Kapitel XV.

Von der Wahrscheinlichkeit

[501] § 1. Philalethes. Wenn das Beweisverfahren den Zusammenhang der Vorstellungen aufzeigt, so ist die Wahrscheinlichkeit nichts anderes, als der auf Beweise gegründete Anschein dieses Zusammenhanges von Vorstellungen, bei denen man keine unveränderliche Verknüpfung gewahr wird. Es gibt verschiedene Grade der Zustimmung von der Sicherheit bis zur Konjektur, zum Zweifel, zum Mißtrauen. § 3. Wenn man Gewißheit hat, so ist in allen Teilen des Schlußverfahrens, welche dessen Zusammenhang bezeichnen,[501] klare Erkenntnis vorhanden; was mich aber glauben macht, ist etwas Fremdes. § 4. Die Wahrscheinlichkeit nun gründet sich auf die Gleichförmigkeit mit dem, was wir wissen, oder auf das Zeugnis derer, welche es wissen.

Theophilus. Eher würde ich behaupten, daß sie immer in der Ähnlichkeit oder in der Übereinstimmung mit der Wahrheit begründet ist; und das Zeugnis von anderen ist auch etwas, was die Wahrheit hinsichtlich naheliegender Tatsachen für sich zu haben pflegt. Man kann also sagen, daß die Ähnlichkeit des Wahrscheinlichen mit dem Wahren entweder von der Sache selbst hergenommen wird oder von etwas Fremdem. Die Rhetoriker nehmen zwei Arten von Beweismitteln (Argumenten) an: die künstlichen, welche durch das Beweisverfahren von den Sachen selbst hergenommen sind, und die nicht künstlichen, welche sich nur auf das ausdrückliche Zeugnis entweder eines Menschen oder vielleicht auch der Sache selbst stützen. Aber es gibt auch noch gemischte, denn das Zeugnis kann selbst eine Tatsache liefern, welche zur Bildung eines künstlichen Beweises dient.

§ 5. Philalethes. Es geschieht aus Mangel an Ähnlichkeit mit dem Wahren, daß wir nicht leicht dasjenige glauben, was sich dem von uns Gesagten nicht anpassen läßt. So antwortete der König von Siam einem Gesandten, als dieser ihm sagte, daß das Wasser sich bei uns im Winter so verhärte, daß ein Elefant darauf hinschreiten könnte, ohne einzubrechen: Bisher habe ich Euch für einen ehrlichen Mann gehalten, aber jetzt sehe ich, daß Ihr lügt. § 6. Wenn aber das Zeugnis der anderen eine Tatsache wahrscheinlich machen kann, so darf die Meinung der anderen nicht an ihr selbst für eine richtige Begründung der Wahrscheinlichkeit gelten. Denn unter den Menschen gibt es mehr Irrtum als Erkenntnis, und wenn der Glaube derer, die wir kennen und achten, ein rechtmäßiger Grund für die Zustimmung wäre, so hatten die Menschen recht, in Japan Heiden, in der Türkei Mohammedaner, Papisten in Spanien, Calvinisten in Holland und Lutheraner in Schweden zu sein.

Theophilus. Das Zeugnis der Menschen ist ohne Zweifel von größerem Gewicht als ihre Meinung, und[502] man widmet demselben mit Recht auch größere Beachtung. Indessen weiß man, daß der Richter mitunter einen Eid de credulitate, wie man es nennt, ablegen läßt, und in den Verhören fragt man die Zeugen oft nicht aus nach dem, was sie gesehen haben, sondern nur nach ihrem Urteil, indem man sie zugleich nach den Ursachen ihres Urteils fragt, und stellt dann die gebührende Erwägung desselben an. Auch richten sich die Richter sehr nach den Ansichten und Meinungen der Sachverständigen in jedem Fach; und dasselbe sind die Privatleute nicht minder zu tun verpflichtet, in dem Maße, als es ihnen nicht zu eigener Prüfung zu schreiten paßt. So ist ein Kind und auch sonst jemand, dessen Stand in dieser Hinsicht nicht mehr gilt, selbst wenn er sich in einer gewissen Stellung befindet, genötigt, der Landesreligion so lange zu folgen, als er darin kein Übles sieht, und er nicht imstande ist zu untersuchen, ob es keine bessere gibt Und mag ein Pagenmeister einer Religionspartei angehören, welcher er wolle, so wird er jeden von ihnen in diejenige Kirche zu gehen veranlassen, welche die Angehörigen des von dem jungen Menschen bekannten Glaubens besuchen. Man kann die Streitigkeiten zwischen Nicole und anderen über den Beweisgrund aus der Mehrzahl in Glaubenssachen zu Rate ziehen, wobei mitunter der eine ihm zu viel einräumt, und der andere ihm nicht genug Beachtung schenkt. Es gibt andere Vorurteile, durch welche die Menschen sich der Untersuchung gern entziehen möchten. Dies nennt Tertullian in einem eigens dazu geschriebenen Traktat Praescriptiones, indem er sich eines Ausdrucks bedient, den die alten Juristen, deren Sprache ihm nicht unbekannt war, von verschiedenen Arten fremder und auffallender Exzeptionen und Allegationen gebrauchten, den man aber heutzutage nur von der zeitlichen Präskription (Verjährung) versteht, die man geltend macht, um eines anderen Forderung zurückzuweisen, weil sie nicht innerhalb der gesetzlich festgestellten Zeit gemacht worden ist. Deswegen hat man auch sowohl von Seiten der römischen Kirche als der Protestanten gesetzliche Vorurteile bekannt machen können. Man hat darin das Mittel gefunden, sowohl den einen als den anderen in gewisser Hinsicht Neuerungen vorzuwerfen, wie z.B. als die[503] Protestanten größtenteils die Form der alten Weihungen der Geistlichen verließen, oder als die Römischen den alten Kanon der Bücher der Heiligen Schrift Alten Testamentes veränderten. Dies habe ich ganz klar in einem Streit bewiesen, welchen ich schriftlich und in Zwischenräumen mit dem Bischof von Meaux, welchen man nach den vor einigen Tagen angelangten Nachrichten so eben verloren hat, geführt habe. Da diese Vorwürfe also gegenseitig waren, so ist die Neuerung, wenn sie gleich einigen Verdacht des Irrens in diesen Gegenständen zuläßt, doch nicht ein sicherer Beweis davon.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 501-504.
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