Kapitel XVI.

Von der Zahl

[130] § 4. Philalethes. Bei den Zahlen sind die Vorstellungen bestimmter und eher zur Unterscheidung voneinander geeignet als bei der Ausdehnung, wo man nicht jede Gleichheit oder Ungleichheit der Größe so leicht wie bei den Zahlen beobachten oder messen kann, aus dem Grunde, daß wir im Raum durch das Denken nicht bis zu einer bestimmten geringen Größe gelangen können, über welche wir nicht hinausgehen könnten, wie die Einheit in der Zahl eine solche ist.

Theophilus. Das muß von den ganzen Zahlen verstanden werden. Denn sonst ist die Zahl in ihrer ganzen Ausdehnung gefaßt, mit Einschluß der irrationalen, gebrochenen und transzendenten und allem, was sich als zwischen zwei ganzen Zahlen liegend auffassen läßt, der Linie proportional, und findet dabei ebensowenig ein Kleinstes statt wie im Kontinuierlichen. Auch gilt jene Definition, daß die Zahl eine Menge Einheiten ist, nur für die ganzen. Die genaue Unterscheidung der Vorstellungen in der Ausdehnung besteht nur in der Größe; denn um die Größe bestimmt zu erkennen, muß man auf die ganzen Zahlen oder zu den anderen zurückgehen, welche man mittels der ganzen erkannt hat, wie man von der kontinuierlichen Größe zur diskreten seine Zuflucht nehmen muß, um eine deutliche Erkenntnis der Größe zu erlangen. Die Modifikationen der Ausdehnung können also, wenn man sich nicht der Zahlen bedient,[130] nur durch die Gestalt unterschieden werden, wenn man dabei dies Wort so allgemein nimmt, daß es alles das bezeichnet, was bewirkt, daß zwei ausgedehnte Dinge nicht einander gleich sind.

§ 5. Philalethes. Wenn man die Vorstellung der Einheit wiederholt und zu einer Einheit eine andere fügt, so machen wir daraus eine Kollektivvorstellung, welche wir zwei nennen. Und wer dies tun und immer eins weiter bis zur letzten Kollektivvorstellung gehen kann, welcher er einen besonderen Namen gibt, kann zählen, solange es eine Folge von Namen gibt, und er Gedächtnis genug hat um dieselbe zu behalten.

Theophilus. Auf diese Art allein wird man nicht weit kommen. Denn das Gedächtnis würde zu sehr beschwert werden, wenn man für jede Zuzählung einer neuen Einheit einen ganz neuen Namen behalten müßte. Daher ist eine gewisse Ordnung und eine bestimmte Wiederholung in diesen Namen nötig, indem man einer bestimmten Progression gemäß wieder von neuem anfängt.

Philalethes. Die verschiedenen Modi der Zahlen sind keiner anderen Verschiedenheit fähig als der des Mehr oder Weniger; darum sind es einfache Modi, wie die der Ausdehnung.

Theophilus. Das kann man von der Zeit und von der geraden Linie sagen, aber keineswegs von den Figuren und noch weniger von den Zahlen, die nicht allein an Größe verschieden, sondern auch einander unähnlich sind. Eine gerade Zahl kann in zwei gleiche geteilt werden, aber nicht eine ungerade. Drei und sechs sind Dreieckszahlen, vier und neun sind Quadratzahlen, acht ist eine Kubikzahl usw., und das gilt von den Zahlen noch mehr als bei den Figuren; denn zwei ungleiche Figuren können einander vollkommen ähnlich sein, niemals aber zwei ungleiche Zahlen. Aber ich wundere mich nicht, daß man sich so oft darüber tuscht, weil man gewöhnlich keine deutliche Vorstellung von dem hat, was ähnlich und unähnlich ist. Sie sehen also, daß Ihre Vorstellung oder Ihre Anwendung der einfachen und gemischten Modifikationen einer bedeutenden Abänderung bedarf.

§ 6. Philalethes. Sie haben recht, zu bemerken, daß es gut sei, den Zahlen Eigennamen zu geben, um sie zu[131] behalten. Ich halte es also für passend, daß man beim Zählen, statt Million mal Million zu sagen, der Abkürzung wegen Billion sage, und statt Million mal Million mal Million oder Million mal Billion, Trillion sage, und so fort bis zur Nonillion; denn beim Gebrauch der Zahlen weiter zu gehen, hat man nicht nötig.

Theophilus. Diese Bezeichnungen sind ganz gut. Wenn x = 10 ist, so wäre eine Million = x6 eine Billion = x12, eine Trillion = x18 usw. und eine Nonillion = x54.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 130-132.
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