Teile und deren Aufeinanderfolge unterscheiden könnte), es nicht mehr dasselbe sein, d.h. nicht mehr diese Phantasie-Erscheinung eines Transparentes. Und da man nicht nötig hat, sich vorzustellen, daß Gott durch sein Belieben uns diese Phantasievorstellung gibt, und sie von der Bewegung der Zähne des Bades und ihrer Zwischenräume unabhängig ist, und man im Gegenteil begreift, daß es nur ein verworrener Ausdruck dessen ist, was in dieser Bewegung geschieht, ein Ausdruck, sage ich, der darin besteht, daß die aufeinanderfolgenden Dinge in ein scheinbares Zugleichsein verschmolzen sind, so ist leicht einzusehen, daß es sich hinsichtlich der übrigen sinnlichen Erscheinungen, von denen wir noch keine so vollkommene Analyse haben, wie die Farben, Geschmäcke usw. sind, ebenso verhalten werde, denn, um die Wahrheit zu sagen, verdienen sie viel mehr diesen Namen der Erscheinungen als den der Eigenschaften oder gar der Vorstellungen. Und in jeder Hinsicht muß es uns genügen, sie ebensogut wie jenes künstliche Transparent zu verstehen, ohne daß es vernünftig oder möglich ist, davon mehr wissen zu wollen; denn zu verlangen, daß jene Erscheinungen verworren bleiben und man doch die sie bildenden Teile durch die Phantasie selbst analysiere, ist ein Widerspruch, ist, das Vergnügen haben wollen, durch eine angenehme Perspektive getäuscht zu werden und zugleich wollen,[433] daß das Auge den Betrug sehe, was denselben verderben wurde. Kurz, das ist ein Fall, wo

Du nichts anderes tust,

Als mit Vernunft um Unvernunft dich mühn.


Aber es geschieht oft in der Welt, daß man sich Schwierigkeiten schafft, wo keine sind, indem man Unmögliches verlangt und sich nachher über seine Ohnmacht und die Beschränktheit seines Wissens beklagt.

§ 8. Philalethes. Alles Gold ist feuerbeständig: das ist ein Satz, dessen Wahrheit wir auf sichere Art nicht erkennen können. Denn wenn das Gold eine Art von Dingen bezeichnet, die durch eine von Natur ihnen verliehene reale Wesenheit sich von anderen unterscheidet, so weiß man doch noch nicht, welche besondere Substanzen zu dieser Art gehören; man kann es also nicht mit Sicherheit bejahen, obgleich es Gold sein mag. Und wenn man unter Gold einen Körper versteht, der mit einer gewissen gelben Farbe begabt, der hämmerbar, schmelzbar und schwerer als irgend ein bekannter Körper ist, so läßt sich unschwer erkennen, was Gold ist und was nicht; aber bei alledem kann keine andere Eigenschaft mit Gewißheit vom Golde bejaht oder verneint werden, als das, was mit dieser Vorstellung dergestalt verbunden ist, daß man die Verbindung oder die Unverträglichkeit beider entdecken kann. Da nun die Feuerfestigkeit keine bekannte Verbindung mit der Farbe, der Schwere und den anderen einfachen Vorstellungen hat, welche meiner Voraussetzung nach die zusammengesetzte Vorstellung, die wir vom Golde haben, ausmachen, so können wir unmöglich die Wahrheit dieses Satzes, daß alles Gold feuerfest ist, auf sichere Weise erkennen.

Theophilus. Daß der schwerste unter allen uns hienieden bekannten Körpern feuerfest ist, wissen wir fast ebenso gewiß, als daß es morgen Tag werden wird. Denn weil man es hunderttausendmal erfahren hat, ist es eine erfahrungsmäßige oder faktische Wahrheit, obgleich wir die Verbindung der Feuerfestigkeit mit den übrigen Eigenschaften dieses Körpers nicht kennen. Übrigens muß man zwei Dinge, die zusammenstimmen und auf dasselbe hinauskommen, nicht einander entgegensetzen. Denke ich an einen Körper, welcher zu gleicher Zeit gelb,[434] schmelzbar und der Kapelle widerstehend ist, so denke ich an einen solchen, dessen spezifische Wesenheit, wenn sie auch in ihrem Innern unbekannt ist, jene Eigenschaften aus ihrem Schoß hervorgehen und sich wenigstens verworren durch sie erkennen läßt. Ich sehe nichts Unrechtes darin noch was verdiente, daß man so oft darauf zurückkommt, um es anzugreifen.

§ 10. Philalethes. Ich begnüge mich jetzt damit, daß diese Erkenntnis der Feuerfestigkeit des schwersten der Körper uns nicht durch die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen bekannt ist. Auch glaube ich für meinen Teil, daß man unter den zweiten Eigenschaften und den sich darauf beziehenden Kräften der Körper nicht zwei nennen kann, deren notwendiges Zugleichsein oder Unverträglichsein sicher erkannt werden könnte, diejenigen Eigenschaften ausgenommen, welche demselben Sinne zugehören und sich einander notwendig ausschließen, wie wenn man sagt, was weiß ist, ist nicht schwarz.

Theophilus. Dennoch glaube ich, daß man dergleichen vielleicht finden könnte; z.B.: jeder fühlbare oder durch den Tastsinn wahrnehmbare Körper ist sichtbar. Jeder harte Körper macht Geräusch, wenn man in der Luft auf ihn schlägt. Die Töne der Saiten oder Fäden stehen in verdoppeltem Verhältnis der Gewichte, welche ihre Spannung verusachen. Allerdings gelingt, was Sie verlangen, nur insofern, als man es von deutlichen Vorstellungen versteht, die mit den verworrenen sinnlichen Vorstellungen sich verbinden.

§ 11. Philalethes. Immerhin muß man sich nicht einbilden, daß die Körper ihre Eigenschaften durch sich selbst, unabhängig von anderen Dingen, haben. Ein dem Druck und Einfluß aller anderen Körper entzogenes Stück Gold würde sofort seine gelbe Farbe und seine Schwere verlieren; vielleicht würde es auch oxydierbar werden und seine Dehnbarkeit einbüßen. Man weiß, wie die Pflanzen und Tiere von der Erde, Luft, Sonne abhängig sind; wer weiß, ob die soweit entfernten Fixsterne nicht auf uns noch Einfluß haben.

Theophilus. Eine sehr triftige Bemerkung! Wenn der innere Bau gewisser Körper uns auch bekannt wäre, so würden wir ihre Wirkungen doch nicht hinlänglich[435] beurteilen können, ohne das Innere derer, welche sie berühren und durchdringen, zu kennen.

§ 13. Philalethes. Indessen kann unser Urteil weiter reichen, als unsere Erkenntnis. Denn Leute, die Beobachtungen zu machen emsig sind, können weiter dringen und häufig vermittelst irgendwelcher Wahrscheinlichkeiten, einer genauen Beobachtung und gewisser glücklich zusammengestellter Erscheinungen richtige Vermutungen über das anstellen, was ihnen die Erfahrung noch nicht entdeckt hat; aber das heißt doch immer nur vermuten.

Theophilus. Wenn aber die Erfahrung diese Schlüsse auf konstante Weise rechtfertigt, finden Sie dann nicht, daß man durch dies Mittel sichere Sätze erlangen kann? Wenigstens soweit sicher, meine ich, als die, welche z.B. uns darüber vergewissern, daß der schwerste der uns bekannten Körper feuerfest ist und der nach ihm schwerste flüchtig. Es scheint nämlich, daß die Gewißheit (versteht sich die moralische oder physische), nicht aber die Notwendigkeit (oder metaphysische Gewißheit) derjenigen Sätze, welche man durch die Erfahrung allein und nicht durch die Analyse und die Verknüpfung der Vorstellungen gelernt hat, für uns und zwar mit Recht feststeht.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 426-436.
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