Kapitel XI.

Von der Fähigkeit, die Vorstellung zu unterscheiden

[113] § 1. Philalethes. Von der Unterscheidung der Vorstellungen hängt die Evidenz und Gewißheit mehrerer Sätze ab, die für angeborene Wahrheiten gelten.

Theophilus. Ich gebe zu, daß man, nm diese angeborenen Vorstellungen zu denken und klar einzusehen, Unterscheidung nötig hat, darum hören sie aber nicht auf, angeboren zu sein.

§ 2. Philalethes. Die Lebendigkeit des Geistes nun besteht darin, Vorstellungen sich schnell zu vergegenwärtigen, aber es gehört Urteil dazu, sie sich deutlich zu vergegenwärtigen und genau voneinander zu unterscheiden.

Theophilus. Vielleicht ist das eine oder das andere Lebendigkeit der Einbildungskraft, und besteht das Urteil in der vernunftgemäßen Prüfung der Sätze.

Philalethes. Ich stehe dieser Unterscheidung von Geist und Urteil gar nicht fern. Mitunter besteht das Urteil darin, es nicht zu sehr anzuwenden. Es wäre z.B. für manche geistreiche Gedanken gewissermaßen ein Schaden, wenn man sie nach den strengen Regeln der Wahrheit und des triftigen Urteils prüfen wollte.

Theophilus. Das ist eine gute Bemerkung. Geistreiche Gedanken müssen eine gewisse, wenigstens scheinbare Begründung in der Vernunft haben; aber man muß sie nicht mit allzugroßer Ängstlichkeit zerlegen, wie man ein Gemälde nicht allzunahe betrachten darf. In diesem Punkte scheint mir P. Bonhours mehr als einmal in seinem Buche über die Art und Weise, über Werke des Geistes richtig zu denken, zu fehlen, wie wenn er das schöne Wortspiel des Lucan verächtlich behandelt: Victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni.

§ 4. Philalethes. Ein anderes Verfahren des Geistes hinsichtlich seiner Vorstellungen ist die Vergleichung zwischen einer Vorstellung und einer zweiten in Absicht der Ausdehnung, der Grade, der Zeit, des Ortes oder irgend eines anderen Umstandes: davon hängt jene große Zahl[113] von Vorstellungen ab, die unter der Benennung der Relation (Beziehung) begriffen werden.

Theophilus. Meinem Sinne nach ist die Relation (Beziehung) allgemeiner als die Vergleichung. Denn die Relationen sind entweder Beziehungen der Vergleichung oder des Zusammenhanges. Die ersten betroffen die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung (ich nehme diese Ausdrücke in einem weniger ausgedehnten Sinne), was die Ähnlichkeit, Gleichheit, Ungleichheit usw. umfaßt. Die anderen beziehen sich auf irgendeine Verknüpfung, wie der Ursache und Wirkung, des Ganzen und der Teile, der Lage, Ordnung usw.

§ 6. Philalethes. Die Zusammenstellung der einfachen Vorstellungen zu zusammengesetzten ist auch noch eine Vefahrungsweise unseres Geistes. Man kann darauf das Vermögen beziehen, die Vorstellungen zu erweitern, indem man diejenigen verbindet, welche von derselben Art sind, wie wenn man z.B. aus mehreren Einheiten ein Dutzend bildet.

Theophilus. Ohne Zweifel ist auch die eine ebensogut zusammengesetzt wie die andere, aber die Zusammenstellung gleicher Vorstellungen ist einfacher als die verschiedener.

§ 7. Philalethes. Eine Hündin ernährt wohl junge Füchse, schwatzt mit ihnen und hat für sie ganz dieselbe Leidenschaft wie für ihre Zungen, wenn man es nur bewirken kann, daß die Füchslein ganz wie es sein muß, an ihr sangen, damit die Milch sich durch ihren ganzen Körper verbreitet. Auch scheint es nicht, daß die Tiere, welche mehrere Zungen zu gleicher Zeit haben, irgend eine Kenntnis von deren Zahl besitzen.

Theophilus. Die Liebe der Tiere stammt aus einem Lustgefühl, welches durch die Gewohnheit erhöht wird. Was jedoch die genaue Zahl betrifft, so können selbst die ansehen die Zahlen der Dinge nur durch irgend ein künstliches Hilfsmittel erkennen, wie wenn sie sich der Zahlwörter zum Zählen bedienen, welche gleich ohne Zählen erkennen lassen, ob etwas fehlt.

§ 10. Philalethes. Ebensowenig bilden die Tiere Abstraktionen.

Theophilus. Ich bin derselben Meinung. Sie erkennen[114] augenscheinlich die Weiße und bemerken sie in der Kreide wie im Schnee, aber das ist noch keine Abstraktion, denn diese fordert eine Auffassung des von dem Besonderen getrennten Gemeinsamen, und folglich gehört die Erkenntnis der allgemeinen Wahrheiten dazu, die den Tieren nicht verliehen ist. Auch bemerkt man sehr wohl, daß die Tiere, welche sprechen, sich der Worte nicht bedienen, nm allgemeine Vorstellungen auszudrücken, und daß die des Gebrauchs der Sprache und der Worte beraubten Menschen deswegen doch nicht unterlassen, sich andere allgemeine Zeichen zu machen. Ich freue mich außerordentlich, Sie hier, wie auch sonst, die Vorzüge der menschlichen Natur so richtig bemerken zu sehen.

§ 11. Philalethes. Wenn die Tiere Vorstellungen haben und nicht bloße Maschinen sind, wie einige es vorgeben, so können wir nicht leugnen, daß sie bis zu einem gewissen Grade Vernunft haben. Und was mich anbetrifft, so scheint es mir ebenso klar, daß sie Vernunft gebrauchen, als mir scheint, daß sie Gefühl haben. Aber ihr Vernunftgebrauch bezieht sich allein auf die besonderen Vorstellungen, je nachdem ihre Sinne sie ihnen darstellen.

Theophilus. Die Tiere gehen von einem Phantasiebild zu einem anderen durch die Verknüpfung über, welche sie früher bemerkt haben; wenn z.B. der Herr einen Stock nimmt, fürchtet der Hund, geschlagen zu werden. Und in vielen Fällen haben die Kinder ebenso wie die übrigen Menschen bei ihrem Übergang von einem Gedanken zum anderen kein anderes Verfahren. Dies könnte man in einem sehr erweiterten Sinn Folgerung und Vernunftgebrauch nennen. Aber ich ziehe vor, mich dem einmal angenommenen Gebrauch zu fügen, indem ich diese Worte den Menschen weihe und sie der Erkenntnis eines Grundes bei der Verknüpfung der Wahrnehmungen vorbehalte, welche die bloßen sinnlichen Empfindungen nicht geben können. Denn deren Wirkung ist nur, daß man naturgemäß ein anderes Mal dieselbe Verknüpfung, die man vorher bemerkt hat, erwartet, wenn auch die Gründe vielleicht nicht mehr dieselben sind: ein Umstand, welcher diejenigen oft täuscht, die sich nur durch die Sinne leiten lassen.

§ 13. Philalethes. Die Geistesschwachen entbehren der Lebhaftigkeit, Tätigkeit und Beweglichkeit im Denkvermögen,[115] wodurch sie sich des Gebrauchs der Vernunft beruht finden. Die Narren scheinen in dem entgegengesetzten Extrem zu sein, denn mir scheint nicht, daß sie das Vermögen des vernünftigen Denkens verloren haben, sondern sie nehmen gewisse von ihnen falsch verbundene Vorstellungen für Wahrheiten und täuschen sich auf dieselbe Art wie diejenigen, welche auf Grund falscher Prinzipien richtig schließen. So sehen Sie, daß ein Narr, welches König zu sein sich einbildet, durch eine richtige Folgerung verlangt, seiner Würde gemäß Bedienung, Ehre und Gehorsam zu finden.

Theophilus. Die Geistesschwachen gebrauchen nicht die Vernunft und unterscheiden sich darin von den Dummen eines gewissen Schlages, welche zwar ein gutes Urteil haben, aber, da sie nicht schnell fassen, verachtet und unbequem sind, wie derjenige sein würde, welcher mit angesehenen. Leuten L'hombre spielen wollte und zu lange und zu oft darüber nachdenken müßte, was er spielen soll. Ich erinnere mich, daß ein gescheiter Mann, welcher durch den Gebrauch starker Medikaments sein Gedächtnis verloren hatte, in diesen Zustand vorbei, aber seine Urteilskraft ließ sich immer erkennen. Einem Narren schlechthin fehlt dagegen fast bei jeder Gelegenheit das Urteil. Es gibt indessen Narren in Einzelheiten, welche sich eine falsche Voraussetzung über einen bedeutenden Punkt ihres Lebens bilden und darüber wie Sie sehr gut bemerkt haben, richtig weiter denken. Solch einer ist ein wohlbekannter Mann an einem gewissen Hofe, welcher sich dazu bestimmt glaubt, die Angelegenheiten der Protestanten zu ordnen und Frankreich zur Vernunft zu bringen, und daß Gott zu diesem Zweck die größten Persönlichkeiten durch seinen Körper hindurchgehen läßt, nm ihn zu veredeln: er verlangt alle ihm bekannten heiratsfähigen Prinzessinnen zu heiraten, aber erst nachdem er sie heilig gemacht hat, damit er eine heilige Nachkommenschaft erhalte, welche die Erde beherrschen soll. Er schreibt alle Übel des Krieges der geringen Beachtung seiner Ratschläge zu. Spricht er mit einem Souverän, so trifft er alle nötigen Maßregeln, um seiner Würde nichts zu vergeben. Wenn man mit ihm in Unterhaltung tritt, verteidigt er sich endlich so gut, daß ich mehr als einmal ungewiß gewesen bin, ob[116] seine Narrheit nicht Verstellung ist, denn er macht es gar zu gut. Die ihn indessen besser kennen, versichern mir, daß es ehrlich gemeint sei.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 113-117.
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