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Kapitel I.

Worin von den Vorstellungen im allgemeinen gehandelt und gelegentlich untersucht wird, ob die Seele des Menschen immer denke

[76] § 1. Philalethes. Nachdem wir untersucht haben, ob die Vorstellungen angeboren sind, wollen wir ihr Wesen und ihre Unterschiede betrachten. Nicht wahr, die Vorstellung ist der Gegenstand des Denkens?

Theophilus. Ich gebe es zu, wenn Sie hinzufügen, daß es ein unmittelbarer innerer Gegenstand, und dieser Gegenstand ein Ausdruck des Wesens oder der Eigenschaften der Dinge ist. Wenn die Vorstellung die Form des Denkens wäre, so würde sie mit den wirklichen Gedanken, die ihr entsprechen, entstehen und aufhören; aber indem sie deren Gegenstand ist, wird sie den Gedanken voraussehen und nachfolgen können. Die äußeren sinnlichen Gegenstände sind nur mittelbare, weil sie nicht unmittelbar auf die Seele wirken können. Gott allein ist der unmittelbare äußere Gegenstand. Man könnte sagen, daß die Seele selbst ihr unmittelbarer innerer Gegenstand ist aber sie ist dies insofern sie die Vorstellungen oder das, was den Dingen entspricht, enthält, denn sie ist eine kleine Welt, worin die deutlichen Vorstellungen ein Bild Gottes und die verworrenen ein Bild des Universums sind.

§ 2. Philalethes. Unsere Partei fragt in der Voraussetzung, daß die Seele zu Anfang eine tabula rasa ist, leer von allen Schriftzügen und ohne irgend eine Vorstellung, wie[76] sie dazu komme, Vorstellungen zu enthalten und durch welches Mittel sie deren eine so außerordentliche Menge erwerbe? Darauf antwortet sie mit einem Wortes durch die Erfahrung.

Theophilus. Diese tabula rasa von der man so viel spricht, ist nach meiner Meinung nichts als ein Phantasiegebilde, das in der Natur nicht vorkommt und nur in den unvollständigen Begriffen der Philosophen begründet ist, ebenso wie der leere Raum, die Atome, die unbedingte oder die relative Ruhe zweier Teile eines Ganzen gegeneinander, oder ebenso wie die erste Materie, die man sich ohne Formen denkt. Das einförmige und keine Mannigfaltigkeit in sich Schließende ist immer nur eine Abstraktion, wie die Zeit, der Raum und die übrigen Wesen der reinen Mathematik. Es gibt keinen Körper, dessen Teile in Ruhe sind, und es gibt keine Substanz, die sich nicht in irgend etwas von jeder anderen unterschiede. Die menschlichen Seelen sind nicht allein von den Seelen anderer Wesen, sondern auch untereinander verschieden, obgleich dieser Unterschied nicht von derjenigen Art ist, welchen man spezifisch nennt. Und nach den Beweisen, welche ich zu haben glaube, hat jedes substantielle Wesen, es sei Seele oder Körper, zu allem übrigen ein ihm eigentümliches Verhältnis, und das eine muß sich von dem anderen immer durch innerliche Bestimmungen unterscheiden. Diejenigen aber, welche von jener tabula rasa reden, können, nachdem sie ihr die Vorstellungen genommen haben, nicht sagen, was ihr dann noch bleibt, wie die Schulphilosophen ihrer ersten Materie auch nichts Übrig lassen. Man wird mir vielleicht entgegnen, diese tabula rasa der Philosophen wolle sagen, daß die Seele von Natur und ursprünglich nur nackte Vermögen habe. Aber die Vermögen ohne irgend eine Handlung, mit einem Worte, die bloßen Möglichkeiten der Schule sind auch nur Nabeln, von welchen die Natur nichts weiß und die man nur durch Abstraktionen erhält. Denn wo wird man jemals in der Welt ein Vermögen finden, das die bloße Möglichkeit, ohne irgend eine Handlung auszuüben, in sich enthält? Es gibt immer eine besondere Disposition zur Handlung, und zwar zu einer Handlung mehr als zu einer anderen. Und außer der Disposition gibt es noch eine Strebung zum handeln, deren es sogar stets eine[77] unendliche Menge in jedem Subjekte zugleich gibt; und diese Strebungen sind niemals gänzlich ohne Wirkung. Ich gebe zu, daß die Erfahrung notwendig ist, damit die Seele zu diesen oder jenen Gedanken bestimmt werde und auf die in uns vorhandenen Vorstellungen acht habe; aber wie können denn Erfahrung und Sinnlichkeit Vorstellungen geben? Hat die Seele Fenster? gleicht sie einer Tafel? ist sie wie Wachs? Es ist einleuchtend, daß alle die, welche so von der Seele denken, sie im Grunde für körperlich halten. Man wird mir den von den Philosophen angenommenen Grundsatz entgegenhalten, daß in der Seele nichts sei, das nicht von den Sinnen kommt. Aber man muß die Seele und ihre Zustande selbst davon ausnehmen. Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus (das Denken selbst ausgenommen). Die Seele enthält also das Sein, die Substanz, das Eine, das Selbige, die Ursache, die Wahrnehmung, das Denken und eine Menge anderer Vorstellungen, welche die Sinne nicht verleihen können. Dies stimmt recht gut mit Ihrem Verfasser der Abhandlung, welche einen guten Teil der Vorstellungen in der Reflexion des Geistes über sein eigenes Wesen sucht.

Philalethes. Ich hoffe doch, Sie werden diesem gelehrten Schriftsteller zugeben, daß alle Vorstellungen aus der Sinnlichkeit oder aus der Reflexion stammen, d.h. aus den Beobachtungen, die wir entweder über die äußeren und sinnlichen Gegenstände oder über die inneren Verrichtungen unserer Seele machen.

Theophilus. Um einen Streit, der uns schon allzulange aufgehalten hat, zu vermeiden, erkläre ich Ihnen zum voraus, daß, wenn Sie sagen, die Vorstellungen stammen auf der einen oder anderen dieser Ursachen, ich dies von ihrer wirklichen Wahrnehmung verstehe, da ich gezeigt zu haben glaube, daß sie in uns sind, ehe man sich ihrer, sofern sie nur etwas für sich Besonderes haben, bewußt ist.

§ 9. Philalethes. Hierauf wollen wir zusehen, wann man sagen müsse, daß die Seele anfange, Wahrnehmung zu haben und wirklich an die Vorstellungen zu denken. Ich weiß wohl, daß die Behauptung aufgestellt wird, die Seele denke immer, und daß das wirkliche Denken von der Seele ebenso untrennbar sei, als die wirkliche Ausdehnung[78] untrennbar vom Körper (§ 10). Aber ich kann nicht begreifen, daß es für die Seele notwendiger sein soll, immer zu denken, als für die Körper, immer in Bewegung zu sein, indem nämlich die Wahrnehmung für die Seele das ist, was die Bewegung für den Körper. Dies scheint mir wenigstens sehr vernünftig, und ich möchte gern Ihre Ansicht darüber wissen.

Theophilus. Sie haben sie eben ausgesprochen. Die Tätigkeit ist nicht mehr mit der Seele als mit dem Körper verknüpft, und ein Zustand ohne Denken in der Seele und eine unbedingte Ruhe im Körper scheint mir gleich sehr naturwidrig und beispiellos in der Welt. Eine Substanz, die einmal in Tätigkeit ist, wird es immer sein, denn alle Eindrücke dauern fort und vermischen sich nur mit anderen neuen. Wenn man einen Körper anstößt, so erregt man oder bringt man vielmehr zum Ausdruck eine unendliche Menge von Wirbelbewegungen wie in einer Flüssigkeit; denn im Grunde hat jeder feste Körper einen Grad von Flüssigkeit und jede Flüssigkeit einen Grad von Festigkeit, und man kann diese inneren Wirbelbewegungen niemals ganz aufhören machen. Man kann daher glauben daß, wenn der Körper niemals in Ruhe ist, die ihm entsprechende Seele auch niemals ohne Wahrnehmung sein werde.

Philalethes. Vielleicht ist es aber ein besonderes Vorrecht des Urhebers und Erhalters aller Dinge, daß er, als in seinen Vollkommenheiten unendlich, niemals schläft und schlummert. Einem endlichen Wesen, oder wenigstens einem solchen Wesen, wie der Seele des Menschen, kommt dies aber nicht zu.

Theophilus. Sicherlich schlafen und schlummern wir und Gott nicht; aber daraus folgt nicht, daß wir im Schlummer ohne irgend welche Wahrnehmung seien. Vielmehr findet, wenn man wohl darauf achtet, das Gegenteil statt.

Philalethes. Es gibt in uns etwas, was das Vermögen zu denken hat, aber daraus folgt nicht, daß wir stets in wirklicher Denktätigkeit seien.

Theophilus. Die wahren Vermögen sind niemals bloße Möglichkeiten. Mit ihnen ist immer Strebung und Tätigkeit verbunden.

[79] Philalethes. Aber dieser Satz: Die Seele denkt immer, ist nicht durch sich selbst evident.

Theophilus. Das sage ich auch nicht. Man hat, ihn zu finden, ein wenig Aufmerksamkeit und Nachdenken nötig. Der gemeine Mann ist sich desselben ebensowenig bewußt, als des Druckes der Luft oder der Kugelgestalt der Erde.

Philalethes. Ich zweifle daran, daß ich in der vergossenen Nacht gedacht habe: Es handelt sich dabei um eine Untersuchung der Tatsache; man muß darüber durch sinnliche Erfahrungen entscheiden.

Theophilus. Man entscheidet darüber, wie man beweist, daß es nicht wahrnehmbare Körper und unsichtbare Bewegungen gibt, obgleich gewisse Leute dies als lächerlich betrachten. Ebenso gibt es unklare Wahrnehmungen, welche sich nicht so viel voneinander unterscheiden, daß man sich derselben bewußt werden oder erinnern könnte; aber durch gewisse Resultate werden sie erkannt.

Philalethes. Ein gewisser Schriftsteller hat uns den Vorwurf gemacht, daß wir behaupteten, die Seele höre auf zu sein, weil wir ihr Dasein während des Schlafes nicht fühlen; aber dieser Einwurf kann nur aus einem seltsamen Vorurteil entspringen; denn wir sagen nicht, daß der Mensch keine Seele in sich habe, weil wir ihr Dasein während des Schlafes nicht empfinden, sondern behaupten nur, daß der Mensch nicht denken kann, ohne sich desselben bewußt zu sein.

Theophilus. Ich habe das Buch nicht gelesen, welches diesen Einwurf enthält, aber man würde nicht unrecht daran haben, ihn zu machen, weil daraus, daß man sich des Denkens nicht bewußt ist, nicht folgt, daß es darum aufhöre, denn sonst könnte man mit demselben Grunde sagen, es gebe keine Seele, solange man sich derselben nicht bewußt ist. Und um diesen Vorwurf zurückzuweisen, müßte man besonders vom Denken zeigen, daß es ihm wesentlich ist, ins Bewußtsein zu fallen.

§ 11. Philalethes. Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, daß ein Wesen denken kann und nicht merkt, daß es denkt.

Theophilus. Darin steckt ohne Zweifel der Knoten der Frage und die Schwierigkeit, welche auch gescheite Leute in Verlegenheit gesetzt hat. Aber nun auch das[80] Mittel, herauszukommen: man muß erwägen, daß wir an eine Menge Dinge zugleich denken, aber nur auf diejenigen Gedanken, welche am meisten hervortreten, achthaben; und anders kann es sich nicht verhalten, denn wenn wir auf alles achtgäben, müßten wir an unendlich vieles zu gleicher Zeit mit Aufmerksamkeit denken, was wir alles empfinden und was auf unsere Sinne Eindruck macht. Ich behaupte noch mehr: von allen unseren vergangenen Gedanken bleibt etwas übrig, und keiner derselben kann jemals vollständig ausgelöscht werden. Wenn wir also ohne Traum schlafen oder durch einen Schlag, Fall, Krankheitszustand oder anderen Zufall betäubt sind, so bildet sich in uns eine unendliche Menge von kleinen verworrenen Empfindungen, und der Tod selbst könnte auf die Seelen der Tiere keine andere Wirkung hervorbringen, da sie ohne Zweifel früher oder später, denn in der Natur geht alles ordentlich zu, zu deutlich bestimmten Wahrnehmungen zurückkehren müssen. Indessen gebe ich zu, daß in jenem Zustand von Verwirrung die Seele ohne Lust und ohne Schmerz sein wird; denn das sind merkbare Wahrnehmungen.

§ 12. Philalethes. Nicht wahr, diejenigen, mit welchen wir gegenwärtig zu tun haben, nämlich die Kartesianer, die da glauben, daß die Seele immer denke, gestehen allen vom Menschen verschiedenen Tieren das Leben zu, ohne ihnen eine erkennende und denkende Seele zu geben, und finden ebenso keine Schwierigkeit darin, zu behaupten, daß die Seele, ohne an einen Körper gebunden zu sein, denken könne?

Theophilus. Ich für meinen Teil bin anderer Ansicht; denn obgleich ich darin der der Kartesianer folge, daß sie behaupten, die Seele denke beständig, entferne ich mich doch von ihnen in zwei anderen Punkten. Ich glaube, daß die Tiere unvergängliche Seelen haben, und daß die menschlichen Seelen, wie die anderen alle, niemals ohne allen Körper sind; ich nehme sogar an, daß Gott allein, da er reine Tätigkeit ist, davon gänzlich befreit ist.

Philalethes. Wenn Sie der Ansicht der Kartesianer wären, so hätte ich in Ihrem Sinne geschlossen, daß die Körper des Kastor und Pollux, da sie bald mit, bald ohne Seele sein können, obwohl sie immer leben bleiben und ihre Seele bald in einem Körper und bald außer[81] demselben sein kann, nur eine einzige Seele hätten, die abwechselnd den Körper dieser beiden Menschen, da sie umwechselnd einschlafen und erwachen, regierte, folglich würden sie zwei so verschiedene Personen, wie Kastor und Herkules sein könnten, ausmachen dürfen.

Theophilus. Ich will Ihnen meinerseits eine viel natürliche scheinende Annahme vorschlagen. Nicht wahr, man muß immerhin zugeben, daß man nach irgend einer Zwischenzeit oder einer großen Veränderung in ein vollständiges Vergessen sinken kann? So sagt man, daß Sleidan vor seinem Tode alles, was er wußte, vergab. Und es gibt noch andere zahlreiche Beispiele dieses traurigen Halles. Nehmen wir nun an, daß ein solcher Mensch wieder jung würde und alles von neuem kennen lernte. Wird er dann ein an derer Mensch sein? Das Gedächtnis also ist es nicht, was gerade denselbigen Menschen ausmacht. Indessen ist die phantastische Annahme einer Seele, die abwechselnd verschiedene Körper belebt, ohne daß das, was ihr in dem einen dieser Körper begegnet, den anderen angeht, eine jener naturwidrigen Erdichtungen, die aus den unvollständigen Begriffen der Philosophen stammen, wie der Raum ohne Körper und der Körper ohne Bewegung. Sie verschwinden, wenn man ein wenig tiefer eindringt, denn man muß wissen, daß jede Seele alle vergangenen Eindrücke bewahrt und sich auf eben berührte Art nicht zweiteilen kann. In jener Substanz hat die Zukunft eine vollständige Verbindung mit der Vergangenheit. Darin besteht die Identität des Individuums; indessen ist sich zu erinnern gar nicht nötig und wegen der Menge der gegenwärtigen und vergangenen Eindrücke, welche mit unseren gegenwärtigen Gedanken sich verbinden, selbst nicht immer möglich, denn es gibt meiner Überzeugung nach im Menschen keine Gedanken, die nicht irgend eine wenigstens verwegene Wirkung haben und einen den folgenden Gedanken beigemischten Rest bilden. Man kann wohl etwas vergessen, aber man kann sich auch immer aus noch so werter Ferne wieder daran erinnern, wenn man in der richtigen Weise darauf zurückgeführt wird.

§ 13. Philalethes. Wer ohne irgendwelchen Traum geschlafen hat, wird sich niemals überzeugen lassen, daß seine Gedanken in Tätigkeit gewesen seien.

[82] Theophilus. Man ist niemals ohne irgend eine schwache Empfindung, wenn man schläft selbst wenn man dabei nicht träumt. Dies zeigt selbst das Erwachen; und je näher man dem Erwachen ist, desto mehr Empfindung hat man von dem, was sich außer uns zuträgt, obgleich diese Empfindung nicht immer stark genug sein mag, uns zu erwecken.

§ 14. Philalethes. Es erscheint mir sehr schwer begreiflich, daß die Seele in diesem Augenblick in einem schlafenden und im nächsten Augenblick in einem wachenden Menschen denke, ohne sich daran zu erinnern.

Theophilus. Das ist nicht nur sehr leicht zu begreifen, sondern es läßt sich sogar tagtäglich, wahrend man wacht, etwas Ähnliches beobachten; denn alsdann wirken fortwährend Gegenstände auf unsere Augen oder Ohren, und folglich ist, ohne daß wir darauf achtgeben, auch die Seele davon berührt, weil unsere Aufmerksamkeit von anderen Gegenständen in Anspruch genommen ist, bis der Gegenstand mächtig genug wird, sie durch Verstärkung seiner Tätigkeit oder durch irgendeine andere Ursache auf sich zu ziehen, das wäre gleichsam ein teilweiser Schlaf in bezug auf solchen Gegenstand, und dieser Schlaf wird ein allgemeiner, wenn unsere Aufmerksamkeit in bezug auf alle Gegenstände zusammen aufhört. Es ist ja auch ein Mittel, sich einzuschläfern, daß man die Aufmerksamkeit verteilt, um sie zu schwächen.

Philalethes. Ich habe von einem Menschen gehört, der sich in seiner Tugend dem Studium gewidmet und ein sehr glückliches Gedächtnis gehabt hatte – daß diesem, ehe er das Fieber gehabt hatte, niemals geträumt habe; und davon war er in der Zeit, als ich mit ihm sprach, im Alter von etwa 25 oder 26 Jahren gerade geheilt worden.

Theophilus. Man hat mir auch von einem Gelehrten von noch viel vorgerückterem Alter erzählt, der niemals einen Traum gehabt hatte. Aber man muß nicht auf die Träume allein die ununterbrochene Stetigkeit der Wahrnehmung der Seele gründen, da ich schon gezeigt habe, wie sie selbst im Schlaf eine gewisse Wahrnehmung dessen, was außer ihr vorgeht, besitzt.

§ 15. Philalethes. Oft denken und nicht einen einzigen Augenblick das Andenken dessen, was man denkt, sich erhalten, heißt recht unnütz denken.

[83] Theophilus. Alle Eindrücke haben ihre Wirkung, aber nicht alle Wirkungen sind immer bemerkbar wenn ich mich eher nach der einen Seite wende als nach der anderen, so geschieht dies wohl häufig durch die Verkettung kleiner Eindrücke, deren ich mir nicht bewußt bin und welche die eine Bewegung ein wenig unbequemer als die andere machen. Alle von uns ohne Überlegung ausgeführten Handlungen sind Resultate eines Zusammenwirkens schwacher Wahrnehmungen, und selbst unsere Gewohnheiten und Leidenschaften, die auf unsere Entschlüsse so viel Einfluß haben, stammen daher; denn diese Angewöhnungen entstehen nach und nach, und man, würde folglich ohne die schwachen Wahrnehmungen zu merklichen Neigungen gar nicht kommen. Ich habe schon einmal bemerkt, daß, wenn man diese Wirkungen in der Moral leugnen wollte, man den schlecht unterrichteten Leuten gleichen würde, die in der Physik die unsichtbaren Körperchen leugnen und gleichwohl gibt es darunter, wie ich bemerke, solche, welche, ohne auf diese unmerklichen Eindrücke, die doch imstande sind, die Wage nach einer Seite zu neigen, achtzuhaben, von der Freiheit sprechen, indem sie phantastischerweise eine vollständige Indifferenz in den moralischen Handlungen annehmen, wie die des Buridanschen Esels zwischen seinen zwei Wiesen ist. Aber diesen Punkt werden wir in der Folge noch mehr reden. Ich gebe allerdings zu, daß diese Eindrücke uns nur nach einer Seite neigen machen ohne Zwang auszuüben.

Philalethes. Vielleicht wird man sagen, daß in einem wachen Menschen, der denkt, der Körper etwas dabei leistet, und das Gedächtnis durch die Spuren im Gehirn sich erhält, daß aber, wenn er schläft, die Seele ihre Gedanken für sich allein hat.

Theophilus. Dies zu behaupten, bin ich weit entfernt, da ich vielmehr glaube, daß stets eine genaue Übereinstimmung zwischen Körper und Seele stattfindet, und ich nach der Eindrücke des Körpers, deren man weder im Erwachen noch im Schlaf sich bewußt ist, bediene, um zu beweisen, daß die Seele ähnliche hat. Ich halte sogar dafür, daß in der Seele etwa der Blutzirkulation und allen inneren Bewegungen der Eingeweide Entsprechendes geschieht, dessen man sich freilich gar nicht[84] bewußt ist, ganz so, wie diejenigen, welche neben einer Wassermühle wohnen, des Lärmes, den sie macht, sich auch gar nicht bewußt sind. Gäbe es in der Tat Eindrücke im Körper während des Schlafens oder Wachens, wovon die Seele überhaupt gar nicht berührt oder getrogen würde, so müßte man die Einheit der Seele und des Körpers einschränken, als ob die körperlichen Eindrücke eine bestimmte Gestalt und Größe haben müßten, damit die Seele dieselben bemerken könnte; dies ist aber, wenn die Seele unkörperlich ist, nicht aufrechtzuerhalten, denn zwischen einer unkörperlichen Substanz und dieser oder jener Modifikation der Materie gibt es kein Proportionsverhältnis. Mit einem Worte, der Glaube, daß es in der Seele keine anderen Wahrnehmungen gibt, als die, deren sie sich bewußt ist, ist eine große Quelle von Irrtümern.

§ 16. Philalethes. Die meisten Träume, deren wir uns erinnern, sind unordentlich und schlecht verbunden, man müßte also behaupten, daß die Seele das Vermögen, vernünftig zu denken, dem Körper verdankt oder von ihren vernünftigen Selbstgesprächen nichts behält.

Theophilus. Der Körper entspricht allen Gedanken der Seele, mögen sie vernünftig sein oder nicht. Und die Träume haben ebensogut ihre Spuren im Gehirn, wie die Gedanken der Wachenden.

§ 17. Philalethes. Da Sie so sicher sind, daß die Seele wirklich immer denkt, so möchte ich von Ihnen hören, welches denn die Vorstellungen sind, die in der Seele eines Kindes, ehe sie mit dem Körper verbunden ist, oder gerade in der Zeit ihrer Verbindung mit ihm, ehe sie irgend eine Vorstellung auf dem Wege der sinnlichen Empfindung erhalten hat, vorkommen.

Theophilus. Nach unseren Prinzipien ist es leicht, Ihnen zu genügen. Die Wahrnehmungen der Seele entsprechen natürlicherweise immer der Verfassung des Körpers, und wenn es im Gehirn eine Menge verworrener und wenig deutlicher Bewegungen gibt, wie bei denen der Fall ist, welche wenig Erfahrung haben, so können die Gedanken der Seele nach der Ordnung der Dinge nicht deutlicher sein. Die Seele ist indessen der Unterstützung durch die Sinnlichkeit niemals beraubt, weil sie immer ihren Körper ausdrückt und die ser Körper stets[85] durch andere Körper, die ihn umgeben, auf unendlich mannigfache Weise, aber oft nur mit der Wirkung eines verworrenen Eindrucks in Bewegung gesetzt wird.

Philalethes. Aber da wirft der Verfasser der Abhandlung noch eine andere Frage auf. Ich möchte gerne, sagt er, von denen, welche mit so viel Zuversicht behaupten, daß die Seele des Menschen oder, was dasselbe ist, der Mensch immer denkt, erfahren, woher Sie das wissen.

Theophilus. Ich weiß nicht, ob man nicht mehr Zuversicht bedarf, um zu leugnen, daß sich in der Seele etwas zuträgt, dessen wir uns nicht bewußt sind; denn damit etwas bemerkbar sei, muß es aus Teilen bestehen, die nicht bemerkbar sind, weil nichts, der Gedanke so wenig wie die Bewegung, auf einmal entstehen kann. Übrigens klingt dies so, als wenn heutzutage jemand fragte wie wir die unsichtbaren Körperchen erkennen.

§ 19. Philalethes. Ich erinnere mich nicht, daß diejenigen, welche behaupten, daß die Seele immer denke, uns jemals sagen, daß der Mensch immer denke.

Theophilus. Ich meine, dies geschieht, weil sie es auch von der vom Körper gesonderten Seele verstehen. Indessen werden sie leicht zugeben, daß während der Vereinigung beider der Mensch immer denkt. Ich für meinen Teil, der ich daran festzuhalten Gründe habe, daß die Seele niemals von aller Körperlichkeit geschieden ist, glaube, man könne schlechthin sagen, daß der Mensch denkt und immer denken wird.

Philalethes. Zu sagen, daß der Körper ausgedehnt sei, ohne Teile zu haben, und daß ein Ding denke, ohne sich seines Denkens bewußt zu sein, sind zwei Behauptungen, welche mir gleich sehr unverständlich scheinen.

Theophilus. Verzeihen Sie mir, ich bin gezwungen, Ihnen zu sagen, daß, wenn Sie behaupten, es gebe in der Seele nichts, dessen sie sich nicht bewußt sei, dies ein Zirkelschluß ist, der schon während unserer ganzen ersten Zusammenkunft geherrscht hat, wo er zur Widerlegung der angeborenen Vorstellungen und Wahrheiten dienen sollte. Geben wir dies Prinzip zu, so würden wir nicht nur gegen Erfahrung und Vernunft zu verstoßen glauben, sondern auch ohne Grund unserer Ansicht entsagen, die ich doch hinreichend verständlich[86] gemacht zu haben glaube. Außerdem aber, daß unsere Gegner trotz aller ihrer Geschicklichkeit keinen beweis dessen beigebracht haben, was sie in dieser Hinsicht so oft und so positiv behaupten, ist es auch leicht, ihnen das Gegenteil zu zeigen, d.h. daß es für uns nicht möglich ist, über alle unsere Gedanken immer ausdrücklich zu reflektieren: sonst würde der Geist über jede Reflexion eine neue Reflexion bis ins Unendliche anstellen, ohne jemals zu einem neuen Gedanken übergehen zu können. Indem ich mir z.B. irgend einer gegenwärtigen Empfindung bewußt wäre, müßte ich immer denken, daß ich daran denke, und wieder auch denken, daß ich daran zu denken denke, und so bis ins Unendliche. Aber ich muß wohl über alle diese Reflexionen zu reflektieren aufhören und endlich einmal einen Gedanken haben, den man, ohne daran zu denken, vorüberläßt sonst würde man immer bei derselben Sache bleiben.

Philalethes. Würde es dann aber nicht ebensowohl begründet sein zu behaupten, daß der Mensch immer hungert, indem man sagt, es sei möglich zu hungern, ohne sich dessen bewußt zu sein?

Theophilus. Dabei ist ein großer Unterschieds der Junger hat besondere Gründe, die nicht immer obwalten. Gleichwohl ist es doch wahr, daß man auch Hunger haben kann, ohne jeden Augenblick daran zu denken aber, wenn man daran denkt, ist man sich dessen bewußt, da er eine sehr bemerkbare Stimmung ist. Es gibt immerfort Irritationen im Magen aber sie müssen ziemlich stark werden, um den Junger zu verursachen. Dieselbe Unterscheidung muß man zwischen dem Denken überhaupt und den merkbaren Gedanken machen. So dient daß, was man vorbringt, um unsere Ansicht ins Lächerliche zu ziehen, dazu, sie zu bestätigen.

§ 23. Philalethes. Man kann nun fragen, wann der Mensch in seinem Denken Vorstellungen zu haben anfange? Und mir scheint, man muß antworten, es geschehe, sowie er Empfindung hat.

Theophilus. Ich bin derselben Ansicht; aber das ist ein etwas eigentümlicher Grundsatz: ich glaube nämlich, daß wir niemals ohne Denken und auch niemals ohne Empfindung sind. Ich unterscheide nur zwischen Empfindungen und Gedanken, denn wir haben stets alle unsere[87] Gedanken rein oder von den Sinnen unabhängig bestimmt, aber die Gedanken entsprechen immer irgend einer Empfindung.

§ 25. Philalethes. Leidend aber ist der Geist doch nur in der Wahrnehmung der einfachen Vorstellungen, welche die Fundamente oder Materialien der Erkenntnis sind, während er tätig ist, wenn er zusammengesetzte Vorstellungen bildet.

Theophilus. Wie kann er denn hinsichtlich der Wahrnehmung aller einfachen Vorstellungen leidend sein, da es nach Ihrem eigenen Geständnis einfache Vorstellungen gibt, deren Wahrnehmung aus der Reflexion stammt, und der Geist sich also wenigstens die Gedanken der Reflexion selbst gibt, denn er ist es ja doch, welcher reflektiert? Ob er sie sich versagen kann, das ist eine andere Frage; ohne Zweifel kann er es nicht ohne irgend einen Grund, der ihn auf gegebene Veranlassung davon entfernt.

Philalethes. Bis jetzt haben wir, wie es scheint, ex professo verhandelt. Nunmehr, wo wir zu den Vorstellungen im einzelnen kommen wollen, hoffe ich, werden wir miteinander einiger sein und nur in gewissen Besonderheiten voneinander abweichen.

Theophilus. Mich soll es freuen, gescheite Männer an den Ansichten, welche ich für wahr halte, teilnehmen zu sehen denn sie sind dazu angetan, jenen Geltung zu verschaffen und sie in das rechte Licht zu setzen.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 76-88.
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