Kapitel XVII.

Von der Vernunft

[523] § 1. Philalethes. Ehe wir vom Glauben besonders reden, wollen wir von der Vernunft handeln. Sie bezeichnet mitunter klare und wahrhafte Grundsätze, mitunter aus diesen[523] Grundsätzen gezogene Schlüsse und mitunter die Ursache und insbesondere die Zweckursache. Hier wollen wir sie als ein Vermögen betrachten, durch das, wie vorausgesetzt wird, der Mensch sich von den Tieren unterscheidet und worin er sie offenbar bedeutend übertrifft. Wir haben ihrer nötig, sowohl um unsere Erkenntnis zu erweitern, als um unsere Meinung zu regeln, und sie bildet wohlverstanden zwei Vermögen, welche da sind der Scharfsinn, um die Mittelvorstellungen zu finden, und das Vermögen, Schlüsse zu ziehen oder zu schließen. Ferner können wir bei der Vernunft folgende vier Stufen in Betracht ziehen: 1) die Entdeckung der Beweise, 2) die Anordnung derselben, welche deren Verbindung zeigt, 3) das Innewerden der Verbindung in jedem Teile der Beweisführung, 4) das Ziehen des Schlusses daraus. Diese Stufen kann man bei den mathematischen Beweisen beobachten.

Theophilus. Vernunft ist die erkannte Wahrheit, deren Zusammenhang mit einer anderen weniger bekannten bewirkt, daß wir der letzteren beistimmen. Aber besonders und vorzugsweise nennt man das Vernunftgrund, was nicht nur die Ursache unseres Urteils, sondern auch der Wahrheit selbst ist, was man auch Grund a priori nennt; und die Ursache in den Dingen entspricht dem (Vernunft-) Grunde in den Wahrheiten. Darum wird die Ursache oft seihst (Vernunft-) Grund genannt, und in diesem Sinne gebrauchen Sie den Ausdruck hier. Dies Vermögen (der Vernunft) nun ist hienieden dem Menschen allein verliehen und kommt bei anderen irdischen Wesen nicht vor, denn ich habe schon früher gezeigt, daß der Schatten der Vernunft, welcher in den Tieren erscheint, nur die Erwartung eines ähnlichen Vorkommens in einem Falle ist, der einem erlebten gleich scheint, ohne daß erkannt wird, ob derselbe Grund stattfindet. Selbst die Menschen handeln in den Fällen, wo sie bloß Empiriker sind, nicht anders. Aber insofern erheben sie sich über die Tiere, als sie die Zusammenhänge der Wahrheiten sehen, die Zusammenhänge, sage ich, die selbst noch notwendige und allgemeine Wahrheiten bilden. Diese Zusammenhänge sind sogar notwendig, wenn sie auch nur eine Meinung erzeugen, da wo nach einer genauen Untersuchung das[524] Vorwiegen einer Wahrscheinlichkeit, soweit man urteilen kann, nachgewiesen werden kann; so daß alsdann Beweisführung stattfindet, wenn auch nicht hinsichtlich des eigentlichen Sachverhaltes, so doch der Seite, welche die Klugheit zu ergreifen fordert.

Wenn wir dies Vernunftvermögen einteilen, so glaube ich, daß man einer ziemlich allgemein angenommenen Ansicht zufolge nicht übel zwei Teile derselben anerkennt, wonach die Erfindung und das Urteil unterschieden werden. Was die vier in den Beweisführungen der Mathematiker von Ihnen bemerkten Grade betrifft, so finde ich, daß der erste davon, welcher darin besteht, die Beweise zu entdecken, dabei nicht vorkommt, wie doch zu wünschen wäre. Es sind das Synthesen, welche mitunter ohne Analyse gefunden worden sind, und mitunter ist die Analyse unterdrückt worden. Die Geometer setzen in ihren Beweisen zuerst den zu beweisenden Satz, und um zum Beweise zu gelangen, setzen sie das Gegebene durch eine Figur auseinander. Diese nennt man Ekthesis. Danach kommen sie zur Vorbereitung und ziehen neue Linien, deren sie für die Beweisführung bedürfen; und oft besteht die größte Kunst darin, diese Vorbereitung zu finden. Ist dies geschehen, so geben sie die Beweisführung selbst, indem sie aus dem in der Ekthesis Gegebenen und durch die Vorbereitung noch Hinzugefügten die Folgerungen ziehen, und kommen dadurch, daß sie zu diesem Zweck die schon bekannten oder bewiesenen Wahrheiten anwenden, zum Schlußsatz. Es gibt aber Fälle, wo man sich die Ekthesis und die Vorbereitung spart.

§ 4. Philalethes. Man glaubt allgemein, daß der Syllogismus das große Werkzeug der Vernunft und das beste Mittel ist, dies Vermögen auszuüben. Was mich anbetrifft, so zweifle ich daran, denn er dient nur dazu, die Verknüpfung der Beweise in einem einzigen Beispiele und nicht darüber hinaus sehen zu lassen; aber dies sieht der Geist leicht auch ohnedies und vielleicht besser. Auch setzen diejenigen, welche sich der Schlußfiguren und Modi zu bedienen wissen, sehr oft den Nutzen derselben aus einem ungeprüften Glauben an ihre Lehrer voraus, ohne den Grund davon einzusehen. Wenn der Syllogismus notwendig ist, so erkannte vor dessen[525] Erfindung niemand das Geringste aus Vernunft; und man müßte sagen, daß Gott, nachdem er eine zweibeinige Kreatur zum Menschen gemacht, dem Aristoteles die Sorge überlassen hätte, ein vernünftiges Wesen daraus zu machen, ich meine aus derjenigen kleinen Anzahl, die er dazu vermögen konnte, die Begründungen der Syllogismen zu prüfen, wobei von mehr als sechzig Arten, die drei Figuren zu bilden, es nur ungefähr vierzehn sichere gibt. Gott hat jedoch für die Menschen viel mehr Güte gehabt; er hat ihnen einen des Vernunftgebrauches fähigen Geist gegeben. Ich sage dies nicht, um Aristoteles herabzusetzen, den ich als einen der größten Männer des Altertums betrachte, dem wenige an Umfang, Feinheit, Scharfsinn des Geistes und Stärke der Urteilskraft gleichkommen, und der gerade dadurch, daß er jenes kleine System der syllogistischen Formen erfunden hat, den Gelehrten einen großen Dienst gegen diejenigen, welche sich nicht schämen alles zu leugnen, geleistet hat. Jene Formen sind indessen doch weder das einzige noch das beste Mittel zu schließen, und Aristoteles selbst fand sie nicht mittels der Formen selbst, sondern auf dem ursprünglichen Wege der offenbaren Zusammengehörigkeit der Vorstellungen; und die Erkenntnis, welche man dabei durch die natürliche Ordnung in den mathematischen Beweisen erhält, kommt ohne die Hilfe irgend eines Syllogismus besser zum Vorschein.

Schließen heißt: einen Satz aus einem anderen als wahr bereits hingestellten Satz als wahrem ziehen, indem man eine gewisse Verknüpfung von Mittelbegriffen voraussetzt. Daß z.B. die Menschen in der anderen Welt werden gestraft werden, wird man daraus schließen, daß sie sich hienieden selbst bestimmen können. Folgendes ist dabei die Urteilsverknüpfung: Die Menschen werden gestraft werden, und Gott ist derjenige, welcher sie bestraft, also ist die Strafe gerecht, also ist der Gestrafte schuldig, also hätte er anders handeln können, also besitzt er Freiheit, also endlich hat er das Vermögen, sich zu bestimmen. Man sieht hier den Zusammenhang besser, als wenn man daraus fünf oder sechs ineinander verschlungene Schlüsse machte, wo die Vorstellungen transponiert, wiederholt und in künstliche Formen eingepfercht werden. Es handelt sich darum, zu wissen, welche Verknüpfung[526] eine Mittelvorstellung im Schluß mit den beiden äußeren habe, aber das ist der Punkt, den kein Schluß zeigen kann. Der Geist ist es, welcher diese Vorstellungen durch eine Art von Nebeneinanderstellung als sich also verhaltende bemerken kann und zwar durch seinen eigenen Blick, Wozu dient also der Schluß? Er ist in den Schulen von Nutzen, wo man sich nicht scheut, die Übereinstimmung solcher Vorstellungen, die augenscheinlich miteinander übereinkommen, zu leugnen. Woher kommt es, daß die Menschen niemals bei sich selbst Syllogismen machen, wenn sie die Wahrheit suchen oder denen, welche sie aufrichtig zu erkennen wünschen, vortragen? Es ist auch deutlich genug, daß folgende Ordnung natürlicher ist:


Mensch – organisches Wesen – lebendig,


d.h. der Mensch ist ein organisches Wesen und ein organisches Wesen ist lebendig, also ist der Mensch lebendig, als die des Schlusses:


Organisches Wesen = lebendig. Mensch = organisches Wesen. Mensch = lebendig.


d.h. das organische Wesen ist lebendig, der Mensch ist ein organisches Wesen, also ist der Mensch lebendig. Allerdings können die Schlüsse dazu dienen, eine Falschheit zu entdecken, welche sich unter dem blendenden Glanz eines der Rhetorik entlehnten Flitterstaates verbirgt, und ich habe ehemals geglaubt, daß der Schluß notwendig wäre, um sich wenigstens vor den unter blumigem Vortrage verhüllten Sophismen zu hüten, aber nach einer schärferen Prüfung habe ich gefunden, daß man nur die Vorstellungen, von denen der Schlußsatz abhängt, von den übrigen zu trennen und sie in einer natürlichen Ordnung aufzureihen hat, um deren Nichtzusammenhang zu zeigen. Ich habe jemand gekannt, dem die Regeln des Schlusses vollständig unbekannt waren, der aber sofort die Schwäche und die falschen Folgerungen eines langen, künstlichen und annehmbar klingenden Vortrages bemerkte, von welchem andere, in allen Feinheiten der Logik geübte Leute sich hintergehen ließen, und ich glaube, daß es unter meinen Lesern wenige gibt, die solche Personen nicht kennen. Und wenn dies nicht so wäre, so würden die Fürsten bei den Gegenständen, welche ihre Krone und Würde[527] angehen, nicht verfehlen, in den wichtigsten Verhandlungen Schlüsse zur Anwendung zu bringen, wo es doch nach aller Welt Ansicht sich deren zu bedienen etwas Lächerliches wäre. In Asien, Afrika und Amerika hat unter den von den Europäern unabhängigen Völkern fast niemand jemals davon reden hören. Endlich findet sich, um abzuschließen, daß diese scholastischen Formen nicht weniger dem Irrtum unterworfen sind; und selten werden die Leute durch diese scholastische Methode zum Schweigen gebracht und noch seltener überzeugt und gewonnen. Sie würden höchstens anerkennen, daß ihr Gegner geschickter ist, aber darum bleiben sie nichtsdestoweniger von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt. Und wenn man in der Schlußform trügerische Folgen verhüllen kann, so muß der Trug durch irgend ein anderes Mittel als das der Schlußform entdeckt werden können. Indessen bin ich doch nicht der Meinung, daß man die Schlußformen verwerfen noch sich irgend eines Mittels berauben solle, das den Verstand zu unterstützen fähig ist. Es gibt Augen, die Brillen nötig haben; aber wer sich derselben bedient, soll nicht sagen, daß ohne Brille niemand gut sehen kann. Das hieße die Natur zugunsten eines Kunststücks, dem man vielleicht Dank schuldet, zu sehr herabsetzen. Wenn ihnen nicht gerade im Gegenteil begegnet ist, was viele Leute erfahren haben, die sich der Brille zu viel oder zu früh bedienten, so daß sie sich dadurch ihre Augen so verdorben haben, daß sie ohne deren Hilfe nicht mehr sehen konnten.

Theophilus. Ihre Ausführung über den geringen Nutzen des Schlußverfahrens enthält eine Fülle richtiger und schöner Bemerkungen. Man muß es auch zugeben, daß die scholastische Form der Vernunftschlüsse wenig in der Welt angewendet wird, und daß sie zu lang sein und Verwirrung stiften würde, wenn man sie ernstlich anwenden wollte. Und wollen Sie dennoch glauben, daß ich die Erfindung der Schlußform für eine der schönsten und selbst eine der wichtigsten Erfindungen des menschlichen Geistes halte? Sie ist eine Art allgemeiner Mathematik, deren Bedeutsamkeit noch nicht hinlänglich erkannt ist, und man kann sagen, daß sie eine Unfehlbarkeitskunst enthält, wenn man nur, was nicht immer angeht, sich derselben wohl zu bedienen weiß und[528] versteht. Nun muß man wissen, daß ich unter den förmlichen Schlüssen (Argumenten in forma) nicht allein jene scholastische Art des Vernunftverfahrens, deren man sich in den Schulen bedient, verstehe, sondern jedes Räsonnement, das kraft der Form erschließt und wobei man kein Glied zu ergänzen nötig hat, dergestalt, daß ein sogenannter Sorites (Haufenschluß) eine andere syllogistische Reihe, welche die Wiederholung vermeidet, sogar eine wohl aufgestellte Rechnung, eine algebraische Berechnung, eine Infinitesimalanalyse mir allenfalls auch als »Argumente in Form« gelten, weil die Verfahrungsweise dabei in der Art vorher aufgezeigt worden ist, daß man sicher ist, sich darin nicht zu täuschen. Und fast sind auch die Beweise des Euklides meistens förmliche Argumente, denn wenn er scheinbare Enthymeme macht, so wird das unterdrückte Urteil, das zu fehlen scheint, durch Bandverweisung hinzugefügt, wodurch das Mittel geboten wird, jenes Urteil als schon bewiesen zu finden. Dadurch wird eine große Kürze erreicht, ohne daß der Beweiskraft Abbruch geschieht.

Diese Umkehrungen, Zusammensetzungen und Teilungen der Gründe, deren er sich bedient, sind nur Arten von Beweisformen, wie sie den Mathematikern und ihrer Behandlungsweise besonders eigen sind, und sie beweisen diese Formen mit Hilfe der allgemeinen Formen der Logik. Ferner muß man wissen, daß es richtige nicht-syllo-gistische Folgerungen gibt, die man durch keinen Syllogismus streng beweisen kann, ohne die Termini ein wenig zu verändern, und selbst diese Veränderung der Termini ist die nicht-syllogistische Folgerung. Es gibt deren mehrere, wie unter anderen a recto ad obliquum, z.B.: Jesus Christus ist Gott, also ist die Mutter Jesu Christi die Mutter Gottes. Ebenso diejenige, welche gescheite Logiker Umkehrung der Beziehung genannt haben, wie z.B. die Folgerung: Wenn David der Vater Salomons ist, so ist Salomon ohne Zweifel Davids Sohn. Und diese Folgerungen sind ebensogut beweisbar durch die Wahrheiten, von denen die gewöhnlichen Schlüsse abhängen. Diese Schlüsse sind ferner nicht nur kategorisch, sondern auch hypothetisch, wobei die disjunktiven mitinbegriffen sind. Und von den kategorischen kann man sagen, daß sie einfach oder zusammengesetzt sind. Die einfachen[529] kategorischen Schlüsse sind solche, welche man für gewöhnlich aufzählt d.h. nach den Modi der Figuren, und ich habe gefunden, daß die vier Figuren jede sechs Modi haben, so daß es im ganzen 24 Modi gibt. Die vier gewöhnlichen der ersten Figur sind nur das Resultat der Zeichen: Alle, keiner, irgend einer, und die, um nichts auszulassen, hinzugefügten beiden sind nur die Sabalternationen der allgemeinen Sätze. Denn aus den beiden gewöhnlichen Modi: Jedes B ist C, und jedes A ist B, also ist jedes A, C; ebenso kein B ist C, jedes A ist B, also ist kein A, C, kann man folgende zwei zusätzliche Modi machen: Jedes B ist C, jedes A ist B, also ist einiges A, C; ebenso: Kein B ist C, jedes A ist B, also ist einiges A nicht C. Denn es ist nicht nötig, die Subalternation zu beweisen und die Folgerungen daraus darzutun: Jedes A ist C, also ist einiges A, C; ebenso kein A ist C, also ist einiges A nicht C, obschon man sie durch die mit den schon angenommenen Modi der ersten Figur verbundenen identischen Sätzen folgendermaßen dartun kann: Jedes A ist C, einiges A ist A, also ist einiges A, C. Ebenso: kein A ist C, einiges A ist A, also ist einiges A nicht C. Dergestalt werden die zwei zusätzlichen Modi der ersten Figur durch die beiden ersten gewöhnlichen Modi der ersten Figur mit Hilfe der Subalternation bewiesen, welche selbst durch die beiden anderen Modi derselben Figur bewiesen werden. Und auf dieselbe Weise empfängt auch die zweite Figur zwei neue Modi. Die erste und zweite Figur haben deren also sechs; die dritte hat deren sechs von jeher gehabt; bei der vierten gab man deren fünf, aber es findet sich, daß auch sie nach demselben Prinzip der Addition deren sechs hat.

Man muß aber wissen, daß die logische Form uns keineswegs zu jener Ordnung der Sätze zwingt, deren man sich gewöhnlich bedient, und ich bin ganz Ihrer Meinung, daß folgende anderweitige Anordnung besser ist: Jedes A ist B, jedes B ist C, also ist jedes A, C, was besonders durch die Soriten, die eine Kette solcher Schlüsse sind, geschehen würde. Denn es kam noch einer vor: Jedes A ist C, jedes C ist D, also ist jedes A, D. Man kann aus diesen beiden Schlüssen eine Kette machen, welche die Wiederholung durch folgende Fassung vermeidet: Jedes A ist B, jedes B ist C, jedes C ist D, also[530] ist jedes A, D, wo man sieht, daß der unnütze Satz: jedes A ist C, ausgelassen, und die unnütze Wiederholung dieses nämlichen Satzes, den die beiden Schlüsse forderten, vermieden worden ist, denn dieser Satz ist nunmehr unnütz, und die Kette bildet ein vollständiges und formell richtiges Argument ohne diesen selbigen Satz, wenn die Beweiskraft der Schlußkette ein für allemal mittels dieser beiden Syllogismen bewiesen worden ist. Es gibt noch eine unendliche Menge anderer mehr zusammengesetzter Schlußketten, nicht allein, weil eine größere Zahl einfacher Schlüsse dazu gehört, sondern auch, weil die sie bildenden Schlüsse unter sich verschiedener sind, denn man kann nicht allein kategorische Schlüsse hineinziehen, sondern auch kopulative, und nicht bloß kategorische, sondern auch hypothetische, und nicht bloß förmliche Schlüsse, sondern auch Enthymeme, wobei die für evident gehaltenen Sätze unterdrückt sind. Alles dies nun, zusammengenommen mit nicht-syllogistischen Folgerungen und mit zahlreichen Wendungen und Gedanken, welche durch die natürliche Neigung des Geistes zur Abkürzung und durch die teilweise im Gebrauch der Partikeln erscheinenden Spracheigentümlichkeiten diese Sätze verhüllen, ergibt eine Kette des Vertrages, welche selbst die ganze Argumentation eines Redners darstellen würde; aber ihrer Zieraten entkleidet und beraubt und auf die logische Form zurückgeführt, nicht auf scholastische Weise, jedoch immer genügend, um die Beweiskraft nach den Gesetzen der Logik zu erkennen. Diese sind keine anderen als die des gesunden Menschenverstandes, die man in Ordnung gebracht und aufgeschrieben hat; sie unterscheiden sich davon nicht mehr, als das Gewohnheitsrecht einer Provinz sich von dem früheren unterscheidet, als es aus nicht Geschriebenem ein Geschriebenes wurde, was geschah, damit es sich auf einmal besser übersehen lasse und dadurch mehr Licht gebe, wenn es vorgebracht und angewendet wird. Denn der natürliche gesunde Menschenverstand wird, mit der Analyse eines Räsonnements beschäftigt, ohne Hilfe der Kunst mitunter ein wenig wegen der Geltung der Folgerungen in Verlegenheit sein, wenn er z.B. solche findet, die einen zwar gültigen, aber gewöhnlich minder gebrauchten Modus enthalten. Wenn aber ein Logiker verlangte, man solle sich einer solchen Reihe[531] nicht bedienen, oder sich derselben selbst nicht bedienen wollte unter dem Vorwande, daß man alle zusammengesetzten Beweise stets auf einfache Schlüsse, von denen jene in der Tat abhangen, zurückführen müsse, so würde er nach dem von mir schon Bemerkten wie jemand sein, welcher die Handelsleute zwingen wollte, von denen er etwas kauft, ihm die Zahlen eine nach der anderen vorzuzählen, wie man an den Fingern abzählt oder die Stunden nach der Stadtuhr zählt. Es würde das seine Beschränktheit anzeigen, wenn er nicht anders rechnen und nur an den Fingern finden könnte, daß 5 und 3 8 ausmachen, oder es würde gar seinen Eigensinn zeigen, wenn er diese Abkürzungen kennte und sich derselben nicht bedienen oder nicht erlauben wollte, sie anzuwenden. Er würde auch wie jemand sein, der nicht zulassen wollte, daß man die Grundsätze und schon bewiesenen Lehrsätze anwendete unter dem Vorgeben, man müsse jedes Räsonnement stets auf die ersten Prinzipien zurückführen, wo der unmittelbare Zusammenhang der Vorstellungen, von der in der Tat die Mittelsätze abhängen, erscheint.

Nachdem ich den Nutzen der logischen Formen auf die Art, wie er meiner Ansicht nach gefaßt werden muß, erklärt habe, komme ich zu Ihren Betrachtungen. Da sehe ich nun nicht ein, daß der Schluß, wie Sie wollen, nur dazu diene, die Verknüpfung der Beweise in einem einzigen Beispiel zu zeigen. Daß der Geist die Folgerungen stets leicht übersieht, wird man nicht nachweisen können, denn es kommen deren mitunter vor – wenigstens in den Beweisführungen anderer – wo man anfangs zu zweifeln veranlaßt ist, so lange man den eigentlichen Beweis noch nicht durchschaut. In der Regel bedient man sich der Beispiele, um die Folgerungen zu rechtfertigen, das ist aber nicht immer hinlänglich sicher, obwohl es eine Kunst gibt, Beispiele zu wählen, die sich, wenn die Folgerung nicht richtig wäre, als unrichtig ausweisen würden, ich glaube, daß in gut geleiteten Schulen es nicht erlaubt sein wird, schamloserweise offenbare Folgerungen aus den Vorstellungen abzuleugnen, und man wendet meiner Ansicht nach nicht das Schlußverfahren an, um sie darzutun. Wenigstens ist das nicht sein einziger und hauptsächlicher Gebrauch. Man wird öfter, als man denkt, finden, wenn man die[532] Fehlschlüsse der Schriftsteller prüft, daß sie gegen die Regeln der Logik gefehlt haben, und ich habe es selbst mitunter erfahren, sogar wenn ich schriftlich mit redlichen Männern stritt, daß man sich erst zu verständigen anfing, wenn man in förmlichen Schlüssen argumentierte, um ein Chaos von Räsonnements zu entwirren. Es wäre ohne Zweifel lächerlich, in wichtigen Verhandlungen auf scholastische Art mit Schlüssen zu verfahren, denn die Weitschweifigkeiten dieser Art des Räsonnements sind widerwärtig und verwirrend, und es wäre das, wie an den Fingern zu zählen. Indessen ist es aber nur zu wahr, daß die Menschen in den wichtigsten Verhandlungen, die das Leben, den Staat und die Seligkeit betreffen, sich oft durch das Gewicht der Autorität, durch den Glanz der Beredsamkeit, durch schlecht angebrachte Beispiele, durch Enthymeme, welche fälschlich die Evidenz des von ihnen Nichtausgedrückten voraussetzen, und selbst durch unrichtige Folgerungen verblenden lassen, so daß eine strenge Logik, aber von einem anderen Gepräge als die schulmäßige, ihnen nur zu notwendig wäre – unter anderem, um zu entscheiden, auf welcher Seite die größte Wahrscheinlichkeit ist. Daß übrigens der gemeine Mann die künstliche Logik nicht kennt und trotzdem richtig und mitunter besser, als die in der Logik Geübten zu schließen weiß, beweist deren Überflüssigkeit ebensowenig, als man die der künstlichen Arithmetik damit beweisen kann, daß man manche Leute bei gewöhnlichen Vorfällen gut rechnen sieht, ohne daß sie lesen oder schreiben gelernt haben, und die, ohne die Feder oder Zahlpfennige führen zu können, sogar die Fehler eines anderen, der zu rechnen gelernt hat, sich aber in den Zahlzeichen oder Merkzeichen versehen oder verwirren mag, verbessern können.

Allerdings können die Schlüsse auch sophistisch werden, aber dies zu entdecken dienen dann ihre eigenen Gesetze; auch bekehren und überzeugen die Schlüsse selbst nicht immer, aber es kommt dies daher, daß der Mißbrauch der falsch verstandenen Unterscheidungen und Ausdrücke den Gebrauch derselben so weitläufig macht, daß es unerträglich wird, wenn man es bis zum Ende durchführen sollte.

Mir bleibt jetzt nur übrig, Ihr Argument in Betracht zu ziehen und zu ergänzen, welches Sie angeführt haben,[533] um als Beispiel eines klaren Schlußverfahrens ohne logische Form in dienen. Gott straft den Menschen (dies ist eine angenommene Tatsache), Gott straft den, welchen er straft, gerecht (dies ist eine Vernunftwahrheit, welche man als bewiesen annehmen kann), also straft Gott den Menschen gerecht (das ist eine schlußgemäße Folgerung, welche aber anschlußmäßig a recto ad obliquum ausgedehnt wird), also wird der Mensch gerecht bestraft (dies ist eine Umkehrung der Relation, welche man aber ihrer Evidenz wegen ausläßt), also ist der Mensch schuldig (dies ist ein Enthymem, wobei man folgenden Satz, der in der Tat nur eine Definition ist, ausläßt: der, welchen man gerecht straft, ist schuldig), also hätte der Mensch anders handeln können (man läßt den Satz aus: der, welcher schuldig ist, hätte anders handeln können), also ist der Mensch frei gewesen (man läßt ferner aus: wer anders hätte handeln können, ist frei gewesen), also (nach der Definition des Freien) hat er die Macht gehabt, sich selbst zu bestimmen. Dies war zu beweisen. Ich bemerke noch, daß jenes »Also« selbst in der Tat sowohl den mit darunter verstandenen Satz (daß der, welcher frei ist, die Macht der Selbstbestimmung hat) einschließt, und die Wiederholung der Begriffe zu vermeiden dient. Und in diesem Sinne ist darin nichts ausgelassen, und könnte das Argument insofern als vollständig gelten. Man sieht, dasselbe ist eine Schlußreihe, welche der Logik gänzlich entspricht; denn ich will jetzt nicht den Inhalt dieses Räsonnements in Betracht ziehen, wo es vielleicht Bemerkungen zu machen oder Aufklärungen zu verlangen gibt. Wenn z.B. ein Mensch nicht anders handeln kann, gibt es Fälle, wo er doch vor Gott schuldig sein kann, wie wenn es ihm lieb wäre, seinem Nächsten nicht helfen zu können, um eine Entschuldigung zu haben. Ich gestehe schließlich, daß die scholastische Form des Schlußverfahrens gewöhnlich unbequem, ungenügend, schlecht zu handhaben ist, aber ich behaupte zugleich, daß es nichts Wichtigeres gibt, als die Kunst, der wahren Logik gemäß förmlich zu argumentieren d.h. vollständig dem Inhalt nach und klar der Ordnung und Gültigkeit der Folgerungen nach, mögen sie an sich evident oder vorher bewiesen sein.[534]

§ 5. Philalethes. Ich glaubte, daß der Schluß noch weniger nützlich oder vielmehr ohne allen Nutzen bei dem Wahrscheinlichen sei, weil er nur ein einziges topisches Argument zutage fördert. Aber jetzt sehe ich ein, daß man das, was im topischen Argument selbst Sicheres ist, d.h. die darin liegende Wahrscheinlichkeit, immer gründlich beweisen muß, und daß die Kraft der Folgerung auf der Form beruht. § 6. Wenn indessen die Schlüsse dem Urteile dienen, so zweifle ich doch, daß sie zur Erfindung dienen können d.h. dazu, Beweise zu finden und neue Entdeckungen zu machen. Ich glaube z.B. nicht, daß die Entdeckung des 47. Lehrsatzes des ersten Buches von Euklid den Regeln der gewöhnlichen Logik verdankt wird, denn zuerst erkennt man, und dann ist man imstande, in syllogistischer Form zu beweisen.

Theophilus. Begreift man unter den Schlüssen auch die Schlußreihen und alles, was ich förmliche Argumentation genannt habe, so kann man sagen, daß die Erkenntnis, welche nicht an sich evident ist, durch die Folgerungen erlangt wird, welche nur richtig sind, wenn sie ihre gebührende Form haben. Beim Beweis des genannten Satzes, welcher das Quadrat der Hypotenuse den beiden Quadraten der Seiten gleich erklärt, teilt man das große Quadrat in Stücke und auch die beiden kleineren, und es findet sich dann, daß die Stücke der beiden kleinen Quadrate gerade ganz auf das große gehen, nicht mehr oder weniger. Das heißt die Gleichheit förmlich beweisen; und die Gleichheiten der Stücke werden auch durch Gründe in gültiger Form bewiesen. Nach Pappus bestand die Analyse der Alten darin, das anzunehmen, was man verlangt, und so lange Folgerungen daraus zu ziehen, bis man zu etwas Gegebenem oder Erkanntem kommt. Ich habe bemerkt, daß zu diesem Zweck die Sätze reziprok sein müssen, damit der synthetische Beweis auf den Spuren der Analyse wieder rückwärts geführt werden könne, aber es ist das immer ein Ziehen von Folgerungen. Indessen wird hier zu bemerken gut sein, daß bei den astronomischen oder physischen Hypothesen die Umkehrung nicht statthat, aber da beweist der Erfolg auch nicht die Wahrheit der Hypothese. Er macht sie allerdings wahrscheinlich, aber weil diese Wahrscheinlichkeit gegen die Regel der Logik zu verstoßen scheint, wonach Wahres[535] aus Falschem erschlossen werden kann, so wird man sagen, daß die logischen Regeln bei den Wahrscheinlichkeitsfragen nicht durchweg Geltung haben. Ich antworte, es sei zwar möglich, daß Wahres aus Falschem geschlossen werde, aber nicht immer wahrscheinlich, besonders wenn eine einfache Voraussetzung den Grund von vielen Wahrheiten angibt; ein freilich seltener und schwer zu findender Fall. Man könnte mit Cardanus sagen, daß die Logik des Wahrscheinlichen andere Folgerungen zieht, als die Logik der notwendigen Wahrheiten. Es muß aber die Wahrscheinlichkeit selbst dieser Folgerungen aus den Folgerungen der Logik des Notwendigen bewiesen werden.

§ 3. Philalethes. Sie scheinen die Verteidigung der gemeinen Logik zu führen, aber ich sehe wohl, daß, was Sie vorbringen, einer höheren Logik angehört, zu der sich die gemeine verhält, wie das ABC zur Wissenschaft. Mich erinnert das an eine Stelle des scharfsinnigen Hooker, welcher in seinem Buche, die Kirchenpolitik betitelt, Buch I, § 6, die Überzeugung ausspricht, daß, wenn man die rechten Hilfsmittel des Wissens und der Kunst des Räsonnements liefern könnte, welche man im gegenwärtigen für aufgeklärt geltenden Zeitalter nicht besonders kennt und sich auch nicht sehr zu erreichen bestrebt, hinsichts der Gründlichkeit des Urteils zwischen denen, welche sich derselben bedienen würden, und dem, was die Menschen jetzt sind, ein ebenso großer Unterschied sein würde, wie zwischen den jetzigen Menschen und den Schwachsinnigen. Ich wünsche, daß unsere Unterhaltung jemand Gelegenheit gäbe, diese wahren Hilfsmittel derjenigen Kunst zu finden, von welcher jener große Mann redet, welcher einen so durchdringenden Geist hatte. Das werden nicht die Nachahmer sein, welche wie das Vieh dem betretenen Wege (imiatores servum pecus) folgen. Dennoch wage ich zu behaupten, daß es in diesem Jahrhundert Männer von so starkem Urteile und so großem Umfange des Geistes gibt, daß sie behufs des Fortschritts der Erkenntnis neue Wege eröffnen könnten, wenn sie sich die Mühe nehmen wollten, ihre Gedanken diesem Gegenstande zuzuwenden.

Theophilus. Sie haben mit dem verstorbenen Hooker richtig bemerkt, daß die Welt sich gar wenig darum[536] kümmert; übrigens glaube ich, daß es Leute gegeben hat und noch gibt, welche darin etwas zu leisten imstande sind. Man muß indessen gestehen, daß wir gegenwärtig bedeutende Hilfe sowohl seitens der Mathematik als der Philosophie erhalten, wobei der »Versuch über den menschlichen Verstand« von Ihrem ausgezeichneten Freunde nicht die kleinste ist. Wir wollen sehen, ob wir nicht daraus Nutzen ziehen können.

§ 8. Philalethes. Ich muß Ihnen noch einmal sagen, daß ich geglaubt habe, es sei darin eine sichtliche Mißachtung der syllogistischen Regeln bemerkbar, aber seit unserem Gespräche haben Sie mich wankend gemacht. Gleichwohl will ich Ihnen mein Bedenken dartun. Man sagt, kein syllogistisches Verfahren könne die Kraft des Schlusses haben, wenn es nicht wenigstens einen allgemeinen Satz enthält. Nun gibt es aber offenbar nur besondere Dinge, welche der unmittelbare Gegenstand unserer Räsonnements und Erkenntnisse sind; diese beschäftigen sich nur mit der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen, von denen jede nur ein besonderes Dasein hat und nur ein einzelnes Ding darstellt.

Theophilus. Indem Sie sich die Ähnlichkeit der Dinge vorstellen, denken Sie sich noch etwas mehr dabei, und nur darin besteht eben die Allgemeinheit Sie werden nimmermehr eines unserer Argumente vorbringen können, ohne dabei allgemeine Wahrheiten anzuwenden. Gleichwohl ist wichtig zu bemerken, daß man hinsichtlich der Form die besonderen Sätze unter die allgemeinen begreift. Denn obwohl in Wahrheit es nur einen Apostel Petrus gegeben hat, so kann man doch sagen, daß wer auch immer der Apostel Petrus gewesen ist, dieser seinen Herrn und Meister verleugnet hat. Man fällt daher das Urteil, daß der Schluß: »Petrus hat seinen Herrn und Meister verleugnet; Petrus ist Jünger gewesen, also hat ein Jünger seinen Herrn und Meister verleugnet«, obgleich er nur besondere Sätze enthält, sie als allgemein bejahende enthält, und unter den Modus Darapti der dritten Figur fällt.

Philalethes. Ich wollte Ihnen noch sagen, daß es mir besser schiene, die Prämissen der Syllogismen zu versetzen und zu sagen: Jedes A ist B, jedes B ist C, also ist jedes[537] A, C; als zu sagen: jedes B ist C, jedes A ist B, also ist jedes A, C. Nach dem, was Sie gesagt haben, scheint es aber, daß man sich nicht davon entfernt und das eine wie das andere zu demselben Modus zählt. Allerdings ist, wie Sie bemerkt haben, die davon abweichende Einteilung der gewöhnlichen Logik mehr dazu geeignet, eine Kette von mehreren Syllogismen zu bilden.

Theophilus. Ich bin durchaus Ihrer Ansicht. Man scheint indessen geglaubt zu haben, daß es für den Lehrzweck besser sei, mit allgemeinen Sätzen anzufangen, wie die Obersätze in der ersten und zweiten Figur sind, und es gibt auch Redner, die diese Gewohnheit haben. Aber der Zusammenhang erscheint doch besser so, wie Sie es uns darstellen. Ich habe früher schon bemerkt, daß Aristoteles einen besonderen Grund für die gewöhnliche Einteilung gehabt haben kann. Denn statt zu sagen: A ist B, sagt er gewöhnlich: B ist in A. Und von dieser Art des Urteils ans könnte die von Ihnen verlangte Begriffsverbindung in die gebräuchliche Stellung von ihm eingeführt werden. Denn statt z.B. zu sagen: B ist C, A ist B, also ist A, C, würde er sagen: C ist in B, B ist in A, also ist C in A. Z.B. statt zu sagen: Das Rechteck ist isogon (oder hat gleiche Winkel), das Quadrat ist ein Rechteck, folglich ist das Quadrat isogon, wird Aristoteles, ohne die Sätze umzustellen, dem Medius terminus durch folgende Art die Sätze auszusprechen, welche die Termini umstellt, die Mittelstelle erhalten und sagen: Das Isogon ist ein Rechteck, das Rechteck ist ein Quadrat, also ist das Isogon ein Quadrat. Auch ist diese Art der Urteilsbildung nicht zu verachten, denn in der Tat ist das Prädikat im Subjekt oder auch die Vorstellung des Prädikats in der des Subjekts inbegriffen. Z.B. das Isogon ist ein Rechteck, denn das Rechteck ist diejenige Figur, deren sämtliche Winkel rechte sind; nun sind alle rechten Winkel einander gleich, also ist in der Vorstellung des Rechtecks die einer Figur inbegriffen, von der alle Winkel gleich sind, was eben die Vorstellung des Isogonen ist. Die gewöhnliche Art der Urteilsstellung nimmt mehr auf die Individuen Rücksicht, die des Aristoteles dagegen berücksichtigt mehr die Vorstellungen oder Allgemeinheiten. Denn, sage ich: Jeder Mensch ist ein lebendes Wesen, so will ich sagen, daß alle[538] Menschen unter die lebenden Wesen fallen, aber ich verstehe zugleich darunter, daß die Vorstellung des lebenden Wesens in der des Menschen inbegriffen ist. Lebendes Wesen umfaßt mehr Individuen als Mensch, aber Mensch umfaßt mehr Vorstellungen oder mehr Formelles; das eine hat mehr Exemplare, der andere mehr Realitätsstufen; das eine hat mehr Umfang, das andere mehr Inhalt. Man kann auch der Wahrheit gemäß sagen, daß die ganze Lehre vom Schluß durch die Lehre de continente et contento d.h. von dem Enthaltenden und dem Enthaltenen, bewiesen werden könnte, welche von der Lehre vom Ganzen und Teil verschieden ist, denn das Ganze ist immer größer als der Teil, aber das Enthaltende und das Enthaltene sind sich mitunter gleich, wie in den reziproken Sätzen der Fall ist.

§ 9. Philalethes. Ich fange an, mir eine ganz andere Vorstellung von der Logik zu bilden, als ich früher hatte. Ich nahm sie für ein Schülerspiel, aber sehe jetzt, daß auf die Art, wie Sie sie verstehen, eine allgemeine Mathematik darin enthalten ist. Gebe Gott, daß man sie noch zu etwas mehr mache, als sie jetzt ist, damit wir darin jene wahren Hilfsmittel der Vernunft finden können, von denen Hooker sprach, welche die Menschen über ihren gegenwärtigen Zustand hinausheben würden. Und die Vernunft ist ein Vermögen, welches deren um so mehr bedarf, als ihr Umfang recht beschränkt ist, und sie uns bei vielen Gelegenheiten im Stich läßt. Dies ist der Fall: 1) weil uns oft schon die Vorstellungen fehlen, (§ 10) und dann 2) sind diese oft dunkel und unvollkommen, während wir da, wo sie klar und bestimmt sind, wie bei den Zahlen, keine unübersteiglichen Schwierigkeiten finden und in keinen Widerspruch geraten. § 11. Ferner kommt 3) die Schwierigkeit oft davon, daß uns die Mittelbegriffe fehlen. Man weiß, wie vor der Entdeckung der Algebra, dieses großen Werkzeuges und dieser ausgezeichneten Probe des menschlichen Scharfsinns, die Menschen manche Beweise der alten Mathematiker mit Staunen betrachteten. § 12. Auch das kommt vor, daß man auf falschen Grundsätzen fußt, was in Schwierigkeiten bringen kann, wo die Vernunft mehr verwirrt als aufklärt. § 13. Endlich setzen auch die Ausdrücke von unbestimmter Bedeutung die Vernunft in Verlegenheit.

[539] Theophilus. Ich weiß nicht, ob wir so wenig Vorstellungen haben, als man glaubt, d.h. deutliche Vorstellungen. Was die verworrenen Vorstellungen oder vielmehr Bilder oder, wenn Sie wollen, Eindrücke betrifft, wie Farben, Geschmäcke usw., die ein Resultat mehrerer unbedeutender an sich deutlicher Vorstellungen sind, die man aber nicht deutlich wahrnimmt, so haben wir deren unzählige nicht, die vielmehr anderen Geschöpfen mehr als uns zukommen. Aber diese Eindrücke dienen auch mehr dazu, uns Triebe zu erwecken und Erfahrungsbeobachtungen zu begründen, als der Vernunft Stoff zu liefern, es sei denn, daß sie von deutlichen Wahrnehmungen begleitet sind. Also hält uns hauptsächlich die mangelhafte Erkenntnis dieser zwar deutlichen, aber mit den verworrenen vermischten Vorstellungen auf, und selbst wenn unseren Sinnen oder unserem Geiste alles bestimmt dargelegt worden ist, verwirrt uns mitunter die Masse der in Betracht zu ziehenden Dinge. Wenn man z.B. einen Haufen von 1000 Kugeln vor Augen hat, so dient offenbar, um die Zahl und die Eigenschaften dieser Masse zu übersehen, viel dazu, sie in Figuren zu ordnen, wie man in den Magazinen tut, um deutliche Vorstellungen davon zu haben, und sie sogar dergestalt festzustellen, daß man sich die Mühe ersparen kann, sie mehr als einmal zu zählen. Die Menge der Erwägungen gerade macht auch, daß sogar in der Wissenschaft der Zahlen sehr große Schwierigkeiten vorkommen, denn man sucht darin nach Abkürzungen und weiß mitunter nicht, ob die Natur in ihren geheimen Tiefen deren für den Fall hat, um den es sich handelt. Gibt es z.B. dem Anschein nach etwas Einfacheres als den Begriff der Primzahl? d.h. der ganzen, durch keine andere, ausgenommen durch die Einheit und sie selbst, teilbaren Zahl. Dennoch sucht man noch immer nach einem positiven und leichten Merkmal, um sie sicher zu erkennen, ohne die Grunddivisoren anzuwenden, welche kleiner sind, als die Quadratwurzel der gegebenen Primzahl. Es gibt eine Menge Merkmale, welche ohne viel Rechnen zeigen, daß irgend eine Zahl keine Primzahl ist, aber man verlangt eines, das leicht und sicher anzeigt, daß eine Zahl eine Primzahl ist, wenn sie eine ist. Aus diesem Grunde ist die Algebra noch so unvollkommen, obgleich es nichts[540] besser Bekanntes gibt, als die von ihr gebrauchten Vorstellungen, weil sie nur die Zahlen im allgemeinen bezeichnen; denn bis jetzt ist noch keine Methode bekannt, die irrationalen Wurzeln irgend einer Gleichung über den 4. Grad hinaus (einen sehr beschränkten Fall ausgenommen) auszuziehen. Auch sind die Methoden, deren sich Diophantes, Scipio, Du Fer und Louis von Ferrara hinsichtlich des zweiten, dritten und vierten Grades bedient haben, um sie auf den ersten zurückzubringen, oder um eine unreine Gleichung in eine reine zu verwandeln, alle untereinander verschieden, d.h. diejenige, welche für einen Grad gilt, ist um einen Grad von der, welche für einen anderen gilt, verschieden. Denn der zweite Grad oder der der quadratischen Gleichung wird dadurch auf den ersten zurückgeführt, daß man nur das zweite Glied aufhebt. Der dritte Grad oder der der kubischen Gleichung wird dadurch gelöst, daß durch die Zerlegung des Unbekannten in Teile glücklicherweise eine Gleichung des zweiten Grades sich herausbringen läßt. Und im vierten Grad oder bei den biquadratischen Gleichungen fügt man beiden Seiten der Gleichung etwas hinzu, um sie hier und dort ausziehbar zu machen, und glücklicherweise findet sich, daß man, um zu diesem Zweck zu gelangen, nur eine kubische Gleichung nötig hat. Aber dies alles ist nur eine Mischung von Glück und Zufall mit der Kunst oder Methode; und wenn man bei den beiden letzteren Graden einen Versuch anstellt, bleibt es ungewiß, ob er gelingt. Auch ist noch ein anderer Kunstgriff nötig, um im fünften oder sechsten Grade zum Ziel zu kommen, der sich auf die des vierten und die bikubischen Gleichungen bezieht; und obwohl Descartes geglaubt hat, die Methode, deren er sich beim vierten Grade bediente, indem er nämlich die Gleichung als aus zwei anderen quadratischen Gleichungen entstanden betrachtet, (die aber im Grunde nicht mehr leisten kann, als die des Louis von Ferrara), würde auch beim sechsten gelingen, so ist dies doch ein Fehlgriff gewesen. Diese Schwierigkeit zeigt, daß auch die klarsten und bestimmtesten Vorstellungen uns nicht immer alles geben, was man verlangt und daraus gewinnen kann. Und dies begründet auch das Urteil, daß die Algebra weit entfernt ist, die Erfindungskunst zu sein, weil sie selbst einer noch[541] allgemeineren Kunst bedarf; und man kann sogar sagen, daß die Kunst der Zeichen im allgemeinen, d.h. die Kunst der Charaktere, ein ganz außerordentliches Hilfsmittel ist, weil sie die Phantasie unterstützt.

Man kann nicht zweifeln, daß die Alten etwas dieser Art gehabt haben, wenn man die Arithmetik des Diophantes und die geometrischen Bücher des Apollonius und Pappus sieht. Vieta hat ihr eine größere Ausdehnung gegeben, indem er nicht nur das Gesuchte, sondern auch die gegebenen Zahlen durch allgemeine Charaktere ausdrückte und so beim Rechnen es ebenso machte, wie schon Euklid beim Beweisen; und Descartes hat die Anwendung dieser Rechnung auf die Geometrie ausgedehnt, indem er die Linien durch die Gleichungen bezeichnete. Jedoch noch nach der Entdeckung unserer modernen Algebra betrachtete Bouillaud (Ismael Bullialdus), ein ohne Zweifel ausgezeichneter Mathematiker, welchen ich noch zu Paris gekannt habe, nur mit Bewunderung des Archimedes Beweisführungen über die Spirale und konnte nicht begreifen, wie dieser große Mann darauf gekommen war, die Tangente dieser Linie zur Dimension des Kreises zu gebrauchen. Der Pater Gregor von St. Vincent scheint es durch richtige Vermutung gefunden zu haben, indem er annahm, daß er durch den Parallelismus der Spirale mit der Parabel darauf gekommen sei. Aber diese Methode ist nur eine spezielle, während die neue Infinitesimalrechnung, welche mittels der Differenzen fortschreitet, auf welche ich gekommen bin und welche ich mit Erfolg veröffentlicht habe, einen allgemeinen Weg angibt, dem gegenüber jene Entdeckung durch die Spirale nur ein Spiel und ein ganz leichter Versuch ist, wie fast alles, was man bisher über die Dimensionen der krummen Linien gefunden hatte. Der Vorteil dieser neuen Rechnungsart besteht noch darin, daß sie die Phantasie bei den Problemen aus dem Spiel bringt, welche Descartes unter dem Vorwande aus seiner Geometrie ausgeschlossen hatte, daß sie größtenteils zur Mechanik führten, im Grunde aber, weil sie auf seine Rechnung nicht paßten. Was die Irrtümer anbetrifft, welche aus zweideutigen Ausdrücken entstehen, so hängt es von uns ab, sie zu vermeiden.

Philalethes. Es gibt noch einen Fall, wo die Vernunft nicht angewandt werden kann, aber wo man sie auch[542] nicht nötig hat, und wo der Blick mehr gilt, als die Vernunft. Dies ist bei der intuitiven Erkenntnis der Fall, wo der Zusammenhang der Vorstellungen und Wahrheiten unmittelbar angeschaut wird. Eine solche ist die Erkenntnis der unzweifelhaften Grundsätze, und ich bin zu glauben versucht, daß dies derjenige Grad der Evidenz ist, welchen die Engel schon jetzt haben, und den die Geister der zur Vollendung gelangten Gerechten in einem zukünftigen Stande über Unzähliges, was gegenwärtig unserem Verstande entgeht, haben werden. § 15. Aber das Beweisverfahren, welches sich auf Mittelbegriffe gründet, gibt eine Vernunfterkenntnis. Diese vollzieht sich nämlich durch den notwendigen Zusammenhang eines Mittelbegriffs mit den äußeren und wird durch den Zusatz (Juxtaposition) einer Evidenz erreicht, ähnlich wie der einer Elle ist, welche man bald an dies Stück Tuch, bald an jenes anlegt, um deren Gleichheit zu zeigen. § 16. Wenn aber der Zusammenhang nur wahrscheinlich ist, so ergibt das Urteil nur eine Meinung.

Theophilus. Gott allein hat den Vorzug, nur intuitive Erkenntnisse zu haben. Die seligen Geister aber, wenn sie auch von unseren groben Körpern losgelöst sind, und selbst die Genien, mögen sie noch so erhaben sein, müssen, trotzdem sie eine unvergleichlich intuitivere Erkenntnis als wir haben und oft mit einem Blicke durchschauen, was wir nur auf Grund von Folgerungen mit der Zeit und mit Mühe finden, doch auch auf ihrem Erkenntniswege Schwierigkeiten finden, ohne welche sie nicht die Lust haben würden, Entdeckungen zu machen, welche zu den größten gehört. Und immer muß man anerkennen, daß es eine unzählige Menge Wahrheiten gibt, die ihnen entweder gänzlich oder zeitweise verborgen sind, zu denen sie mittelst Folgerungen und durch die Beweisführung oder oft selbst durch Vermutung gelangen.

Philalethes. Also sind diese Genien nur Wesen wie wir, bloß vollkommener; es ist, als ob Sie mit dem Kaiser im Monde sagen wollten: Alles ist so wie hier.

Theophilus. Das will ich auch sagen, zwar nicht ganz und gar so, aber was den Grund der Dinge anbetrifft, denn die Arten und Stufen der Vollkommenheit sind bis ins Unendliche verschieden. Der Grund ist indessen überall derselbe, was in meinem System der Hauptgrundsatz[543] ist und meine ganze Philosophie beherrscht. Auch begreife ich die unbekannten oder nur verworren bekannten Dinge nur nach Maßgabe derer, welche deutlich bekannt sind, was die Philosophie leicht macht und meiner Überzeugung nach so gebraucht werden muß; wenn aber diese Philosophie in der Grundlage die einfachste ist, so ist sie auch in den Einzelheiten die reichste, weil die Natur diese ins Unendliche abändern kann, wie sie auch wirklich mit so viel Fülle, Ordnung und Zieraten tut, als man sich nur vorstellen kann. Aus diesem Grunde glaube ich, daß es keinen auch noch so erhabenen Geist gibt, welcher nicht unendlich viel andere über sich hat. Obschon wir nun aber so vielen vernünftigen Wesen nachstehen, so haben wir doch den Vorteil, auf diesem unserem Erdballe, wo wir ohne Widerrede den ersten Rang einnehmen, nicht auf sichtbare Weise überwacht zu werden; wir haben bei aller Unwissenheit, in der wir stecken, immerhin das Vergnügen, nichts zu erblicken, was uns übertrifft. Und wenn wir eitel wären, könnten wir wie Cäsar denken, welcher lieber der Erste in einem Flecken als in Rom der Zweite sein wollte. Übrigens rede ich hier nur von den natürlichen Erkenntnissen dieser Geister, und nicht von dem beseligenden Gesicht oder von den übernatürlichen Erleuchtungen, welche ihnen Gott gewähren kann.

§ 10. Philalethes. Da ein jeder seine Vernunft entweder für sich allein oder einem anderen gegenüber gebraucht, so wird es nicht überflüssig sein, einige Betrachtungen über vier Arten von Argumenten anzustellen, deren sich die Menschen zu bedienen pflegen, um die anderen für ihre Ansicht zu gewinnen oder sie wenigstens in einer Art von Respekt, welcher sie am Widerspruch verhindert, inerhalten. Das erste Argument kann das des Respekts, Argumentum ad verecundiam, genannt werden, wenn man die Meinung derer anführt, welche durch ihr Wissen, ihren Rang, ihre Macht oder sonstwie Ansehen gewonnen haben; denn wenn ein anderer sich daraufhin nicht gleich ergibt, so ist man geneigt, ihn als von Eitelkeit erfüllt zu tadeln oder ihn selbst der Unverschämtheit zu zeihen. § 20. Es gibt zweitens ein argumentum ad ignorantiam (des Nichtbesserwissens), d.h.[544] die Forderung, daß der Gegner den Beweis annehme oder einen besseren vorbringe. § 21. Es gibt 3) ein argumentum ad hominem (des Beimwortnehmens), wenn man jemand durch das, was er selbst gesagt hat, in die Enge treibt. § 22. Endlich gibt es 4) ein argumentum ad judicium (durch Urteile), welches darin besteht, Beweismittel anzuwenden, die aus irgend einer Quelle der Erkenntnis oder Wahrscheinlichkeit stammen; und dieses ist das einzige von allen, was uns vorwärts bringt und belehrt, denn wenn ich vor Respekt nicht zu widersprechen wage oder nur nichts Besseres zu sagen weiß oder mir selbst widerspreche, so folgt daraus gar nicht, daß der andere recht hat. Ich kann bescheiden, unwissend, im Irrtum sein, und der andere kann sich dabei doch auch noch täuschen.

Theophilus. Man muß ohne Zweifel zwischen dem, was zu sagen gut ist, und dem, was man als wahr zu glauben hat, unterscheiden. Da indessen die meisten Wahrheiten dreist behauptet werden können, so besteht gegen eine Meinung, die man verhehlen muß, ein gewisses Vorurteil. Das Argument ad ignorantiam ist gut in den Fällen, in denen man mutmaßt; wobei es vernünftig ist, sich so lange an eine Meinung zu halten, bis das Gegenteil bewiesen wird. Das Argument ad hominem hat die Wirkung zu zeigen, daß die eine oder andere Behauptung falsch ist, und der Gegner, wie man es auch nehme, sich geirrt hat. Man könnte noch andere Argumente anführen, deren man sich bedient, zum Beispiel das, welches man ad vertiginem (das vom Schwindel) nennen könnte, wobei man so schließt: Wenn dieser Beweis nicht angenommen wird, haben wir gar kein Mittel, über den Punkt, um den es sich handelt, zur Gewißheit zu kommen; was man als eine Ungereimtheit betrachtet. Dieses Argument ist in gewissen Fällen brauchbar, wie wenn jemand die ursprünglichen und unmittelbaren Wahrheiten ableugnen wollte, z.B. daß nichts zu derselben Zeit sein und nichtsein kann; denn wenn er recht hätte, würde es kein Mittel geben, irgend etwas zu erkennen. Aber wenn man sich gewisse Prinzipien gemacht hat und sie aufrechterhalten will, weil sonst das ganze System der einmal angenommenen Lehre zusammenfallen würde, so ist das Argument nicht entscheidend,[545] denn man muß zwischen dem unterscheiden, was zur Aufrechterhaltung unserer Erkenntnisse notwendig ist, und dem, was unseren angenommenen Meinungen oder praktischen Grundsätzen als Stütze dient. Man hat sich bei den Juristen mitunter eines ähnlichen Verfahrens bedient, um die Verurteilung oder Tortur angeblicher Zauberer auf die Aussagen anderer desselben Verbrechens Angeklagter hin zu rechtfertigen, denn man sagte, wenn dies Argument fällt, wie wollen wir sie überführen? Und manche Schriftsteller in Kriminalsachen behaupten, daß bei den Tatsachen, wo die Überführung noch schwerer ist, leichtere Beweise als genügend gelten können. Aber das ist noch kein vernünftiger Grund. Es beweist nur, daß man mehr Sorgfalt anwenden muß, nicht aber, daß man leichter glauben dürfe, ausgenommen in Fällen äußerst gefährlicher Verbrechen, wie in Sachen des Hochverrats, wo diese Erwägung von Gewicht ist, nicht um jemand zu verdammen, sondern um ihn zu verhindern, Schaden anzurichten. Dabei kann es also ein Mittelding, nicht zwischen Schuldig und Unschuldig, sondern zwischen Verurteilung und Landesverweisung in solchen Untersuchungen geben, wo das Gesetz und die Gewohnheit es gestatten.

Eines ähnlichen Argumentes hat man sich seit einiger Zeit in Deutschland bedient, um das Schlagen schlechter Münze zu beschönigen; denn, (sagte man), wenn man sich an die vorgeschriebenen Regeln halten müßte, würde man nicht ohne Verlust Münzen schlagen können. Es muß also erlaubt sein, den Metallgehalt zu verschlechtern. Außerdem aber, daß man nur das Gewicht und nicht den Metallgehalt oder den Münzwert verringern dürfte, um Betrügereien besser zu verhüten, setzt man die Notwendigkeit eines Verfahrens voraus, die gar nicht stattfindet, denn es gibt weder ein göttliches Gebot noch ein menschliches Gesetz, welches diejenigen Geld zu schlagen nötigt, wel che weder Bergwerke noch Gelegenheit haben, Silber in Barren zu besitzen, und Geld aus Geld zu schlagen ist ein schlechter Gebrauch, der natürlicherweise die Verschlechterung nach sich zieht. Aber wie wollen wir, (sagen sie), unser Münzregal ausüben? Die Antwort ist leicht. Begnügt euch damit, etwas Weniges in gutem[546] Silber auszumünzen, selbst mit einem kleinen Verlust, wenn ihr glaubt, es sei euch so wichtig, unter den Prägstock gebracht zu werden, ohne das Bedürfnis oder das Recht zu haben, die Welt mit dem schlechten Gelde zu überschwemmen.

§ 23. Philalethes. Nachdem wir ein Wort über die Beziehung unserer Vernunft zu anderen Menschen gesagt haben, wollen wir etwas über ihre Beziehung zu Gott hinzufügen, bei der wir zwischen dem, was gegen die Vernunft, und dem, was über der Vernunft ist, unterscheiden. Von der ersteren Art ist alles, was mit unseren klaren und bestimmten Vorstellungen sich nicht verträgt; von der zweiten Art jede Ansicht, von der wir nicht einsehen, daß ihre Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit aus der Sinnlichkeit oder der Reflexion mit Hilfe der Vernunft abgeleitet werden kann. So ist das Dasein von mehr als einem Gott gegen die Vernunft, und die Auferstehung der Toten über der Vernunft.

Theophilus. Über ihre Definition dessen, was über der Vernunft ist, wenigstens wenn Sie sie in dem all gemein angenommenen Sinn dieser Phrase wiedergeben, finde ich noch etwas zu bemerken, denn mir scheint, daß auf die Art, wie diese Definition gefaßt ist, sie einerseits zu weit und andrerseits nicht weit genug geht. Wenn wir ihr folgen, würde alles, was wir nicht wissen und in unserem gegenwärtigen Zustand zu erkennen nicht imstande sind, über der Vernunft sein, z.B. daß irgend ein Fixstern größer oder kleiner ist als die Sonne, oder daß der Vesuv in diesem oder jenem Jahre Feuer speien wird; das sind Tatsachen, deren Erkenntnis uns zu hoch ist, aber nicht, weil sie über die Sinne gehen, denn wir könnten sehr wohl darüber urteilen, wenn wir vollkommenere Organe und mehr Kenntnis der Umstände hätten. Es gibt noch Schwierigkeiten, welche über unser gegenwärtiges Vermögen hinausgehen, aber nicht über die Vernunft überhaupt; es gibt z.B. hier auf Erden keinen Astronomen, der eine Sonnenfinsternis im Zeiträume eines Paternosters und ohne die Feder zur Hand zu nehmen, genau berechnen könnte, während es doch Genien geben könnte, denen das nur ein Spielwerk sein würde. So könnten alle diese Dinge durch die Hilfe der Vernunft bekannt oder ausführbar gemacht werden, wenn man mehr[547] Bekanntschaft mit den Tatsachen, vollkommenere Organe und einen erhabeneren Geist voraussetzt.

Philalethes. Dieser Einwurf fällt weg, wenn ich meine Definition nicht allein von unserer Sinnlichkeit oder Reflexion, sondern auch von der eines jeden anderen möglichen geschaffenen Geistes verstehe.

Theophilus. Wenn Sie es so nehmen, haben Sie recht. Aber es wird dann noch eine andere Schwierigkeit übrig bleiben, daß nämlich dann Ihrer Definition zufolge nichts mehr über die Vernunft geht, weil Gott immer Mittel gewähren könnte, durch die Sinnlichkeit und Reflexion irgend eine Wahrheit zu erwerben, wie in der Tat die größten Mysterien uns durch das Zeugnis Gottes bekannt werden, was man durch die Beweggründe der Glaubwürdigkeit, auf denen unsere Religion ruht, anerkennt. Und diese Beweggründe hangen ohne Zweifel von der Sinnlichkeit und der Reflexion ab. Die Frage scheint also zu sein, nicht ob das Vorhandensein einer Tatsache oder die Wahrheit eines Satzes aus Grundsätzen abgeleitet werden kann, deren sich die Vernunft bedient, d.h. aus der Sinnlichkeit und der Reflexion oder aus dem äußeren und inneren Sinne, sondern ob ein erschaffener Geist das Wie dieser Tatsache oder den apriorischen Grund dieser Wahrheit zu erkennen fähig ist; so daß man sagen kann, das, was über der Vernunft ist, könne wohl auf Wegen und durch Künste der geschaffenen Vernunft ergriffen, aber nicht begriffen werden, mag sie auch noch so groß und erhaben sein. Gott allein ist es vorbehalten, es zu verstehen, wie es ihm allein zu kommt, es auszuüben.

Philalethes. Diese Betrachtung scheint mir triftig, und auf diese Weise will ich meine Definition genommen wissen. Und zwar bestärkt mich diese Betrachtung selbst auch in meiner Meinung, daß die Ausdrucksweise, wonach die Vernunft dem Glauben entgegengesetzt wird, obgleich sie sich auf große Autorität stützt, ungehörig ist, denn durch die Vernunft eben verifizieren wir das, was wir glauben müssen. Der Glaube ist eine feste Zustimmung, und eine wohlbegründete Zustimmung kann nur auf gute Gründe hin gegeben werden. So kann derjenige, welcher, ohne irgend eine Ursache zum Glauben zu haben, glaubt, in seine Einbildungen verliebt sein,[548] aber die Wahrheit sucht er darum doch sicherlich nicht, noch leistet er seinem göttlichen Meister den angemessenen Gehorsam, nach dessen Willen er die ihm zum Schutz gegen den Irrtum verliehenen Vermögen gebrauchen muß. Sonst ist es aus Zufall, wenn er auf dem rechten Wege ist, und ist er auf dem falschen, so ist er Gott dafür verantwortlich.

Theophilus. Ich stimme Ihnen durchaus bei, wenn Sie verlangen, daß der Glaube auf der Vernunft begründet sei: warum sollten wir sonst die Bibel dem Koran oder den alten Büchern der Brahmanen vorziehen? Dies haben unsere Theologen und andere Gelehrte auch richtig erkannt, und dieser Umstand hat uns auch so schöne Werke über die Wahrheit der christlichen Religion und so viel schöne Beweise zuwege gebracht, welche man den Heiden und anderen alten und neuen Ungläubigen gegenüber geltend gemacht hat. Auch haben die verständigen Leute stets diejenigen für verdächtig gehalten, welche vorgegeben haben, daß, wo es sich um den Glauben handele, man sich um Gründe und Beweise nicht zu bemühen brauche; etwas in der Tat Unmögliches, wenn Glaube nicht Nachsprechen oder Wiederholen und Hingehenlassen, ohne sich zu bemühen, bedeutet, wie bei vielen Leuten der Fall und selbst der Charakter einiger Nationen mehr als anderer ist. Als einige aristotelische Philosophen des 15. und 16. Jahrhunderts, deren Spuren noch lange nachher vorhanden gewesen sind, (wie man aus den Briefen des verstorbenen Naudé und den Naudeana urteilen kann), zwei einander entgegengesetzte Wahrheiten, eine philosophische und eine theologische behaupten wollten, hat das letzte lateranische Konzil unter Leo X. sich dem mit Recht widersetzt, wie ich schon bemerkt zu haben glaube. Auch erhob sich früher ein ganz ähnlicher Streit zu Helmstädt zwischen dem Theologen Daniel Hoffmann und dem Philosophen Cornelius Martin, jedoch mit dem Unterschiede, daß der Philosoph die Philosophie mit der Offenbarung vereinigte, und der Theolog den Nutzen davon ableugnen wollte. Der Herzog Julias aber, der Gründer der Universität, erklärte sich für den Philosophen. Allerdings hat zu unserer Zeit ein Mann von sehr hoher Stellung erklärt, daß man in Glaubenssachen sich die Augen ausreißen müsse, um klar zu sehen, und[549] Tertuilian sagt irgendwo: es ist wahr, denn es ist unmöglich; man muß es glauben, denn es ist eine Ungereimtheit. Aber wenn die Absicht derer, welche sich auf diese Weise aussprechen, gut ist, so sind doch immerhin ihre Ausdrücke übertrieben und können Unheil stiften. St. Paul redet viel richtiger, wenn er sagt, daß die Weisheit Gottes vor den Menschen Torheit ist, weil nämlich die Menschen die Sachen nur nach ihrer Erfahrung, die äußerst beschränkt ist, beurteilen, und alles damit nicht Übereinstimmende ihnen als eine Ungereimtheit erscheint. Aber dies Urteil ist sehr verwegen, denn es gibt sogar in der Natur unendlich vieles, was für ungereimt gelten würde, wenn man es uns erzählte, wie das Eis dem König von Siam erschien, von welchem man ihm sagte, daß es unsere Flüsse bedecke. Aber die Ordnung der Natur selbst, da sie nicht von metaphysischer Notwendigkeit ist, ist nur auf der Willkür Gottes begründet, so daß er aus höheren Ursachen der Gnade sich davon entfernen kann, obgleich man dies nur auf gültige Beweise hin annehmen darf, die nur von Gottes Zeugnis selbst herrühren dürfen. Ist dies gehörig bewährt, so muß man sich ihm völlig unter werfen.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 523-550.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand
Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand: Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung, Lebensbeschreibung des Verfassers und erläuternden Anmerkungen versehen von C. Schaarschmidt
Philosophische Schriften.: Band 3 in 2 Teilbänden: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Philosophische Schriften. Französisch und deutsch (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon