Kapitel XVII.

Von der Unendlichkeit

[132] § 1. Philalethes. Einer der wichtigsten Begriffe ist der des Endlichen und des Unendlichen, welche als Modi der Größe betrachtet werden.

Theophilus. Eigentlich zu sprechen, gibt es allerdings eine Unendlichkeit von Dingen, d.h. stets mehr, als man bezeichnen kann. Aber es gibt keine unendliche Zahl noch Linie, noch irgend eine andere unendliche Menge, wenn man sie für wirkliche Ganze nimmt, wie leicht zu zeigen ist. Das haben die Schulen sagen wollen oder sollen, indem sie ein syncategorematisches Unendliches, wie sie sich ausdrücken, zuließen. Das wahre Unendliche ist, strenggenommen, nur im Absoluten, welches jeder Zusammensetzung vorausgeht und nicht durch Zusammenfügen von Teilen gebildet ist.

Philalethes. Wenn wir unsere Vorstellung des Unendlichen auf das erste Seiende anwenden, so tun wir es gewöhnlich in Hinsicht auf seine Dauer und seine Allgegenwart, und figürlicher hinsichtlich seiner Macht, Weisheit, Güte und seiner übrigen Attributs.

Theophilus. Nicht figürlicher, sondern weniger unmittelbar, weil die anderen Attribute ihre Größe durch die Beziehung zu denen erkennbar machen, bei denen die Inbetrachtnahme der Teile stattfindet.

§ 2. Philalethes. Ich nahm es für ausgemacht, daß der Geist das Endliche und das Unendliche als Modifikationen der Ausdehnung und der Dauer betrachtet.

[132] Theophilus. Ich finde nicht, daß dies ausgemacht wäre. Die Inbetrachtnahme des Endlichen und des Unendlichen findet überall da statt, wo es Größe und Menge gibt. Auch ist das wahrhafte Unendliche keine Modifikation; es ist das Absoluter dagegen, so wie man modifiziert, beschränkt man sich oder bildet ein Endliches.

§ 3. Philalethes. Wir haben geglaubt, daß, da die Macht des Geistes, seine Vorstellung des Raumes durch neue Zusätze ohne Ende auszudehnen, immer dieselbe ist, er die Vorstellung des unendlichen Raumes daher entlehnt.

Theophilus. Man tut wohl, dabei hinzuzufügen, daß dies der Fall ist, weil man sieht, daß dasselbe Verhältnis immer bleibt. Nehmen wir eine gerade Linie und verlängern wir sie dergestalt, daß sie das Doppelte von der ersten ist, so ist klar, daß die zweite, welche der ersten vollkommen gleich ist, ebenso verdoppelt werden kann, um eine dritte zu haben, welche auch den früheren gleich ist, und da dasselbe Verhältnis immer statt hat, so wird man unmöglich jemals aufgehaltene es kann also die Linie bis ins Unendliche dergestalt verlängert werden, daß die Anschauung des Unendlichen aus der der Ähnlichkeit oder des nämlichen Verhältnisses entspringt, und ihr Ursprung derselbe ist, wie der der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten. Dies zeigt, daß dasjenige welche dem Begreifen dieser Vorstellung Vollzug gibt, sich in uns findet und aus Sinneserfahrungen nicht kommen kann, ganz so, wie die notwendigen Wahrheiten weder durch Induktion, noch durch Sinnlichkeit bewiesen werden können. Die Vorstellung des Absoluten ist innerlich in uns, wie die des Seins. Diese Bestimmungen des Absoluten sind nichts anderes als die Attribute Götter und man kann sagen, daß sie nicht weniger die Quelle der Vorstellungen sind, als Gott selbst das Prinzip der Wesen ist. Die Vorstellung des Absoluten hinsichtlich des Raumes ist nichts anderes als die der Unermeßlichkeit Gottes, und so der anderen. Aber man täuscht sich, wenn man sich einen absoluten Raum in der Einbildung vorstellen will, der ein aus Teilen zusammengesetztes unendliches Ganze sein soll. So etwas gibt nicht. Es ist das ein Begriff, der in sich widersprechend ist, und jene unendlichen Ganzheiten und ihr Gegenteil,[133] die unendlichen Kleinheiten, haben nur in der mathematischen Berechnung Sinn, ganz wie die eingebildeten Wurzeln der Algebra.

§ 6. Philalethes. Man erkennt auch die Größe, ohne in derselben Teile außer den Teilen anzunehmen. Wenn ich meiner vollkommensten Vorstellung vom blendendsten Weiß eine andere von gleichem, nicht minder lebhaftem Weiß hinzufüge (denn ich kann derselben nicht die Vorstellung eines mehr Weißen als dessen, wovon ich schon die Vorstellung habe, hinzufügen, da ich das schon als das blendendste voraussetze, was ich wirklich vorzustellen vermag), so vermehrt oder vergrößert dies meine Vorstellung in keiner Weiser man nennt darum die verschiedenen Vorstellungen des Weißen Grade.

Theophilus. Ich verstehe nicht die Beweiskraft dieser Betrachtung, denn es hindert doch nichts, daß man die Wahrnehmung einer noch blendenderen Weiße empfangen mag, als die, welche man wirklich hat. Die wahre Ursache, warum man Grund zu glauben hat, daß die Weiße nicht bis ins Unendliche gesteigert werden kann, ist, daß es keine ursprüngliche Eigenschaft ist, indem die Sinne nur eine verwirrte Erkenntnis davon geben und man, wenn man eine deutliche davon haben würde, sehen würde, daß sie von der Struktur der Körper stammt und sich auf die des Sehorgans beschränkt. Hinsichtlich der ursprünglichen oder deutlich erkennbaren Eigenschaften sieht man aber, daß man mitunter bis zum Unendlichen nicht nur da gehen kann, wo Ausdehnung (Extension) stattfindet oder, wenn Sie wollen, Ausbreitung (Diffusion) oder das, was die Schule ›partes extra partes‹ nennt (Teile außer den Teilen), wie bei der Zeit und dem Orte, sondern auch da, wo Intension ist oder Grade sind, wie z.B. hinsichtlich der Schnelligkeit.

§ 8. Philalethes. Wir haben nicht die Vorstellung eines unendlichen Raumes, und nichts ist klarer, als der Widersinn einer wirklichen Vorstellung einer unendlichen Zahl.

Theophilus. Ich bin derselben Ansicht. Aber das ist nicht der Fall, weil man nicht die Vorstellung des Unendlichen haben kann, sondern weil ein Unendliches nicht ein wahres Ganze sein kann.[134]

§ 16. Philalethes. Aus dem nämlichen Grunde haben wir also keine positive Vorstellung einer unendlichen Dauer oder der Ewigkeit, ebensowenig wie der Unermeßlichkeit.

Theophilus. Ich glaube, daß wir die positive Vorstellung der einen und der anderen haben, und daß diese Vorstellung wahr ist, falls man sie nicht als ein unendliches Ganze versteht, sondern als ein absolutes oder schrankenloses Attribut, welches sich hinsichtlich der Ewigkeit in der Notwendigkeit des Daseins Gottes findet, ohne daß man darin Teile wahrnimmt oder den Begriff davon durch eine Zusammenzählung der Zeiten bildet, Man sieht daraus auch, wie ich schon gesagt habe, daß der Ursprung des Begriffs des Unendlichen aus derselben Quelle stammt wie der der notwendigen Wahrheiten.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 132-135.
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