Kapitel XIII.

Von den einfachen Modi und zunächst von denen des Raumes

[119] § 3. Philalethes. Der Raum, wenn er hinsichtlich der Länge, welche zwei Körper trennt, betrachtet wird, heißt Entfernung; hinsichtlich der Länge, Breite und Tiefe kann man ihn Raumerfüllung (Kapazität) nennen.

Theophilus. Um genauer zu sprechen, so ist die Entfernung zweier in räumlicher Lage befindlichen Dinge (mögen es Punkte oder Flächen sein) die Länge der möglich kleinsten Linie, welche man von dem einen zum andern ziehen kann. Diese Entfernung kann man entweder für sich oder in einer gewissen Figur, die die beiden voneinander entfernten Dinge mit in sich begreift, betrachten. Die gerade Linie z.B. ist für sich genommen die Entfernung zwischen zwei Punkten. Aber sind diese beiden Punkte in derselben Kugeloberfläche, so ist die Entfernung dieser beiden Punkte auf dieser Oberfläche die Länge des kleinsten Kreisbogens, welchen man von dem einen Punkte zum andern ziehen kann. Auch ist wichtig zu bemerken, daß die Entfernung nicht bloß[119] zwischen zwei Körpern, sondern auch zwischen den Flächen, Linien und Punkten stattfindet. Man kann sagen, daß die Raumerfüllung oder vielmehr der Zwischenraum zwischen zwei Körpern oder zwei anderen Flächen oder zwischen einer Flache und einem Punkte der durch alle diejenigen kürzesten Linien hergestellte Raum ist, welche man zwischen den Punkten des einen oder des anderen Gegenstandes ziehen kann. Dieser Zwischenraum ist erfüllt, ausgenommen, wenn die beiden in räumlicher Lage befindlichen Gegenstände in derselben Fläche liegen, und die kürzesten Linien zwischen den Punkten der in räumlicher Lage befindlichen Gegenstände müssen auch in diese Fläche fallen, wo sie für sich genommen werden müssen.

§ 4. Philalethes. Außer dem, was es in der Wirklichkeit gibt, haben die Menschen in ihrem Geiste die Vorstellungen gewisser bestimmter Längen festgesetzt, wie die eines Zolles oder Fußes.

Theophilus. Das können sie nicht. Denn es ist unmöglich, die deutlich bestimmte Vorstellung einer Länge zu haben. Man kann mittels des Geistes weder sagen noch begreifen, was ein Zoll oder ein Fuß ist. Und man kann die Bedeutung dieser Namen auch nur durch die wirklichen Maße berechnen, welche man als unveränderlich annimmt und durch die man sie immer wieder finden kann. Darum hat der englische Mathematiker Greave sich der ägyptischen Pyramiden, die schon lange gedauert haben und sicherlich noch eine Zeit dauern werden, zur Erhaltung unserer Masse bedienen wollen, indem er der Nachwelt die Verhältnisse bemerkte, welche sie zu gewissen bestimmten, auf einer dieser Pyramiden verzeichneten Längen haben. Allerdings hat man seit kurzem gefunden, daß die Pendel dazu dienen, die Masse zu verewigen (mensuris rerum ad posteros transsmittendis), wie die Herren Huygens, Ponton und Buratini, weiland Münzmeister von Polen, zu zeigen unternommen haben, indem sie das Verhältnis unserer Längenmaße zur Länge eines Pendels berechneten, welches genau eine Sekunde lang schwingt, d.h. den 86,400 sten Teil einer Drehung des Fixsternhimmels oder eines astronomischen Tages, worüber Buratini eine besondere Schrift abgefaßt hat, welche ich im Manuskript gesehen habe. Aber bei diesem Pendelmaß findet noch die Unvollkommenheit statt, daß man[120] sich auf gewisse Länder beschränken muß, denn nm die gleiche Zeit zu schwingen, bedürfen die Pendel unter dem Äquator eine kleinste Länge. Auch muß man noch die beständige Gleichheit des wirklichen Fundamentalmaßes voraussetzen, d.h. der Tagesdauer oder der Dauer einer Achsendrehung der Erde und sogar der Ursache ihrer Schwere, von anderen Umständen nicht zu reden.

§ 5. Philalethes. Indem wir bemerken, wie die äußersten Grenzen entweder durch gerade Linien, welche bestimmte Winkel bilden, oder durch krumme Linien, wobei man keinen (bestimmten) Winkel bemerken kann, endigen, bilden wir die Vorstellung der Figur.

Theophilus. Eine Flächenfigur wird durch eine oder mehrere Linien begrenzt, aber die Figur eines Körpers kann ohne bestimmte Linien begrenzt werden, wie z.B. die einer Kugel. Eine einzige gerade Linie oder ebene Fläche kann keinen Raum einschließen oder eine Figur ausmachen. Aber eine einzige Linie kann eine Flächenfigur einschließen, z.B. den Kreis, das Oval, ebenso wie eine einzige krumme Oberfläche eine körperliche Figur umschließen kann, wie die Kugel oder das Sphaeroid. Indessen können nicht allein mehrere gerade Linien oder ebene Oberflächen sondern auch mehrere krumme Oberflächen zusammentreffen und sogar miteinander Winkel bilden, wenn die eine nicht die Tangente der anderen ist. Es ist nicht leicht, von der Figur im allgemeinen nach dem Gebrauch der Geometer die Definition zu geben. Zu sagen, sie sei ein begrenztes Ausgedehntes, würde zu allgemein sein, denn eine gerade Linie z.B. wenngleich sie au beiden Enden begrenzt ist, ist keine Figur, und selbst zwei gerade Linien können nicht eine solche bilden. Zu sagen, sie sei ein durch ein Ausgedehntes begrenztes Ausgedehntes, ist nicht allgemein genug, denn die gesamte Kugeloberfläche ist eine Figur, und dennoch ist sie nicht durch irgend ein Ausgedehntes begrenzt. Man kann ferner sagen, daß die Figur ein solches begrenztes Ausgedehntes ist, in welchem es unendlich viel Wege von einem Punkte zum anderen gibt. Dies umfaßt die ohne Begrenzungslinien endigenden Oberflächen, welche die vorhergehende Definition nicht umfaßte und schließt die bloßen Linien aus, weil es von einem Punkte zum anderen bei einer Linie nur einen Weg oder doch eine bestimmte[121] Anzahl von Wegen gibt. Aber noch besser wird es sein zu sagen, daß die Figur ein solches begrenztes Ausgedehntes ist, welches einen ausgedehnten Schnitt zuläßt oder auch, welches Breite hat, ein Ausdruck, von dem man bis jetzt auch noch keine Definition gegeben hat.

§ 6. Philalethes. Wenigstens sind alle Figuren nichts anderes als einfache Modi des Raumes.

Theophilus. Die einfachen Modi wiederholen Ihrer Ansicht nach dieselbe Vorstellung, aber bei den Figuren kommt nicht immer die Wiederholung desselbigen vor. Die krummen sind von den geraden Linien und untereinander sehr verschieden. Somit weiß ich nicht, wie die Definition des einfachen Modus hier paßt.

§ 7. Philalethes. Man muß unsere Definitionen nicht allzustreng nehmen. Gehen wir aber von der Figur auf den Ort über. Wenn wir alle die Schachfiguren auf denselben Geldern des Schachbrettes wiederfinden, wo wir sie gelassen haben, so sagen wir, daß sie alle an derselben Stelle sind, obgleich das Schachbrett selbst versetzt sein mag. Wir sagen auch, daß das Schachbrett an demselben Orte steht, falls es an derselben Stelle der Kajüte des Schiffes bleibt, wenn auch das Schiff weitergesegelt ist. Man sagt auch, daß das Schiff an demselben Orte ist, vorausgesetzt, daß es dieselbe Entfernung hinsichts der benachbarten Länderteile innehält, wenn die Erde sich auch vielleicht gedreht hat.

Theophilus. Der Ort ist entweder ein besonderer, wenn man ihn hinsichtlich bestimmter Körper in Betracht zieht; oder ein allgemeiner, wenn er sich auf das Ganze bezieht und hinsichtlich dessen alle Veränderungen in bezug auf jeden beliebigen Körper in Rechnung gezogen werden. Und wenn es auch nichts Festes in der Welt gäbe, so würde der Ort eines jeden Dinges darum doch durch Vernunftschluß bestimmt werden können, wenn es möglich wäre, alle Veränderungen zu verzeichnen, oder wenn das Gedächtnis eines Geschöpfes dazu genügen könnte, wie man sagt, daß die Araber aus dem Gedächtnis und im Reiten Schach spielen. Auch was wir nicht begreifen können, kann darum dennoch durch die Wahrheit der Dinge bestimmt sein.

§ 15. Philalethes. Wenn mich jemand fragt, was der [122] Raum ist, so bin ich ihm das zu sagen bereit, wenn er mir erst sagt, was die Ausdehnung ist.

Theophilus. Ich würde ebensogut zu sagen wissen, was das Fieber oder irgend eine andere Krankheit ist, als ich glaube, daß die Natur des Raumes klar ist. Ausdehnung ist das Abstraktum von Ausgedehnt. Das Ausgedehnte ist aber ein Zusammenhangendes, dessen Teile koexistent sind oder zugleich da sind.

§ 17. Philalethes. Wenn man fragt, ob der Raum körperlos ist, ob er Substanz oder Akzidenz ist, so antworte ich ohne Zögern, daß ich davon nichts weiß.

Theophilus. Ich habe Ursache zu fürchten, daß ich der Eitelkeit angeklagt werde, indem ich bestimmen will, was Sie nicht zu wissen gestehen. Aber man kann mit Grund annehmen, daß Sie davon mehr wissen, als Sie sagen oder glauben. Einige haben geglaubt, daß Gott der Ort der Dinge ist. Dieser Ansicht waren Lessius und Guericke, wenn ich nicht irre; aber dann enthält der Ort etwas mehr, als wir dem Raum zuschreiben, dem wir jede Tätigkeit abzusprechen pflegen; und auf diese Weise ist er nicht mehr eine Substanz, als die Zeit, und wenn er Teile hat, kann er nicht Gott sein. Er ist eine Beziehung, eine Ordnung, nicht allein für die wirklichen, sondern auch für die möglichen Dinge, wie wenn sie wären. Aber seine Wahrheit und Wirklichkeit ist in Gott begründet, wie alle die ewigen Wahrheiten.

Philalethes. Ich stehe Ihrer Ansicht nicht fern, und Sie kennen den Spruch des h. Paulus, daß wir in Gott leben, weben und sind. So kann man den verschiedenen Betrachtungsweisen gemäß sagen, daß der Raum Gott ist, und ebenso kann man sagen, daß er nur eine Ordnung oder Relation ist.

Theophilus. Das Beste wird also sein zu sagen, daß der Raum eine Ordnung, Gott aber deren Quelle ist.

§ 19. Philalethes. Um jedoch zu wissen, ob der Raum eine Substanz ist, müßte man wissen, worin die Natur der Substanz im allgemeinen besteht. Aber das hat seine Schwierigkeit. Wenn Gott, die endlichen Geister und die Körper gemeinsam an demselben Wesen der Substanz teilnehmen, folgt daraus nicht, daß sie nur durch die verschiedene Modifikation dieser Substanz sich voneinander unterscheiden?

[123] Theophilus. Wenn diese Folgerung gälte, so würde auch daraus folgen, daß Gott, die endlichen Geister und die Körper, da sie gemeinschaftlich an demselben Wesen des Seins teilnehmen, nur durch die verschiedene Modifikation dieses Seins sich voneinander unterscheiden.

§ 19. Philalethes. Diejenigen, welche zuerst darauf gekommen sind, die Akzidenzien als eine Art realer Wesen zu betrachten, welche eines Dinges bedürfen, dem sie verknüpft sein müssen, sind gezwungen gewesen, das Wort Substanz zu ermüden, um den Akzidenzien als Stütze zu dienen.

Theophilus. Glauben Sie also, daß die Akzidenzien ohne Substanz bestehen könnend Oder wollen Sie, daß sie keine realen Wesen sein sollen? Es scheint, daß Sie sich ohne Grund Schwierigkeiten machen; auch habe ich schon darüber bemerkt, daß die Substanzen oder Concreta eher als die Akzidenzien oder Abstracta begriffen werden.

Philalethes. Die Worte Substanz und Akzidenz sind meiner Ansicht nach in der Philosophie von geringem Nutzen.

Theophilus. Ich gestehe anderer Meinung zu sein und glaube, daß die Betrachtung der Substanz einer der bedeutendsten und fruchtbarsten Punkte der Philosophie ist.

§ 21. Philalethes. Wir haben jetzt von der Substanz nur gelegentlich der Frage gesprochen, ob der Raum eine Substanz ist. Aber es genügt hier, daß er kein Körper ist. Auch wird niemand wagen, den Körper unendlich zu machen, wie den Raum.

Theophilus. Descartes und seine Anhänger haben gleichwohl erklärt, daß die Substanz keine Schranken hat, indem sie die Welt unbestimmt – unendlich machten, dergestalt, daß es uns nicht möglich sei, ihre äußersten Grenzen zu begreifen. Sie haben auch den Ausdruck unendlich mit einigem Grunde in unbestimmt – unendlich verändert, denn es gibt niemals ein unendliches Ganze in der Welt, obgleich es darin immer bis ins Unendliche Ganze gibt, von denen das eine größer ist als das andere. Sogar das Universum kann nicht für ein Ganzes gelten, wie ich anderswo gezeigt habe.

Philalethes. Diejenigen, welche die Materie und das Ausgedehnte für ein und dasselbe nehmen, behaupten, daß[124] die inneren Wände eines leeren hohlen Körpers sich berühren müßten. Der Raum aber zwischen zwei Körpern genügt, um ihre gegenseitige Berührung zu verhindern.

Theophilus. Ich bin Ihrer Meinung, denn obwohl ich keinen leeren Raum zugebe, unterscheide ich doch die Materie von der Ausdehnung und gestehe, daß, wenn es in einer Kugel einen leeren Raum gäbe, die entgegengesetzten Pole in der Höhlung sich dann doch nicht berühren würden. Ich glaube aber, daß dies kein Fall ist, den die göttliche Vollkommenheit zuläßt.

§ 23. Philalethes. Dennoch scheint die Bewegung den leeren Raum zu beweisen. Wenn der geringste Teil des geteilten Körpers so groß ist wie ein Senfkorn, so muß es einen leeren, der Größe eines Senfkornes gleichen leeren Raum geben, um zu bewirken, daß die Teile dieses Körpers zu freier Bewegung Platz haben. Es würde sich ebenso verhalten, wenn die Teile der Materie hundertmillionenmal kleiner wären.

Theophilus. Wenn die Welt voll harter Körperchen wäre, die nicht nachgeben noch geteilt werden könnten, wie man die Atome beschreibt, so würde es allerdings unmöglich sein, daß Bewegung stattfände. Aber es gibt in Wahrheit keine ursprüngliche Härter im Gegenteil ist die Flüssigkeit ursprünglich und teilen die Körper sich nach Bedürfnis, wenn nichts ist, was sie daran hindert. Dieser Umstand raubt dem von der Bewegung hergenommenen Argument für den leeren Raum jede Bedeutung.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 119-125.
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