Kapitel VIII.

Von den inhaltsleeren Sätzen

[464] Philalethes. Ich will gern glauben, daß vernünftige Leute sich hüten werden, die identischen Grundsätze in der eben besprochenen Art und Weise anzuwenden. § 2. Es scheint auch, daß jene rein identischen Maximen nur inhaltsleere oder nugatorische (alberne) Sätze sind, wie sogar die Schulen sie nennen. Und ich würde mich nicht mit der Erklärung begnügen, daß dies ein bloßer Schein ist, wenn Ihr überraschendes Beispiel von dem durch Vermittlung der identischen Sätze vollzogenen Beweise der Urteilsumkehrung mich nicht seitdem zur Behutsamkeit anhielte, sobald es sich darum handelt, etwas gering zu schätzen. Indessen will ich Ihnen vortragen, was man geltend macht, um sie für gänzlich inhaltsleer zu erklären. Dies (§ 3) geschieht, weil man auf den ersten Blick erkennt, daß sie keine Belehrung enthalten, es sei denn, um mitunter jemand die Ungereimtheit, in welche er sich verwickelt hat, klar zu machen.

Theophilus. Rechnen Sie das für nichts, und erkennen Sie nicht an, daß einen Satz ins Ungereimte (ad absurdum) zu führen, soviel ist, als sein kontradiktorisches Gegenteil beweisen? Freilich glaube ich, daß man jemand dadurch nicht unterrichtet, daß man ihm sagt, er dürfe nicht das nämliche zu gleicher Zeit leugnen und bejahen, aber man unterrichtet ihn, wenn man ihm durch die Folgerungen nachweist, daß er, ohne daran zu denken, so verfährt. Es ist meines Erachtens schwierig, sich dieser apagogischen Beweise d.h. derer, welche aufs Ungereimte (ad absurdum) führen, in jedem Falle zu entschlagen, wie alles durch ostensive (oder direkte) Beweise, wie man sie nennt, darzutun; und die Mathematiker, welche daran viel Interesse haben, erfahren es hinlänglich. Proklus bemerkt es von Zeit zu Zeit, wenn er sieht, daß gewisse alte Geometer, die nach Euklid gekommen sind, einen vermeintlich direkteren Beweis, als den seinigen, gefunden haben. Das Stillschweigen dieses alten Kommentators zeigt jedoch hinlänglich, daß man es nicht immer gekonnt hat.[464]

§ 3. Philalethes. Wenigstens werden Sie mir zugeben, daß man eine Million Sätze mit wenig Mühe, aber auch sehr wenig Nutzen bilden kann, denn ist es nicht z.B. leere Mühe, zu bemerken, daß die Auster Auster ist, und daß dies zu leugnen falsch ist, oder zu sagen, daß die Auster keine Auster ist? Witzig sagt unser Verfasser darüber, daß jemand, der aus dieser Auster bald das Subjekt, bald das Prädikat machen wollte, gerade wie ein Affe sein würde, der sich damit unterhielte, eine Auster aus einer Hand in die andere zu werfen, was seinen Hunger gerade so stillen könnte, als diese Sätze dem Verstande des Menschen genug zu tun imstande sind.

§ 3. Theophilus. Ich halte dafür, daß unser ebenso geist- als urteilsvoller Verfasser alle möglichen Ursachen hat, gegen diejenigen sich auszusprechen, welche einen solchen Gebrauch davon machen würden. Aber Sie erkennen wohl, wie man die identischen Sätze anwenden muß, um sie nützlich zu machen, indem man nämlich auf Grund von Folgerungen und Definitionen zeigt, daß andere Wahrheiten, welche man aufstellen will, sich darauf zurückführen lassen.

§ 4. Philalethes. Ich erkenne das an und sehe wohl, daß man es mit noch mehr Grund auf diejenigen Sätze anwenden kann, die inhaltsleer zu sein scheinen und es in vielen Fällen auch sind, wo nämlich ein Teil der zusammengesetzten Vorstellung von dem Gegenstand dieser Vorstellung bejaht wird, wie wenn man sagt: das Blei ist ein Metall, und dies zu einem Menschen sagt, der die Bedeutung dieser Ausdrücke kennt und weiß, daß das Blei einen sehr schweren, schmelzbaren und dehnbaren Körper bezeichnet, wobei der Nutzen eben nur darin besteht, daß man ihm, indem man Metall sagt, auf einmal mehrere einfache Vorstellungen bezeichnet, statt sie ihm eine nach der anderen aufzuzählen. § 6. Dasselbe findet statt, wenn ein Teil der Definition von dem definierten Ausdruck bejaht wird, wie wenn man sagt: Alles Gold ist schmelzbar, vor ausgesetzt, daß man das Gold definiert hat, daß es nämlich ein gelber, schmelz- und dehnbarer Körper ist. Ebenso dient die Erklärung, daß das Dreieck drei Seiten hat, daß der Mensch ein lebendes Wesen ist, daß ein Zelter (ein altes Wort) ein Tier ist, das wiehert, dazu, die Worte zu definieren, nicht[465] aber außer der Definition etwas zu lehren. Aber wir lernen etwas, wenn man uns sagt, daß der Mensch einen Begriff von Gott hat, und daß das Opium ihn in Schlaf versetzt.

Theophilus. Außer dem, was ich von denjenigen identischen Sätzen gesagt habe, die dies ganz und gar sind, wird man finden, daß die halb identischen noch einen besonderen Nutzen haben. Zum Beispiel: Ein weiser Mensch ist immer ein Mensch, gibt zu erkennen, daß er nicht unfehlbar, daß er sterblich ist usw. Jemand hat in einer Gefahr eine Pistolenkugel nötig, ihm fehlt Blei, um solche in die Form, die er hat, zu gießen; da sagt ihm ein Freund: Erinnere dich, daß das Silber, das du in deiner Börse hast, schmelzbar ist. Dieser Freund lehrt ihn nicht eine Eigenschaft des Silbers kennen, aber veranlaßt ihn, an einen Gebrauch zu denken, den er davon machen kann, um bei diesem dringenden Bedürfnis Pistolenkugeln zu haben. Ein großer Teil der moralischen Wahrheiten und der schönsten Sentenzen der Schriftsteller ist von dieser Art. Sie lehren uns sehr oft nichts Neues, aber veranlassen uns, an das, was wir wissen, zur rechten Zeit zu denken. Jener sechsfüßige Jambus der römischen Tragödie:


Cuivis potest accidere, quod cuiquam potest,

Geschehn kann jedem, was dem einen kann geschehn,


(den man, wenngleich weniger hübsch, so ausdrücken könnte:


Was einem mal geschehen kann,

Das kann geschehen jedermann)


bewirkt nur, uns an die menschliche Lage überhaupt zu erinnern:


Quod nihil humani a nobis alienum putare debemus.

(Daß wir nichts Menschliches von uns fern annehmen dürfen.)


Jene Regel der Rechtslehrer: qui jure suo utitur, nemini facit injuriam (der, welcher sein Recht gebraucht, tut dadurch niemand unrecht), scheint inhaltsleer; sie hat indessen bei gewissen Gelegenheiten einen sehr wichtigen Nutzen und läßt uns gerade an das denken, woran wir denken sollen. Wenn z.B. jemand sein Haus[466] soweit erhöhte, als es durch statutarisches und Gewohnheitsrecht erlaubt ist, und seinem Nachbar auf diese Weise eine Aussicht nähme, so würde man diesen Nachbar gleich mit eben dieser Rechtsregel abweisen, wenn er sich zu beklagen Lust hätte. Übrigens bringen uns die faktischen Sätze oder Erfahrungen, wie der, daß das Opium schlaferregend ist, weiter, als die reinen Vernunftwahrheiten, die uns niemals einen Schritt über das Gebiet unserer deutlichen Vorstellungen hinaus machen lassen. Was jenen Satz anbetrifft, daß jeder Mensch einen Begriff von Gott hat, so ist das ein Vernunftsatz, wenn unter Begriff Vorstellung zu verstehen ist. Denn nach meiner Ansicht ist die Vorstellung von Gott allen Menschen angeboren, aber wenn dieser Begriff eine Vorstellung, an die man tatsächlich denkt, bedeutet, so ist es ein faktischer Satz, welcher von der Geschichte des Menschengeschlechts abhängt. § 7. Wenn man endlich sagt, daß ein Dreieck drei Seiten hat, so ist das nicht so identisch, als es scheint, denn man hat ein wenig Überlegung dazu nötig, einzusehen, daß eine mehrseitige Figur ebensoviel Winkel als Seiten hat. Es würde also eine Seite mehr darin vorkommen, wenn die mehrseitige Figur nicht als geschlossen vorausgesetzt würde.

§ 9. Philalethes. Die allgemeinen, über die Substanzen gebildeten Sätze scheinen größtenteils nichtig zu sein, wenn sie sicher sind. Wer die Bedeutungen der Worte: Substanz, Mensch, Tier, Form, vegetative, empfindende, vernunftbegabte Seele kennt, wird daraus mehrfache zweifellose aber unnütze Sätze, besonders über die Seele, bilden, von der man oft spricht, ohne zu wissen, was sie eigentlich ist. Jeder kann eine zahllose Menge von Sätzen, Vernunftbetrachtungen und Schlüssen dieser Art in den Büchern über Metaphysik, scholastische Theologie und eine gewisse Art Physik ersehen, deren Lektüre ihn über Gott, Geister und Körper nichts mehr lehren wird, als das, was er schon wußte, ehe er jene Bücher durchlaufen hatte.

Theophilus. Allerdings lehren die Kompendien über Metaphysik und andere solche Bücher dieser Art, wie man sie gewöhnlich sieht, nur Worte. Z.B. zu sagen, daß die Metaphysik die Wissenschaft des Seins im allgemeinen ist, welche die Prinzipien dieses Seins und die daraus fließenden Affektionen erklärt; daß die Prinzipien[467] des Seins das Wesen und Dasein sind, und daß die Affektionen entweder ursprüngliche sind, nämlich das Eine, Wahre und Gute, oder abgeleitete, nämlich das Selbige und Verschiedene, das Einfache und Zusammengesetzte usw., und bei der Anführung jedes dieser Ausdrücke nur unbestimmte Begriffe und Wortunterscheidungen geben – das heißt mit dem Namen der Wissenschaft nur Mißbrauch treiben. Indessen muß man den tieferen Scholastikern, wie Suarez (von dem Grotius so viel hielt), die Gerechtigkeit widerfahren lassen, anzuerkennen, daß bei ihnen mitunter bedeutende Untersuchungen vorkommen z.B. über das Kontinuum, das Unendliche, die Zufälligkeit, die Realität der Abstrakta, über das Prinzip der Individuation, über den Ursprung und das Leere der Formen, über die Seele und deren Vermögen, über die Einwirkung Gottes auf die Kreaturen usw. und selbst in der Moral über die Natur des Willens und die Prinzipien der Gerechtigkeit – mit einem Worte, man muß gestehen, daß es doch noch Gold in diesen Schlacken gibt, aber nur Leute von Einsicht können Nutzen daraus ziehen, und die Jugend mit einem Haufen unnützer Dinge zu belasten, weil hie und da etwas Gutes darin steckt, hieße das kostbarste aller Dinge, die Zeit, schlecht zu Rate halten.

Übrigens gebricht es uns nicht ganz und gar an allgemeinen Sätzen über die Substanzen, welche gewiß sind und gewußt zu werden verdienen. Es gibt große, vortreffliche Wahrheiten über Gott und die Seele, welche unser gelehrter Verfasser entweder auf eigene Hand oder zum Teil nach anderen gelehrt hat. Wir haben dem vielleicht auch etwas hinzugefügt. Und was die allgemeinen Erkenntnisse hinsichtlich der Körper anbetrifft, so hat man recht bedeutende denjenigen hinzugefügt, die Aristoteles hinterlassen hatte, so daß man sagen kann, die Physik, selbst die allgemeine, sei zu größerer Vollendung gekommen, als sie ehemals war. Und was die echte Metaphysik betrifft, so fangen wir eben an, sie herzustellen und finden bedeutende, in der Vernunft gegründete und durch die Erfahrung bestätigte Wahrheiten, welche sich auf die Substanzen im allgemeinen beziehen. Ich hoffe auch, die allgemeine Erkenntnis der Seele und der Geister ein wenig vorwärts gebracht zu haben. Eine solche[468] Metaphysik ist das, was Aristoteles forderte – die Wissenschaft, welche bei ihm Zêtoumenê die ersehnte oder welche er suchte, heißt, welche hinsichts der anderen theoretischen Wissenschaften das sein muß, was die Wissenschaft der Glückseligkeit für die zu ihrer Herstellung erforderlichen praktischen Disziplinen, und was der Baumeister für die Arbeiter ist. Darum sagte Aristoteles, daß die übrigen Wissenschaften von der Metaphysik, als der allgemeinsten, abhangen und von ihr ihre durch sie bewiesenen Prinzipien entlehnen müßten. Auch muß man wissen, daß die wahre Moral sich zur Metaphysik verhält wie die Praxis zur Theorie, weil von der Lehre der Substanzen die Erkenntnis der Geister und besonders Gottes und der Seele gemeinsam abhängt, welche Erkenntnis der Gerechtigkeit und Tugend den ihnen zukommenden Umfang gibt. Denn wie ich anderswo bemerkt habe, würde der Weise, wenn es weder Vorsehung noch zukünftiges Leben gäbe, in der Ausübung der Tugend beschränkter sein, denn er würde alles nur auf seine gegenwärtige Zufriedenheit beziehen; und selbst diese Zufriedenheit, die schon bei Sokrates, beim Kaiser Mark Antonin, bei Epiktet und anderen Alten vorkommt, würde ohne jene schönen und großen Aussichten, welche die Ordnung und Harmonie des Weltalls uns bis zu einer unbegrenzten Zukunft eröffnen, nicht immer so wohl begründet sein. Sonst wird die Seelenruhe nur das sein, was man erzwungene Geduld nennt, so daß man sagen kann, die natürliche Theologie mit ihren zwei Teilen, dem theoretischen und dem praktischen, enthalte zugleich die echte Metaphysik und die vollkommenste Sittenlehre.

§ 12. Philalethes. Das sind ohne Zweifel Erkenntnisse, die weit davon entfernt sind, nichtssagend oder bloß aus Worten bestehend zu sein. Es scheint aber, daß diese letzteren diejenigen sind, wo zwei Abstrakta, das eine vom anderen, bejaht werden, z.B. daß das Sparen Mäßigkeit, daß die Dankbarkeit Gerechtigkeit ist; und blendend solche und andere dergleichen Sätze mitunter auf den ersten Blick erscheinen, so finden wir doch, wenn wir ihren Sinn genau erwägen, daß dies alles weiter nichts besagt, als die Bedeutung der Ausdrücke.

Theophilus. Indessen drücken die Bedeutungen der Ausdrücke[469] d.h. die Definitionen, mit den identischen Axiomen verbunden, die Prinzipien aller Beweise aus, und da diese Definitionen zugleich die Vorstellungen und deren Möglichkeit erkennen lassen, so ist klar, daß das davon Abhängige nicht immer bloß in Worten besteht. Was das angeführte Beispiel betrifft, daß die Dankbarkeit Gerechtigkeit oder vielmehr ein Teil der Gerechtigkeit ist, so ist es nicht zu verachten, denn es läßt erkennen, daß das, was man actio ingrati oder die Klage nennt, welche man gegen Undankbare anstellen kann, in den Gerichtshöfen weniger vernachlässigt werden sollte. Die Körner ließen diese Klage gegen die Liberti oder Freigelassenen zu, und auch heutzutage sollte sie hinsichtlich des Widerrufs von Schenkungen gelten. Übrigens habe ich schon an einer anderen Stelle gesagt, daß von den abstrakten Vorstellungen die eine von der anderen, der Geschlechtsbegriff vom Artbegriff noch ausgesagt werden kann, z.B. wenn man sagt: die Dauer ist ein Kontinuum, die Tugend ist eine Fertigkeit, die allgemeine Gerechtigkeit aber ist nicht allein eine Tugend, sondern ist sogar die ganze sittliche Tugend.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 464-470.
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