Kapitel XVI.

Von den Graden der Zustimmung

[504] § 1. Philalethes. Was die Grade der Zustimmung anbetrifft, so muß man sich hüten, die Wahrscheinlichkeitsgründe, welche man hat, darin nicht über diejenige Stufe des Anscheins hinaus wirken zu lassen, welche man darin findet oder bei vorgängiger Prüfung darin gefunden hat. Denn man muß zugeben, daß die Zustimmung nicht immer auf einer wirklichen Einsicht in die den Geist bestimmenden Gründe ruht, und selbst denen, welche ein bewundernswürdiges Gedächtnis haben, würde es sehr schwer sein, immer alle die Beweise zu behalten, welche sie zu einer gewissen Ansicht bestimmt haben, und die mitunter einen Band über eine einzige Frage füllen konnten. Es genügt, daß sie die Sache einmal aufrichtig und sorgfältig durchdacht und sozusagen die Rechnung gezogen haben. § 2. Sonst müßten die Menschen sehr skeptisch sein oder in jedem Augenblick ihre Ansicht ändern, um sich einem jeden hinzugeben, der die Frage vor kurzem geprüft hat und ihnen neue Gründe vorlegt, auf die sie aus Mangel an Gedächtnis oder Muße zu fleißiger Erwägung nicht gleich vollständig antworten können. § 3. Man muß zugeben, daß dies die Menschen oft hartnäckig im Irren macht; der Fehler ist aber, nicht daß sie sich auf ihr Gedächtnis verlassen, sondern daß sie früher falsch geurteilt haben. Denn oft tritt bei den Menschen an die Stelle der Prüfung und der[504] Vernunft die Bemerkung, daß sie niemals anders gedacht haben. Gewöhnlich aber sind diejenigen, welche ihre Meinungen am wenigsten geprüft haben, denselben am meisten zugetan. Während nun löblich ist, dem, was man gesehen hat, zugetan zu sein, ist es nicht immer so mit dem, was man geglaubt hat, weil man irgend eine Erwägung ausgelassen haben kann, die alles umzustoßen imstande ist Und es gibt vielleicht niemand in der Welt, welcher die Muße, die Geduld und die Mittel hätte, alle die Beweise der einen wie der anderen Seite über die Streitfragen, welche seine Meinungen angehen, zu sammeln, um sie zu vergleichen und so sicher zu schließen, daß ihm für eine weitere Kenntnisnahme nichts mehr zu wissen bleibt Die Sorge für unseren Lebensunterhalt und unsere wichtigsten Interessen leidet indessen keinen Aufschub, und es ist durchaus notwendig, daß unser Urteil über diejenigen Punkte, in denen wir zu einer sicheren Erkenntnis zu gelangen unfähig sind, eine Entscheidung treffe.

Theophilus. Alles, was Sie eben sagten, ist durchaus richtig und stichhaltig. Indessen wäre es zu wünschen, daß die Menschen in manchen Fällen schriftliche Entwürfe (in Form von Gedächtnisbüchern) der Gründe besäßen, welche sie zu irgend einer bedeutsamen Ansicht veranlaßt haben, und welche sie in der Folge noch oft vor sich oder anderen zu rechtfertigen genötigt sind. Obgleich es übrigens in Rechtsangelegenheiten gewöhnlich nicht erlaubt ist, die ergangenen Urteile umzustoßen und die Rechnungen zu revidieren (sonst müßte man immerfort in Unruhe sein, was um so unerträglicher sein würde, als man die Notizen aus der Vergangenheit nicht immer bewahren kann), so wird mitunter auf Grund neuer Entdeckungen zugelassen, daß man sich Gerechtigkeit verschaffe und sogar das erlange, was man restitutio in integrum (Wiedereinsetzung in den dem Prozeß vorausgehenden Stand) gegenüber dem nennt, was angeordnet worden ist; ebenso dürfen in unseren eigenen Angelegenheiten besonders bei sehr wichtigen Gegenständen, wo es noch frei ist, sich zu binden oder zurückzuziehen, und es unschädlich ist, die Ausführung aufzuschieben oder wenig zu fördern, die auf Wahrscheinlichkeiten gegründeten Urteilssprüche unseres Innern niemals so in rem judicatam[505] übergehen, wie die Juristen sagen, d.h. als ein für allemal feststehend gelten, so daß man nicht zur Revision des Gedankenzusammenhanges geneigt wäre, wenn neue gewichtige Gründe sich dagegen darbieten. Ist es aber keine Zeit mehr, zu überlegen, so muß man dem einmal gefällten Urteil mit so viel Festigkeit folgen, als wenn es unfehlbar wäre, wenn auch nicht immer mit gleicher Strenge.

§ 4. Philalethes. Da die Menschen also nicht vermeiden können, sich beim urteilen dem Irrtum auszusetzen und verschiedene Ansichten zu hegen, wenn sie die Sachen nicht von der gleichen Seite betrachten können, so müssen sie in dieser Meinungsverschiedenheit untereinander den Frieden und die Humanitätspflichten bewahren, ohne zu verlangen, daß ein anderer auf unsere Einwendungen hin eine festgewurzelte Meinung sogleich umtauschen solle, besonders wenn er sich vorzustellen Ursache hat, daß sein Gegner aus Interesse oder Ehrgeiz oder aus irgend einem anderen besonderen Motiv handelt. Auch haben sich häufig diejenigen, welche den anderen die Notwendigkeit auferlegen wollen, sich ihren Ansichten zu fügen, die Dinge nicht wohl geprüft. Denn die, welche in die Untersuchung so tief eingedrungen sind, um über den Zweifel hinauszukommen, sind in so geringer Zahl und finden so wenig Veranlassung, andere zu verdammen, daß man sich von ihrer Seite eines gewaltsamen Auftretens nicht zu versehen braucht.

Theophilus. Was man an den Menschen wirklich am meisten zu tadeln das Recht hat, ist nicht ihre Meinung, sondern ihr verwegenes Urteil, die der anderen zu tadeln, als ob man einfältig oder schlecht sein müßte, um andere wie sie zu urteilen; es ist dies bei den Urhebern jener von ihnen im Publikum verbreiteten Leidenschaften und Feindseligkeiten die Wirkung eines hochfahrenden und unbilligen Gemütes, das zu herrschen wünscht und keinen Widerspruch dulden kann. Damit ist nicht geleugnet, daß es nicht in Wahrheit gar oft Gelegenheit gibt, die Meinungen anderer zu kritisieren, aber dies muß man im Geiste der Billigkeit und des Mitleids für die menschliche Schwäche tun. Man hat allerdings recht, gegen die schlimmen Lehren, welche auf die Sitten und die Ausübung der Frömmigkeit Einfluß haben, Vorkehrungen zu[506] treffen, aber ohne weitere Beweise davon zu haben, soll man sie den Leuten nicht zum Verbrechen anrechnen. Wenn die Billigkeit verlangt, die Person zu schonen, so macht es die Frömmigkeit zur Pflicht darzutun, inwiefern ihre Dogmen eine schlimme Wirkung haben, wenn sie schädlich sind, wie z.B. diejenigen, welche gegen die Vorsehung eines vollkommen weisen, guten und gerechten Gottes und gegen die Unsterblichkeit der Seele sind, welche sie für die Wirkungen seiner Gerechtigkeit empfänglich macht, um nicht von anderen hinsichtlich der Moral und Politik gefährlichen Meinungen zu reden. Ich weiß, daß vortreffliche und wohlgesinnte Männer behaupten, diese theoretischen Meinungen hätten in der Praxis weniger Einfluß, als man denkt, und weiß auch, daß es Leute von trefflichem Naturell gibt, die durch ihre Meinungen niemals dahin kommen werden, etwas ihrer Unwürdiges zu tun, wie übrigens diejenigen, welche durch die Spekulation zu dergleichen Irrtümern gekommen sind, von Natur aus den Lasten ferner zu sein pflegen, für welche die große Masse der Menschen empfänglich ist, während sie außerdem noch für die Würde der Sekte, der sie gleichsam als Häupter vorstehen, Sorge tragen müssen; und man kann sagen, daß Epikur und Spinoza z.B. ein ganz exemplarisches Leben geführt haben. Aber diese Gründe hören bei ihren Schülern oder Nachahmern meistens auf, welche, sich von der unbequemen Furcht vor einer wachsamen Vorsehung und einer drohenden Zukunft befreit glaubend, ihren tierischen Leidenschaften den Zügel schießen lassen und ihren Geist darauf richten, andere zu verführen und zu verderben; und wenn sie ehrgeizig und von etwas hartem Naturell sind, so sind sie imstande, für ihr Vergnügen oder ihren Vorteil die Welt an allen vier Ecken anzuzünden, wie ich Leute dieses Schlages gekannt habe, welche der Tod entfernt hat. Ich finde sogar, daß ähnliche Meinungen, wie sie sich nach und nach in das Gemüt der Männer der vornehmen Welt, welche die anderen regieren und von denen die Geschäfte abhangen, und in die gangbaren Schriften einschleichen, alle Dinge zu der allgemeinen Revolution, mit der Europa bedroht ist, vorbereiten und damit endigen, das zu zerstören, was noch in der Welt von den edlen Gesinnungen der alten Griechen und Römer übrig ist,[507] welche die Liebe zum Vaterland und zur öffentlichen Wohlfahrt und die Sorge für die Zukunft dem Glück und seihst dem Leben vorzogen. Jene public spirits, wie die Engländer sie nennen, nehmen außerordentlich ab und sind nicht mehr in der Mode; und sie werden noch mehr aufhören, wenn sie nicht mehr durch die richtige Sittenlehre und die wahre Religion, welche die natürliche Vernunft selbst uns lehrt, unterstützt sein werden. Die Besten von entgegengesetztem Charakter, welcher zu herrschen beginnt, haben kein anderes Prinzip mehr als das, was sie das der Ehre nennen. Aber das Zeichen des ehrenhaften Mannes und des Mannes von Ehre bei ihnen ist allein, keine Niederträchtigkeit, wie sie dieselbe verstehen, zu begehen. Und wenn jemand für die Größe oder aus Eigensinn Ströme Blutes vergösse, wenn er alles kopfüber stürzte, so würde man das für nichts rechnen, und ein antiker Herostrat oder ein Don Juan der Oper würde als Held gelten. Man spottet ganz laut über die Liebe zum Vaterlande, man verlacht diejenigen, welche für das öffentliche Wohl sorgen, und wenn irgend ein Wohlgesinnter von dem spricht, was aus der Nachkommenschaft werden sollte, so antwortet man: kommt Zeit, kommt Rat. Aber solchen Leuten könnte widerfahren, daß sie selbst die Übel erproben, welche sie anderen aufbehalten wähnen. Wenn man jetzt noch von dieser epidemischen Geisteskrankheit, deren schlimme Wirkungen sichtbar zu werden beginnen, sich heilte, so könnte jenen Übeln vielleicht noch vorgebeugt werden, aber wenn sie immer mehr wächst, so wird die Vorsehung die Menschen durch die Revolution selbst, die daraus entstehen muß, strafend bessern, denn was auch geschehen möge, so wird stets alles am Ende der Rechnung sich zum besten wenden, wenn schon dies nicht ohne Züchtigung derer, welche durch ihre schlimmen Handlungen selbst zum Guten beigetragen haben, geschehen darf und kann. Ich komme jedoch von einer Abschweifung zurück, zu der mich die Betrachtung der schädlichen Meinungen und des Rechtes, sie zu tadeln, geleitet hat. Da nun in der Theologie die Zensuren noch viel weiter gehen als anderswo, und die, welche ihre Rechtsgläubigkeit geltend machen, oft die Gegner verdammen, wogegen sich in ihrer Partei selbst diejenigen setzen, welche von ihren[508] Gegnern Synkretisten genannt werden, so hat diese Meinung Bürgerkriege zwischen den Strenggläubigen und den Nachgiebigen in einer und derselben Partei erregt. Da indessen denen, welche anderer Meinung sind, die ewige Seligkeit abzusprechen ein Eingriff in die Rechte Gottes ist, so verstehen dies die Weisesten unter den Verdammern nur von der Gefahr, in welcher sie die irrenden Seelen zu sehen glauben, und überlassen der besonderen Gnade Gottes diejenigen, deren Bosheit sie nicht unfähig macht, jene Gnade zu empfangen, und glauben sich ihrerseits verpflichtet, alle erdenkbaren Anstrengungen zu machen, um sie einem so gefährlichen Zustand zu entreißen. Wenn diese Leute, welche so über die Gefahr anderer urteilen, zu jener Ansicht nach einer angemessenen Prüfung gekommen sind, und es kein Mittel gibt, sie ihres Irrtums zu überführen, so kann man ihr Verfahren nicht tadeln, solange sie nur die Woge der Sanftmut wandeln. Aber sobald sie weiter gehen, so heißt das die Gesetze der Billigkeit verletzen. Denn sie müssen bedenken, daß andere, ebenso überzeugt wie sie, gerade soviel Recht haben, ihre Ansichten aufrechtzuerhalten und selbst zu verbreiten, wenn sie dieselben für wichtig halten. Man muß die Meinungen ausnehmen, welche Verbrechen lehren: diese darf man nicht dulden, und man hat das Recht, sie auf dem Wege der Strenge zu ersticken, selbst wenn derjenige, welcher sie vertritt, sich in Wahrheit derselben nicht entschlagen kann, wie man das Recht hat, ein giftiges Tier zu vertilgen, mag es auch ganz unschuldig sein. Ich spreche aber vom Vertilgen der Sekte und nicht der Menschen, weil man sie verhindern kann, zu schaden und Lehrsätze zu verbreiten.

§ 5. Philalethes. Um auf den Grund und die Grade der Zustimmung zurückzukommen, so ist es am Platze, zu bemerken, daß es Sätze von zwei Arten gibt: die einen betreffen Tatsachen, die, da sie von der Beobachtung abhangen, auf ein menschliches Zeugnis gegründet werden können, die anderen sind spekulativ und sind, da sie Dinge angehen, welche unsere Sinne nicht entdecken können, eines ähnlichen Zeugnisses nicht fähig. § 6. Wenn eine einzelne Tatsache unseren stets gleichbleibenden Beobachtungen und den einstimmigen Berichten anderer entspricht, verlassen wir uns so fest darauf, als[509] ob es eine sichere Erkenntnis wäre, und wenn es dem Zeugnis aller Menschen in allen Jahrhunderten, soweit es gekannt werden kann, entspricht, so ist dies der erste und höchste Grad der Wahrscheinlichkeit, z.B. daß das Feuer erwärmt, daß das Eisen im Wasser untersinkt. Unser auf solchen Gründen ruhender Glaube erhebt sich bis zur Gewißheit. § 7. Zweitens, wenn alle Historiker erzählen, daß dieser oder jener seinen eigenen Vorteil dem öffentlichen vorgezogen hat, so ist, da man beobachtet hat, daß dies die Gewohnheit der meisten Menschen ist, eine solchen Erzählungen gegebene Zustimmung ein Vertrauensakt. § 8. Drittens, wenn die Natur der Dinge nichts enthält, was dafür oder dagegen ist, so wird eine durch das Zeugnis Unverdächtiger bezeugte Tatsache, z.B. daß ein Julius Caesar gelebt hat, mit einem festen Glauben daran aufgenommen. Aber wenn die Zeugnisse dem gewöhnlichen Naturlauf oder untereinander widersprechend sind, so können die Wahrscheinlichkeitsgrade sich bis ins Unendliche vervielfältigen. Daher stammen jene Grade, welche wir Glauben, Vermutung, Zweifel, Ungewißheit, Mißtrauen nennen, und da ist denn strenge Prüfung nötig, um ein richtiges Urteil zu bilden und unsere Zustimmung den Graden der Wahrscheinlichkeit anzupassen.

Theophilus. Die Juristen haben bei ihrer Behandlung der Beweise, Präsumptionen, Konjekturen und Merkmale viel Richtiges über diesen Gegenstand gesagt und sind viel auf das einzelne eingegangen. Sie beginnen mit dem Ortskundigen (Notorischen), wobei man keinen Beweis nötig hat. Darauf kommen sie zu den vollständigen Beweisen oder solchen, die dafür gelten, auf Grund deren man, wenigstens in Zivilsachen, Entscheidungen ergehen läßt, aber bei anderen Fällen in Kriminalsachen zurückhaltender ist. Man hat auch nicht unrecht, dafür mehr als volle Beweise und namentlich je nach der Natur der Tatsache das zu verlangen, was man corpus delicti nennt. Es gibt also mehr als volle Beweise und auch gewöhnlich volle Beweise. Ferner gibt es Präsumptionen (Annahmen), welche als vorläufig vollständige Beweise gelten d.h. so lange, als das Gegenteil nicht nachgewiesen ist. Ferner gibt es mehr als halb volle Beweise (eigentlich zu reden), wo man dem, der[510] sich darauf stützt, zu schwören erlaubt, um sie zu vervollständigen; dies ist das juramentum suppletorium. Es gibt dann wieder andere weniger als halb volle Beweise, wo man ganz im Gegenteil denjenigen zum Reinigungseid läßt, welcher die Tatsache leugnet; dies ist das juramentum purgationis. Außerdem gibt es noch viele Grade von Konjekturen und Merkmalen. Und besonders gibt es in Kriminalsachen Merkmale (ad torturam), um zur peinlichen Frage zu schreiten (welche selbst wieder ihre durch die Verhaftungsformeln bezeichneten Grade hat); es gibt Merkmale (ad terrendum), bei welchen es hinreicht, die Marterinstrumente sehen zu lassen und die Tortur vorzubereiten, als ob man dazu schreiten wollte. Es gibt deren (ad capturam), um sich eines Verdächtigen zu versichern, und (ad inquirendum) um sich unter der Hand und ohne Aufheben zu unterrichten. Diese Unterschiede können auch bei anderen entsprechenden Gelegenheiten brauchbar sein, und das ganze Gerichtsverfahren in der Justiz ist in der Tat nichts anderes als eine auf die Rechtsfragen angewendete Art Logik. Auch die Ärzte haben eine Menge Grade und Unterschiede ihrer Symptome und Indikationen, welche man in ihren Büchern nachsehen kann. Die Mathematiker unserer Zeit haben bei Gelegenheit der Spiele angefangen, die Glückschancen abzuschätzen. Der Ritter de Meré, dessen »Belustigungen« und an dere Werke gedruckt sind, ein Mann von durchdringendem Geist, der ein Spieler und Philosoph war, gab dazu Veranlassung, indem er Fragen aber die Partien aufstellte, um zu erfahren, was das Spiel, wenn es in diesem oder jenem Punkte unterbrochen würde, wert sei. Er veranlaßte dadurch seinen Freund Pascal, diese Dinge ein wenig zu untersuchen. Die Frage machte Lärm und gab Huygens Gelegenheit, seinen Traktat de Alea (über das Würfelspiel) abzufassen. Andere Gelehrte nahmen gleichfalls teil. Man setzte einige Grundregeln fest, die auch der Ratspensionär de Wit in einer Meinen, auf Holländisch geschriebenen Abhandlung über die lebenslänglichen Renten benutzte.

Der Grund, auf welchem man gebaut hat, kommt auf die Prosthaphaeresis d.h. darauf zurück, daß man zwischen mehreren gleich annehmbaren Voraussetzungen ein arithmetisches Mittel nimmt, dessen sich unsere Bauern[511] schon lange mit ihrer natürlichen Mathematik bedient haben. Wenn z.B. eine Erbschaft oder ein Landgut verkauft werden soll, bilden sie drei Gruppen von Abschätzern; diese Gruppen werden im Niedersächsischen Schurzen genannt, und jede davon macht eine Abschätzung des fraglichen Gutes. Setzen wir, daß die eine es zu dem Werte von 1000 Tlr., die andere zu 1400 Tlr., die dritte zu 1500 Tlr. schätzt, so nimmt man die Summe dieser drei Abschätzungen mit 3900 und davon, weil drei Gruppen gewesen sind, den dritten Teil, der für den verlangten Mittelwert 1300 ist, oder, was dasselbe ist, man nimmt die Summe des dritten Teils jeder Schätzung. Das ist der Grundsatz aequalibus aequalia (Gleiches für Gleiches) – bei gleichen Voraussetzungen muß man gleiche Folgerungen machen. Wenn aber die Voraussetzungen ungleich sind, vergleicht man sie miteinander. Vorausgesetzt z.B., daß mit zwei Würfeln der eine Spieler gewinnen soll, wenn er 7 Punkte hat, der andere, wenn er 9 hat, so fragt sich: welches Verhältnis findet zwischen ihren Wahrscheinlichkeiten zu gewinnen statt? Ich antworte, daß die Wahrscheinlichkeit für den letzteren nur zwei Drittel der Wahrscheinlichkeit für den ersteren wert ist, denn mit zwei Würfeln kann der erstere 7 auf drei Arten machen, nämlich mit 1 und 6 oder 2 und 5 oder 3 und 4; und der andere kann 9 nur auf zwei Arten machen, indem er entweder 3 und 6 oder 4 und 5 wirft. Und alle diese Würfe sind gleich möglich. Also werden die Wahrscheinlichkeiten, welche wie die Zahlen der gleichen Möglichkeiten sind, sich wie 3 zu 2, oder wie 1 zu 2/3 verhalten. Ich habe mehr als einmal gesagt, daß eine neue Art Logik nötig sein würde, welche die Wahrscheinlichkeitsgrade behandeln müßte, da Aristoteles in seiner Topik nichts weniger als das gemacht, sich vielmehr begnügt hat, gewisse leichtfaßliche, nach den Gemeinplätzen eingeteilte Regeln in eine gewisse Ordnung zu bringen, die in den Fällen dienen können, wo es sich darum handelt, den Vortrag zu erweitern und ihm einige Wahrscheinlichkeit zu geben, ohne sich zu bemühen, den notwendigen Maßstab zur Abwägung der Wahrscheinlichkeiten und zur Bildung eines gründlichen Urteils darüber hinzuzufügen. Gut wäre es, wenn derjenige, welcher diesen Gegenstand behandeln wollte, die Prüfung der [512] Hazardspiele fortsetzte, und überhaupt möchte ich wünschen, daß ein geschickter Mathematiker ein großes, weitläufiges und recht gründliches Werk über alle Arten von Spielen machen wollte. Dies würde von großem Nutzen sein, um die Erfindungskunst zu vervollkommnen, da der menschliche Geist sich mehr in den Spielen als in den ernsteren Gegenständen zeigt.

§ 10. Philalethes. Das Gesetz Englands beobachtet die Regel, daß die Abschrift eines Gesetzesaktes, welche durch Zeugen als authentisch anerkannt worden ist, ein guter Beweis ist, daß aber die Abschrift einer Abschrift, möge sie auch noch so beglaubigt sein und zwar durch die glaubwürdigsten Zeugen, vor Gericht niemals als Zeugnis zugelassen wird. Ich habe noch niemand diese weise Vorsicht tadeln hören. Wenigstens kann man die Bemerkung daraus ziehen, daß ein Zeugnis in dem Maße weniger Kraft hat, als es von der ursprünglichen Wahrheit sich entfernt, die in der Sache selbst besteht, während freilich bei manchen Leuten man ein schnurstracks entgegengesetztes Verfahren angewendet findet. Die Meinungen erhalten durch das Altwerden Kraft, und was vor tausend Jahren einem vernünftigen Zeitgenossen dessen, welcher es zuerst bezeugt hat, nicht wahrscheinlich vorgekommen sein würde, gilt gegenwärtig für gewiß, weil es mehrere auf jenes Zeugnis hin nacherzählt haben.

Theophilus. Die Kritiker im historischen Fach legen großes Gewicht auf die zeitgenössischen Zeugen der Begebenheiten, indessen verdient selbst ein Zeitgenosse besonders nur hinsichtlich der öffentlichen Angelegenheiten Glauben; spricht er aber von Motiven, Geheimnissen, verborgenen Triebfedern und streitigen Dingen, wie z.B. von Vergiftungen, Mordtaten, so erfährt man wenigstens, was mehrere geglaubt haben. Procopius ist sehr glaubwürdig, wenn er vom Krieg des Belisar gegen die Vandalen und Goten spricht; wenn er aber in seinen Anecdota schlimme Lästerreden gegen die Kaiserin Theodora auftischt, so mag sie glauben, wer will. Man muß im allgemeinen sehr zurückhaltend sein, den Satiren zu glauben; wir kennen deren, welche man zu unserer Zeit veröffentlicht hat, und die, wenngleich aller Wahrscheinlichkeit entgegen, dennoch von den Unwissenden gierig verschlungen worden sind. Und vielleicht wird man noch einmal sagen: Ist's möglich,[513] daß man solche Dinge zu jener Zeit zu veröffentlichen gewagt haben würde, wenn nicht irgend ein Wahrscheinlichkeitsgrund dafür war? Aber wenn man dies einmal sagt, wird man sehr falsch urteilen. Indessen ist die Welt geneigt, sich der Satire hinzugeben, und um nur ein Beispiel davon anzuführen, so haben, nachdem der verstorbene Mr. du Maurier Sohn in seinen vor einigen Jahren gedruckten Memoiren der Wahrheit zuwider in den Tag hinein gewisse schlecht begründete Dinge gegen den unvergleichlichen Hugo Grotius, schwedischen Gesandten in Frankreich, veröffentlicht hat – gegen das Andenken dieses berühmten Freundes seines Vaters durch irgend einen Umstand augenscheinlich aufgebracht – so haben, sage ich, viele Schriftsteller, wie ich bemerkt habe, dies wiederholt, obwohl die Staatshandlungen und Briefe des großen Mannes hinlänglich das Gegenteil zeigen. Man geht sogar so weit, in der Geschichte Romane zu schreiben, und der, welcher zuletzt ein Leben von Cromwell angefertigt hat, hielt es für erlaubt, um den Gegenstand auszuschmücken, indem er von dem damals noch privaten Leben des gescheiten Usurpators sprach, ihn nach Frankreich reisen zu lassen, wohin er ihm in die Wirtshäuser von Paris folgt, als ob er sein Reisemarschall gewesen wäre. Es geht jedoch auch aus der von Carrington geschriebenen Geschichte Cromwells hervor, daß dieser niemals die britischen Inseln verlassen hat; Carrington war aber wohl unterrichtet und mit Cromwells Sohn Richard, als er noch den Protektor machte, vertraut. Vor allem sind Einzelheiten wenig sicher. Man hat fast gar keine guten Beschreibungen von Schlachten; die meisten derselben im Titus Livius scheinen aus der Phantasie geschöpft zu sein, ebenso wie die des Quintus Curtius. Man müßte von beiden Parteien die Berichte genauer und fähiger Männer haben, die sogar Pläne entwerfen müßten, wie diejenigen, welche der Graf Dahlberg, welcher schon mit Auszeichnung unter König Karl Gustav von Schweden gedient hatte und als Generalgouverneur von Livland Riga vor kurzem verteidigt hat, über die Kriegstaten und Schlachten dieser Fürsten stechen ließ.

Man muß indessen nicht gleich einen guten Geschichtschreiber um eines Wortes irgend eines Fürsten oder Ministers willen, der bei irgend einer Gelegenheit gegen[514] ihn auftritt, oder wegen irgend eines Punktes verschreien, der nicht gefällt und allerdings vielleicht irgend einen Fehler enthält. Man erzählt, daß Karl der Fünfte, wenn er sich etwas aus Sleidan vorlesen lassen wollte, sagte: Bringt mir meinen Lügner, und daß Carlowiz, ein in jener Zeit wohl bewanderter sächsischer Edelmann, erklärte, die Geschichte Sleidans zerstöre bei ihm alle die gute Meinung, welche er von den alten Geschichten gehabt habe. Dies, sage ich, darf bei wohlunterrichteten Personen von keinem Gewicht sein, um das Ansehen der Sleidanschen Geschichte umzustürzen, deren bester Teil aus den Staatsakten der Reichstage und Versammlungen und aus durch die Fürsten beglaubigten Staatsschriften zusammengesetzt ist. und wenn noch der geringste Zweifel darüber bleiben sollte, so wird er gerade jetzt durch die ausgezeichnete Geschichte meines berühmten Freundes, des verstorbenen Herrn von Seckendorf, gehoben, bei dem ich indessen mich nicht enthalten kann, den Ausdruck »Luthertum« auf dem Titel zu mißbilligen, den eine schlechte Gewohnheit in Sachsen zu Ansehen gebracht hat. Dort wird das meiste durch zahllose, aus den sächsischen Archiven gewonnene Beweisstücke, welche er zur Verfügung hatte, gerechtfertigt, mag auch der Bischof von Meaux, der dabei angegriffen wird, und dem ich das Bach schickte, mir antworten, es sei von einer fürchterlichen Weitschweifigkeit. Ich wünschte nur, daß es in demselben Verhältnis zweimal größer wäre. Je weitläufiger es ist, desto mehr müßte es Gelegenheit geben, sich mit ihm zu beschäftigen, da man nur zu wählen brauchte, wo man anfinge; auch gibt es sonst sehr geschätzte historische Werke, welche noch viel größer sind.

Übrigens verachte man nicht immer die Schriftsteller, welche nach der Zeit, von der sie sprechen, gelebt haben, wenn nur, was sie erzählen, auch sonst bestätigt wird. Mitunter kommt es auch vor, daß sie die ältesten Stücke aufbewahren. Man war z.B. in Ungewißheit, aus welcher Familie Suibert, Bischof von Bamberg, nachher Papst unter dem Namen Clemens II., stammte. Ein anonymer braunschweigischer Geschichtschreiber, der im 14. Jahrhundert gelebt hat, hatte seine Familie genannt, aber die in unserer Geschichte bewanderten Gelehrten hatten darauf keine Rücksicht genommen. Ich habe aber eine viel[515] ältere noch ungedruckte Chronik gehabt, wo dasselbe mit mehr Einzelheiten gesagt ist, woraus hervorgeht, daß er von der Familie der alten Feudalherren von Homburg (in der Nähe von Wolfenbüttel) stammte, deren Land durch den letzten Besitzer dem Halberstädter Dom geschenkt wurde.

§ 11. Philalethes. Man soll auch nicht von mir glauben, daß ich das Ansehen und den Nutzen der Geschichte durch meine Bemerkung habe herabsetzen wollen. Aus dieser Quelle erhalten wir mit überzeugender Klarheit einen großen Teil der uns nützlichen Wahrheiten. Ich kenne nichts Schätzenswerteres, als die aus dem Altertum uns übrig gebliebenen Memoiren, und wollte gern, daß wir deren noch eine größere Zahl und weniger verfälschte hätten. Aber es bleibt immer wahr, daß keine Abschrift sich über die Gewißheit der ersten Urschrift erhebt.

Theophilus. Wenn man nur einen alten Schriftsteller als Gewährsmann einer Tatsache hat, so fügen sicherlich alle diejenigen, welche ihn ausgeschrieben haben, demselben kein Gewicht hinzu oder müssen vielmehr für nichts gerechnet worden. Dies muß sich dann ganz ebenso verhalten, als ob das von ihnen Bemerkte zur Zahl der hapax legomena gehörte, dessen, was nur einmal gesagt worden ist, worüber Menagius ein Buch verfassen wollte. Wenn hunderttausend kleine Schriftsteller die Schmähreden Bolsecs z.B. wiederholen wollten, würde auch heute noch ein vernünftiger Mensch sich ebensowenig daran kehren als an das Geschrei der Sperlinge. Juristen haben de fide historica (über die historische Glaubwürdigkeit) geschrieben, aber dieser Gegenstand verdiente eine tiefer eingehende Untersuchung, und einige von jenen Schriftstellern sind zu nachsichtig gewesen. Was das hohe Altertum betrifft, so sind einige der hervorstechendsten Tatsachen zweifelhaft. Gescheite Leute haben mit Grund gezweifelt, ob Romulus der erste Gründer der Stadt Rom gewesen ist. Man streitet über den Tod des Cyrus, und außerdem hat der Widerspruch zwischen Herodot und Ktesias über die Geschichte der Assyrier, Babylonier und Perser Ungewißheit verbreitet. Die von Nebukadnezar, von Judith und selbst diejenige des Ahasveros aus dem Buch Esther leidet an großen Schwierigkeiten.[516] Die Römer widersprechen mit ihrer Geschichte vom Gold von Toulouse dem, was sie über die Niederlage der Gallier durch Camillus erzählen. Vor allem verdient die eigene und private Geschichte der Völker keinen Glauben, wenn sie nicht sehr alten Quellenschriften entnommen ist und mit der allgemeinen Geschichte übereinstimmt. Darum gilt alles, was man uns von den alten deutschen, gallischen, britischen, schottischen, polnischen und anderen Königen erzählt, mit Recht für fabelhaft. Jener Trebeta, Ninus' Sohn, Gründer von Trier, jener Brutus, der Stammvater der Britonen oder Briten, sind gerade so viel wert als die Amadis. Die aus Romanschreibern hergeholten Erzählungen, welche Trithemius, Aretin und selbst Albin und Sifrid Petri über die alten Fürsten der Franken, Bojer, Sachsen, Friesen aufzutischen sich die Freiheit genommen haben, und das, was Saxo Grammaticus und die Edda uns von den fernsten nordischen Altertümern erzählen, kann nicht mehr Gewicht haben, als was Kadlubko, der erste polnische Geschichtschreiber, von einem ihrer Könige erzählt, welcher Eidam des Julius Cäsar gewesen sein soll.

Wenn aber die Erzählungen verschiedener Völker sich in den Fällen begegnen, wo es keinen Anschein hat, daß der eine den anderen abgeschrieben habe, so ist das ein bedeutendes Zeichen für die Wahrheit Solcher Art ist die Übereinstimmung des Herodotus mit der Geschichte im Alten Testament in vielen Fällen, wenn er z.B. von der Schlacht von Megiddo zwischen dem Könige von Ägypten und den Syriern Palästinas spricht d.h. den Juden, wo nach dem Bericht der Heiligen Schrift, welche wir von den Hebräern haben, der König Josias tödlich verwundet wurde. Auch die Übereinstimmung der arabischen, persischen, türkischen mit den griechischen, römischen und anderen abendländischen Schriftstellern ist denen, welche den Tatsachen nachforschen, sehr willkommen, wie denn auch die Zeugnisse, welche die aus dem Altertum übrigen Münzen und Inschriften den auf uns gekommenen antiken Schriftstellern geben, und die im Grunde Abschriften von Abschriften sind. Was die Geschichte von China uns noch lehren wird, bleibt abzuwarten, bis wir besser imstande sein werden, darüber zu urteilen, und sie sich Glauben verschafft haben wird.[517]

Der Nutzen der Geschichte besteht hauptsächlich in dem Genuß, den Ursprung der Völker zu erkennen; daß man ferner denen, welche sich um die übrige Menschheit wohl verdient gemacht haben, Gerechtigkeit widerfahren läßt; in der Gründung einer historischen Kritik und vor allem der heiligen Geschichte, welche das Fundament der Offenbarung bildet, und endlich (wenn wir die Genealogien und Fürsten, wie Potentatenrechte beiseite setzen) in den nützlichen Unterweisungen, welche die Beispiele uns liefern. Ich halte es nicht für überflüssig, die Altertümer bis auf die kleinsten Kleinigkeiten genau zu untersuchen, denn mitunter kann die von den Kritikern daraus gezogene Kenntnis zu den wichtigsten Dingen nützen. Ich stimme z.B. ganz damit überein, daß man sogar die gesamte Geschichte der Kleidungen und der Schneiderkunst von den Anzügen der hebräischen Hohenpriester oder, wenn man will, von den Pelzröcken aus, die Gott den ersten Ehegatten bei ihrem Abschiede aus dem Paradiese gab, bis zu den Fontangen und Falbalas unserer Zeit schreibe, und daß man dem alles hinzufüge, was man aus den alten Skulpturen und den seit einigen Jahrhunderten gemachten Gemälden gewinnen kann. Auf Verlangen würde ich sogar die Memoiren eines Augsburgers aus dem verflossenen Jahrhundert liefern, der sich mit allen den Kleidern, welche er seit seiner Kindheit bis zum dreiundsechzigsten Jahre trug, gemalt hat. Auch hat mir jemand erzählt, daß der verstorbene Herzog von Aumont, ein großer Kenner der schönen Altertümer, eine ähnliche Merkwürdigkeit gehabt hat. Dies würde vielleicht dazu dienen, die wirklichen Altertümer von denen, die es nicht sind, zu unterscheiden, von manchem anderen Nutzen nicht zu reden. Und weil es den Menschen zu spielen erlaubt ist, so würde es ihnen auch erlaubt sein, sich mit dieser Art von Arbeiten, wenn die wesentlichen Pflichten nicht darunter leiden, zu unterhalten. Aber ich wünschte auch, daß es Leute gäbe, die sich besonders darauf legten, das Nützlichste aus der Geschichte zu ziehen, wie z.B. außerordentliche Beispiele von Tugend, Bemerkungen über die Bequemlichkeiten des Lebens, politische und Kriegslisten. Auch möchte ich, daß man eigens eine Art von Universalgeschichte gründete, die nur solche Sachen anmerkte und einige andere von der höchsten Wichtigkeit;[518] denn mitunter kann man ein großes Geschichtsbuch lesen, gelehrt, gut geschrieben, dem Zwecke des Verfassers selbst entsprechend und ausgezeichnet in seiner Art, aber das keine nützlichen Unterweisungen enthält, unter denen ich hier aber nicht bloße Tugendlehren verstehe, von denen das Theatrum vitae humanae und andere solche Blumenlesen angefüllt sind, sondern Geschicklichkeiten und Kenntnisse, an welche im Notfall niemand gleich denken würde. Auch wünschte ich, daß man aus den Büchern der Reisenden möglichst viele Dinge dieser Art zöge, aus denen man Nutzen gewinnen könnte, und daß man sie nach der Ordnung der Gegenstände mitteilte. Aber erstaunlicherweise vergnügen sich die Menschen, während so viel Nützliches zu tun bleibt, fast immer nur mit dem, was schon getan ist, oder mit bloßem Unnützlichem oder wenigstens mit dem, was am unbedeutendsten ist; und dagegen sehe ich kein Mittel, bis die öffentliche Meinung sich bei ruhigeren Zeiten mehr darein mischen wird.

§ 12. Philalethes. Ihre Abschweifungen gewähren so viel Vergnügen wie Vorteil. Von den Wahrscheinlichkeiten der Tatsachen wollen wir aber zu denen der Meinungen über die nicht sinnenfälligen Dinge übergehen. Diese sind keines Zeugnisses fähig; z.B. über das Dasein und Wesen der Geister, Engel, Dämonen usw., über die körperlichen Stoffe, welche auf den Planeten und anderen Wohnplätzen des großen Weltgebäudes vorkommen, endlich über die Wirkungsart der meisten Werke der Natur, und alles dessen, was wir nur mit Vermutungen erfassen können, wobei die Analogie die große Wahrscheinlichkeitsregel ist. Denn da sie nicht bezeugt werden können, so können sie nur insofern wahrscheinlich sein, als sie mit den feststehenden Wahrheiten mehr oder weniger übereinkommen. Wenn die starke Reibung zweier Körper Wärme und selbst Feuer hervorbringt, wenn die Refraktionen durchscheinender Körper Farben erscheinen lassen, so schließen wir, daß das Feuer in einer heftigen Bewegung unsichtbarer Stoffteilchen bestehe, und daß die Farben, deren Ursprung wir nicht bemerken, aus einer ähnlichen Refraktion stammen; und wenn wir finden, daß in allen Teilen der Schöpfung eine stufenweise Verknüpfung herrscht, welche ohne irgend eine beträchtliche Lücke[519] unter sich der menschlichen Beobachtung unterworfen sind, so haben wir alle Ursache zu denken, daß die Dinge sich auch nach und nach und in unmerklichem Grade zur Vollkommenheit erheben. Es ist schwer zu sagen, wo das Empfindende und Vernünftige beginnt, und welches die tiefste Stufe der lebenden Wesen ist, gerade wie in einem regelmäßigen Regel die Größe zu oder abnimmt. Zwischen manchen Menschen und manchen Tieren gibt es einen außerordentlichen Unterschied, aber wenn wir den Verstand und die Fähigkeit mancher anderen Menschen und mancher Tiere vergleichen wollten, würden wir darin so wenig unterschied finden, daß es sehr schwer wäre, sich zu vergewissern, ob der Verstand dieser Menschen stärker oder umfassender sei als solcher Tiere. Wenn wir also eine solche unmerkliche Steigerung zwischen den Teilen der Schöpfung vom Menschen bis zu den niedrigsten Teilen, die unter ihm sind, bemerken, so läßt uns die Regel der Analogie als wahrscheinlich betrachten, daß es eine ähnliche Steigerung in den Dingen gibt, die über uns und außerhalb des Gesichtskreises unserer Beobachtungen sind; und diese Art von Wahrscheinlichkeit ist die große Grundlage vernunftgemäßer Hypothesen.

Theophilus. Auf Grund dieser Analogie urteilt Huygens in seinem Cosmotheoros, daß der Zustand der anderen Hauptplaneten dem des unsrigen ganz ähnlich sei, ausgenommen, daß der verschiedene Abstand der Sonne Verschiedenheit verursachen muß, und darüber hat Herr von Fontenelle, welcher schon früher seine geistvollen und gelehrten Unterhaltungen über die Mehrheit der Welten herausgegeben hatte, hübsche Dinge gesagt und die Kunst erfanden, einen schwierigen Gegenstand angenehm zu machen. Man möchte beinahe sagen, daß es in Harlekins Mondreiche ganz wie hier zugeht. Allerdings urteilt man von den Monden, welche bloß Trabanten sind, ganz anders als von den Hauptplaneten. Kopier hat ein kleines Buch hinterlassen, das über den Zustand des Mondes eine sinnreiche Erdichtung enthält, und ein Engländer von Geist hat die spaßhafte Beschreibung von einem Spanier (seiner Erfindung) gegeben, den die Zugvögel nach dem Monde entführten, Cyranos nicht zu erwähnen, der diesen Spanier nachher holen ging. Einige geistreiche Leute, die vom anderen Leben ein schönes Bild[520] geben wollten, lassen die seligen Geister von Welt zu Welt herumspazieren, und unsere Einbildungskraft findet darin einen Teil der schönen Beschäftigungen, welche man den Geistern zuschreiben kann. Aber welche Mühe sie sich auch geben mag, so zweifle ich doch, daß sie ihren Zweck erreichen kann, wegen des großen Abstandes zwischen uns und jenen Geistern und deren großer Mannigfaltigkeit. Und bis wir Brillen erfinden, welche Descartes uns in Aussicht stellte, um Teile der Mondscheibe nicht größer als unsere Häuser zu unterscheiden, können wir nicht bestimmen, was auf einer von der unsrigen verschiedenen Weltkugel vor sich geht. Nützlicher und wahrheitsgemäßer würden unsere Vermutungen über die inneren Teile irdischer Körper sein.

Ich hoffe, man wird in vielen Fällen über die bloße Vermutung hinauskommen, und glaube schon jetzt, daß wenigstens die heftige Bewegung der Teile des Feuers, welche wir soeben besprochen haben, nicht unter diejenigen Dinge gerechnet werden darf, die nur wahrscheinlich sind. Schade, daß die Hypothese Descartes' über die innere Bildung des sichtbaren Metalls sich durch die seitdem gemachten Untersuchungen und Entdeckungen so wenig bestätigt hat, oder daß Descartes nicht 50 Jahre später gelebt hat, um uns eine ebenso geistvolle Hypothese auf Grund der jetzigen Kenntnisse zu geben, wie die, welche er auf Grund der Kenntnisse seiner Zeit gab.

Was die gradweise Verknüpfung der Arten anbetrifft, so haben wir darüber in einer früheren Unterredung schon etwas gesagt, wo ich bemerkte, daß schon Philosophen über Lücken in den Formen oder Arten Betrachtungen angestellt haben. Alles geht in der Natur stufenweise und nichts sprungweise vor sich, eine Regel hinsichtlich der Veränderungen, die einen Teil meines Gesetzes der Kontinuität ausmacht. Die Schönheit der Natur aber, welche deutliche Wahrnehmungen will, fordert scheinbare Sprünge und sozusagen musikalische Intervalle in den Erscheinungen, und findet ihre Lust daran, die Arten zu vermischen. So hat die Natur, wenngleich es in irgend einer anderen Welt mittlere Arten zwischen Mensch und Tier (je nachdem man den Sinn dieser Worte nimmt) geben mag, und es wahrscheinlich irgendwo vernunftbegabte Wesen, die über uns stehen, gibt, es für[521] gut befunden, sie von uns fernzuhalten, um uns die unstreitige Überlegenheit zu geben, welche wir auf unserem Erdball haben. Ich rede von den Mittelarten und will mich hier nicht auf die menschlichen Individuen, welche sich den Tieren nähern, einlassen, weil dabei offenbar nicht ein Mangel an Vermögen, sondern ein Hindernis der Ausübung ist, dergestalt, daß ich glaube, der einfältigste Mensch (der nicht durch Krankheit oder durch einen anderen, der Krankheit gleichen, dauernden Fehler in einem naturwidrigen Zustande sich befindet) sei unvergleichlich viel vernünftiger und gelehriger als das klügste aller Tiere, obwohl man mitunter aus Scherz das Gegenteil behauptet. Übrigens billige ich sehr die Erforschung der Analogien: die Pflanzen, Insekten und die vergleichende Anatomie der Tiere werden uns deren mehr und mehr liefern, besonders wenn man fortfahren wird, sich des Mikroskops noch mehr als bisher zu bedienen. Und in noch allgemeinerem Sinne wird man finden, daß meine Ansichten über die überall verbreiteten Monaden, über ihre endlose Dauer, über die Erhaltung des lebendigen Wesens mit der Seele, über die in einem gewissen Zustand kaum noch hervortretenden Wahrnehmungen, wie der Tod der einfachen Tiere ein solcher ist, über die der Vernunft gemäß den Geistern zuzuschreibenden Körper, über die Übereinstimmung der Seelen und der Körper, der zufolge ein jeder seinen eigenen Gesetzen vollkommen folgt, ohne durch den anderen gestört zu werden, und ohne daß Freiheit und Unfreiheit dabei unterschieden zu werden brauchen, man wird, sage ich, finden, daß alle diese Ansichten ganz und gar der Analogie der von uns bemerkten Dinge entsprechen, und ich sie nur über unsere Beobachtungen hinaus ausdehne, ohne sie auf bestimmte Teile des Stoffes oder auf bestimmte Arten der Tätigkeit zu beschränken, und daß dabei kein anderer Unterschied obwaltet, als der des Größeren und Kleineren, des Wahrnehmbaren und nicht Wahrnehmbaren.

§ 13. Philalethes. Nichtsdestoweniger gibt es einen Fall, wo wir der durch die Erfahrung erkannten Analogie der natürlichen Dinge weniger Glauben schenken, als dem entgegengesetzten Zeugnisse einer auffallenden, sich davon entfernenden Tatsache. Denn wenn übernatürliche[522] Begebenheiten den Zwecken desjenigen, welcher den Lauf der Natur zu verändern die Macht hat, entsprechen, so haben wir keinen Grund, den Glauben daran zu verweigern, wenn sie wohl bezeugt sind, und das ist der Fall bei den Wundern, welche nicht allein durch sich selbst Glauben finden, sondern ihn auch anderen Wahrheiten mitteilen, die einer solchen Bestätigung bedürfen. § 14. Endlich gibt es ein Zeugnis, welches über jede andere Zustimmung hinausgeht, das ist die Offenbarung also die Bezeugung Gottes, der weder täuschen noch getäuscht werden kann, und die ihr erteilte Beistimmung nennen wir Glauben, welcher allen Zweifel ebenso vollständig ausschließt wie die gewisseste Erkenntnis. Aber der Punkt ist, überzeugt zu sein, daß die Offenbarung göttlich ist, und zu wissen, daß wir deren wahren Sinn begreifen, sonst setzt man sich dem Fanatismus und den Irrtümem einer falschen Auslegung aus, und wenn das Vorhandensein und der Sinn der Offenbarung nur wahrscheinlich ist, so kann die Beistimmung keine größere Wahrscheinlichkeit haben, als die, welche sich in den Beweisen vorfindet. Aber davon wollen wir noch weiter sprechen.

Theophilus. Die Theologen unterscheiden zwischen den Motiven der Glaubhaftigkeit, wie sie sie nennen, nebst der natürlichen Zustimmung, die daraus hervorgehen muß und nicht mehr Wahrscheinlichkeit haben kann, als diese Motive, und zwischen der übernatürlichen Zustimmung, welche eine Wirkung der göttlichen Gnade ist. Man hat eigene Bücher über die Analyse des Glaubens verfaßt, die nicht ganz miteinander übereinstimmen; aber da wir in der Folge davon reden werden, so will ich jetzt nicht vorwegnehmen, was wir an seinem Orte darüber zu sagen haben werden.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 504-523.
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