Kapitel XIV.

Über das Urteilen

[500] § 1. Philalethes. Der Mensch würde sich in den meisten Handlungen seines Lebens unentschieden befinden, wenn er in dem Falle, wo eine sichere Erkenntnis ihm mangelt, zu seiner Leitung weiter nichts hätte. § 2. Er muß sich oft mit einer einfachen Wahrscheinlichkeitsdämmerung begnügen. § 3. Das Vermögen, sich ihrer zu bedienen, ist das Urteil. Man begnügt sich oft damit aus Notwendigkeit, aber oft auch aus Mangel an Fleiß, Geduld und Geschicklichkeit. Man nennt es Zustimmung oder Verwerfung, und es findet statt, wenn man etwas vermutet, d.h. wenn man etwas vor dem[500] Beweise als wahr annimmt. Geschieht dies der Wirklichkeit entsprechend, so ist es ein richtiges Urteil.

Theophilus. Andere nennen Urteilen diejenige Handlung, welche man allemal vollzieht, wenn man gemäß einer Erkenntnis der Ursache sich entscheidet, und noch andere mag es geben, welche das Urteil von der Meinung unterscheiden, da es nicht so unbestimmt sein dürfe. Ich will aber mit niemand über den Gebrauch der Worte streiten, und es steht Ihnen frei, das Urteil für eine wahrscheinliche Ansicht zu nehmen. Was die Vermutung(Präsumption) anbetrifft, so ist das ein Ausdruck der Juristen, bei denen die richtige Anwendung sie von der Konjektur unterscheidet. Dann ist sie etwas mehr und soll vorläufig für die Wahrheit gellen, bis das Gegenteil bewiesen ist, statt daß ein Anzeichen und eine Konjektur oft gegen eine andere Konjektur abgewogen werden muß. So wird von demjenigen, welcher von einem anderen Geld geliehen zu haben gesteht, vermutet (präsumiert), daß er es bezahlen müsse, wenn er nicht nachweist, daß er es schon getan habe, oder daß die Schuld aus irgend einem anderen Rechtsgrunde aufhöre. Vermuten ist also in diesem Sinne nicht etwas annehmen, ehe es bewiesen ist – was nicht erlaubt ist - , sondern es im voraus annehmen, aber mit Grund, indem man unterdes einen Beweis des Gegenteils abwartet.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 500-501.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand
Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand: Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung, Lebensbeschreibung des Verfassers und erläuternden Anmerkungen versehen von C. Schaarschmidt
Philosophische Schriften.: Band 3 in 2 Teilbänden: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Philosophische Schriften. Französisch und deutsch (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand