Kapitel XIX.

Von den Modi, welche das Denken betreffen

[136] § 1. Philalethes. Von den aus den Sinnen stammenden Modi wollen wir zu denen übergehen, welche die Region uns gibt. Die Sinnlichkeit ist sozusagen der wirkliche Eingang der Vorstellung in den Verstand mittels der Sinne. Wenn dieselbe Vorstellung in den Geist zurückkehrt, ohne daß der äußere Gegenstand, der sie zuerst entstehen ließ, auf unsere Sinne wirkt, so heißt dieser Akt des Geistes Wiedererinnerung; wenn der Geist sie sich zurückzurufen sucht und endlich nach einiger Anstrengung sie findet und sich vergegenwärtigt, so ist das: Sich auf etwas besinnen. Wenn der Geist lange mit Aufmerksamkeit die Vorstellung verfolgt, so ist das Betrachtung (Kontemplation) wenn die Vorstellung, welche wir im Geiste haben, daselbst sozusagen schwankt, ohne daß der Verstand darauf merkt, so kann man das Träumen nennen. Wenn er auf die Vorstellungen reflektiert, die sich von selbst darbieten, und man sie im Gedächtnis sozusagen einregistriert, so ist das Aufmerksamkeit, und wenn der Geist sich auf eine Idee mit viel Nachdenken vertieft, so daß er sie von allen Seiten betrachtet und sich nicht von ihr wenden will, trotzdem daß andere Vorstellungen ihm in die Quere kommen, so nennt man das Studium oder Anspannung des Geistes. Der von keinem Traum begleitete Schlaf ist ein Auf hören von diesem allem, und träumen heißt, Vorstellungen im Geiste haben, während die äußeren Sinne verschlossen sind, so daß sie den Eindruck der äußeren Gegenstände nicht mit derjenigen Lebhaftigkeit empfangen, welche ihnen gewöhnlich ist. Träumen ist, sage ich, Vorstellungen haben, ohne daß sie durch irgend einen Gegenstand von außen oder durch irgend eine bekannte Veranlassung dargeboten und ohne daß sie vom Verstand gewählt oder in irgend einer Weise bestimmt worden sind. Was die sogenannte Ekstase anbetrifft, so überlasse ich anderen, darüber zu urteilen, wenn es nicht etwa ein Träumen mit offenen Augen ist.

Theophilus. Es ist wichtig, diese Begriffe klar zu machen, und ich will dazu beizutragen versuchen. Ich[136] sage also: Sinnliche Wahrnehmung ist, wenn man eines äußeren Gegenstandes sich bewußt wird; die Wiedererinnerung aber ist die Wiederholung davon, ohne daß der Gegenstand wiederkehrte wenn man aber weiß, daß man sie gehabt hat, so ist es Angedenken. Man nimmt gewöhnlich das Sichbesinnen in einem anderen als in dem von Ihnen aufgestellten Sinne, nämlich für einen Zustand, wo man sich von Handlungen fernhält, nm sich mit Nachdenken zu beschäftigen. Da es aber, soviel ich weiß, kein Wort gibt, das mit Ihrem Begriffe übereinstimmt, so könnte man das von Ihnen angewandte dazu gebrauchen. Wir haben auf diejenigen Gegenstände Aufmerksamkeit, welche wir von den übrigen unterscheiden und ihnen vorziehen. Wenn die Aufmerksamkeit im Geiste andauert, mag nun der äußere Gegenstand verharren oder nicht, und gleichviel, ob er selbst vorhanden sein mag oder nicht, so heißt das Betrachtung, welche, wenn sie zur bloßen Erkenntnis ohne Beziehung zum handeln strebt, Kontemplation heißen mag. Diejenige Aufmerksamkeit, deren Zweck ist zu lernen (d.h. Erkenntnisse zu erwerben, um sie zu behalten), heißt Studium. Betrachtung, um irgend einen Entwurf zu bilden, heißt Nachdenken (Meditieren); aber Träumen scheint nichts anderes zu sein, als gewissen bedanken des Vergnügens wegen, das man an ihnen hat, nachgehen, ohne einen anderen Zweck dabei zu haben. Damm kann das Träumen zur Narrheit führen; man vergißt sich, vergißt das ›dic cur hic‹, gelangt an Traumbilder und Chimären und baut Luftschlösser. Wir können die Träume von den sinnlichen Empfindungen nur dadurch unterscheiden, daß sie mit ihnen nicht verbunden sind, sondern eine besondere Welt für sich bilden. Der Schlaf ist ein Aufhören sinnlicher Empfindungen, und auf diese Weise ist die Ekstase ein sehr tiefer Schlaf, aus dem man nur mühsam geweckt werden kann, und der aus einer vorübergehenden inneren Ursache stammt. Dies wird hinzugefügt, nm dadurch jenen tiefen Schlaf auszuschließen, der von einem narkotischen Mittel oder irgend einer dauernden Verletzung der Lebensverrichtungen herkommt, wie es in der Lethargie der Fall ist. Die Ekstasen sind mitunter von Gesichten begleitet, aber deren gibt es auch ohne Ekstase, und das Gesicht ist,[137] wie es scheint, nichts anderes als ein Traum, welcher für eine sinnliche Wahrnehmung gilt, als ob er uns wahrhaftige Gegenstände darstellte. Und wenn diese Gesichte göttliche sind, so ist in der Tat Wahrheit darin enthalten, was erkannt werden kann, wenn sie z.B. ins einzelne eingehende Weissagungen enthalten, welche der Ausgang bestätigt.

§ 4. Philalethes. Aus den verschiedenen Graden der Anspannung oder Abspannung des Geistes folgt, daß der Gedanke die Handlung und nicht die Wesenheit der Seele ist.

Theophilus. Zweifelsohne ist der Gedanke eine Handlung und kann nicht das Wesen sein; aber er ist eine wesentliche Handlung, und alle Substanzen haben dergleichen. Ich habe vorhin gezeigt, daß wir immer eine Unendlichkeit von schwachen Wahrnehmungen haben, ohne uns derselben bewußt zu sein. Wir sind niemals ohne Wahrnehmungen, aber wir sind notwendigerweise oft ohne Bewußtsein derselben, wenn wir nämlich nicht deutlich hervortretende Wahrnehmungen haben. Aus mangelnder Erwägung dieses wichtigen Punktes hat eine mattherzige und ebenso unedle wie oberflächliche Philosophie bei so vielen wackeren Geistern dazu geführt, daß wir bisher fast nichts von dem Allerbesten, was es in den Seelen gibt, gewußt haben. Dies ist auch der Grund, daß man in jenem Irrtum, welcher die Vergänglichkeit der Seelen lehrt, so viele Wahrscheinlichkeit gefunden hat.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 136-138.
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