Kapitel XII.

Von den zusammengesetzten Vorstellungen

[117] Philalethes. Der Verstand läßt sich nicht übel mit einem ganz dunklen Zimmer vergleichen, welches nur einige kleine Öffnungen hat, nm von außen die äußeren sichtbaren Bilder einzulassen, dergestalt, daß wenn diese Bilder, welche sich in dem dunklen Zimmer abbilden, dort bleiben und in Ordnung aufgestellt werden könnten, so daß man sie gelegentlich finden könnte, zwischen diesem Zimmer und dem menschlichen Verstande große Ähnlichkeit sein würde.

Theophilus. Um die Ähnlichkeit noch zu vergrößern, müßte man annehmen, daß in dem dunklen Zimmer eine Leinwand, die Bilder aufzunehmen, ausgespannt wäre, die aber nicht eine ganz ebene, sondern eine durch Halten, welche die angeborenen Erkenntnisse darstellen, unterbrochene Fläche bildete, daß weiter diese ausgespannt Leinwand oder Haut eine Art Elastizität oder Wirkungskraft und selbst eine sowohl den älteren Falten als den neugekommenen Eindrücken der Bilder angepaßte Tätigkeit oder Reaktionskraft habe. Und zwar müßte diese Tätigkeit in gewissen Schwingungen oder Oszillationen bestehen, wie man solche an einer ausgespannten Saite bemerkt, wenn man sie berührt, dergestalt, daß sie eine Art von musikalischem Ton von sich gäbe. Denn wir empfangen nicht allein Bilder oder Spuren in unserem Gehirn, sondern formen auch neue, wenn wir zusammengesetzte Vorstellungen auffassen. So muß also die unser Gehirn veranschaulichende Leinwand tätig und elastisch sein. Diese Vergleichung würde das, was im Gehirn vor sich geht, ziemlich gut erklären, was aber die Seele anbetrifft, welche eine einfache Substanz oder Monade ist, so stellt diese ohne Ausdehnung dieselben Mannigfaltigkeiten der ausgedehnten Massen vor und hat eine Wahrnehmung desselben.[117]

§ 3. Philalethes. Die zusammengesetzten Vorstellungen sind nun entweder Modi oder Substanzen oder Relationen (Beziehungen).

Theophilus. Diese Unterscheidung der Gegenstände unseres Denkens in Substanzen, Modi und Relationen (Beziehungen) hat ganz meinen Beifall. Ich glaube, daß die Eigenschaften nur Modifikationen der Substanzen sind, und diesen fügt der Verstand die Relationen noch hinzu. Es folgt daraus mehr, als man denkt.

Philalethes. Die Modi sind entweder einfache (wie ein Dutzend, ein Schock, welche aus einfachen Vorstellungen derselben Art, d.h. aus Einheiten gebildet sind) oder gemischte (wie die Schönheit), zu denen einfache Vorstellungen verschiedener Arten gehören.

Theophilus. Vielleicht sind Dutzend und Schock nur Relationen und nur durch das Verhältnis zum Verstande gebildet. Die Einheiten sind für sich, und der Verstand faßt sie zusammen, mögen sie auch noch so zerstreut sein. Obgleich jedoch die Relationen aus dem Verstande stammen, sind sie doch nicht ohne Grund und Wirklichkeit. Denn der erste Verstand ist der Ursprung der Dinge, und selbst die Wirklichkeit aller Dinge, die einfachen Substanzen ausgenommen, besteht nur auf Grund der Wahrnehmungen der Erscheinungen der einfachen Substanzen, hinsichtlich der gemischten Modi verhält es sich häufig ebenso, d.h. man muß sie lieber den Relationen zuweisen.

§ 6. Philalethes. Die Vorstellungen der Substanzen sind gewisse Verknüpfungen einfacher Vorstellungen, durch welche man besondere und bestimmte Dinge dargestellt werden läßt, die durch sich selbst bestehen – unter wichen Vorstellungen man immer als den ersten und ursprünglichen den dunklen Begriff der Substanz betrachtet, die man, was sie auch an und für sich sein mag, ohne sie zu erkennen, voraussetzt.

Theophilus. Die Vorstellung der Substanz ist nicht so dunkel, als man denkt. Man kann von ihr erkennen, was nötig ist und was man an anderen Dingen auch erkennt; auch ist die Erkenntnis des Konkreten sogar immer früher, als die des Abstrakten; man erkennt das Warme eher, als die Wärme.[118]

§ 7. Hinsichtlich der Substanzen gibt es noch zwei Arten von Vorstellungen. Die eine ist die der einzelnen Substanzen, wie die eines Menschen oder eines Schafes, die andere die von mehreren Substanzen zusammengenommen, wie die eines Heeres von Menschen oder einer Schafherde; diese Sammelvorstellungen bilden auch eine einzige Vorstellung.

Theophilus. Mit dieser Vorstellungseinheit der Aggregate hat es ganz seine Richtigkeit, aber im Grunde muß man gestehen, daß solche Einheit von Sammelvorstellungen nur ein Rapport oder eine Relation ist, deren Begründung in dem liegt, was jede der einzelnen Substanzen für sich hat. So haben also diese aus Aggregation entstandenen Wesen keine andere völlige Einheit als eine geistige, und folglich ist auch ihre Wesenheit gewissermaßen eine geistige oder Erscheinungswesenheit, wie die des Regenbogens am Himmel.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 117-119.
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