Kapitel XXII.

Von den gemischten Modi

[200] § 1. Gehen wir zu den gemischten Modi über. Ich unterscheide sie von den einfacheren Modi, die nur aus einfachen Vorstellungen derselben Gattung zusammengesetzt sind. Übrigens sind die gemischten Modi gewisse Verbindungen einfacher Vorstellungen, die man nicht als charakteristische Merkmale irgend eines wirklichen Wesens, das ein beständiges Dasein hat, sondern als lose und unabhängige Vorstellungen betrachtet, welche der Geist zusammenfaßt; und dadurch sind sie von den zusammengesetzten Vorstellungen der Substanzen verschieden.

Theophilus. Um dies richtig zu verstehen, muß man sich die vorher gemachten Einteilungen zurückrufen. Ihrer Ansicht nach sind die Vorstellungen einfach oder zusammengesetzt. Die zusammengesetzten sind entweder Substanzen oder Modi oder Relationen. Die Modi sind entweder einfache (aus einfachen Vorstellungen derselben Art zusammengesetzte) oder gemischte. Ihrer Ansicht nach gibt es also einfache Vorstellungen, Vorstellungen von Modi, sowohl der einfachen als der gemischten, Vorstellungen von Substanzen und Vorstellungen von Relationen. Vielleicht könnte man die Bezeichnungen oder Objekte der Vorstellungen in abstrakte und konkrete einteilen: die abstrakten in absolute und in solche, welche die Relationen ausdrücken, die absoluten in Attribute und Modifikationen; die einen wie die anderen in einfache und zusammengesetzte; die konkreten in Substanzen und in substantielle, zusammengesetzte oder aus wirklichen, einfachen Substanzen gebildete Dinge.

§ 2. Philalethes. Lediglich leidend ist der Geist in betreff seiner einfachen Vorstellungen, die er empfängt, je nachdem die sinnliche Empfindung und die Reflexion[200] sie ihm darbieten. Aber oft ist er aus sich selbst in betreff der gemischten Modi tätig, denn er kann die einfachen Vorstellungen miteinander verbinden, indem er zusammengesetzte bildet, ohne in Betracht zu ziehen, ob sie so vereinigt in der Natur vorhanden sind. Aus diesem Grunde gibt man solchen Arten von Vorstellungen den Namen Begriff.

Theophilus. Die Reflexion aber, welche uns einfache Vorstellungen denken macht, ist oft auch freiwillig, und es können ferner die Verbindungen, welche die Natur nicht gemacht hat, wie von selbst in uns durch das bloße Gedächtnis in den Träumen und Phantasien gebildet werden, ohne daß der Geist dabei mehr als in den einfachen Vorstellungen tätig ist. Was aber das Wort Begriff anbetrifft, so wenden mehrere dasselbe bei allen Arten von Vorstellungen oder Denkbildern an, sowohl bei den ursprünglichen als den abgeleiteten.

§ 4. Philalethes. Die Bezeichnung mehrerer in eine einzige verknüpfter Vorstellungen heißt Name.

Theophilus. Das heißt, wenn sie verbunden werdende können, worin man oft fehlt.

Philalethes. Da das Verbrechen, einen Greis zu töten, keinen Namen, wie der Vatermord, hat, so betrachtet man das erstere nicht als eine zusammengesetzte Vorstellung.

Theophilus. Der Grund, warum der Mord eines Greises keinen Namen hat, ist, daß er, da die Gesetze keine besondere Strafe darauf gesetzt haben, von geringem Nutzen sein würde. Indessen hangen die Vorstellungen nicht von den Namen ab. Ein Moralist, der für das Verbrechen einen erfinden und in einem besonderen Kapitel vom Greisenmord (der Gerontophonie) handeln wollte, indem er zeigte, was man den Greisen schuldig ist und welch eine barbarische Handlungsweise es ist, sie nicht zu verschonen, würde uns darum keine neue Vorstellung verschaffen.

§ 6. Philalethes. Der Umstand, daß die Sitten und Gebräuche einer Nation die ihr gewöhnlichen Verbindungen zuwege bringen, macht allerdings, daß jede Sprache besondere Ausdrücke hat und man wörtliche Übersetzungen nicht machen kann. So waren der Ostrazismus bei den Griechen und die Proskription beiden Römern Worte, welche die anderen Sprachen durch entsprechende Worte[201] nicht ausdrücken können. Deshalb bringt die Veränderung der Sitten auch neue Wörter hervor.

Theophilus. Daran hat auch der Zufall seinen Teil, denn wenn z.B. die Franzosen sich der Pferde so gut wie andere benachbarte Völker bedienen, so sind sie doch gezwungen, da sie ihr altes Wort, das dem cavalcar der Italiener entsprach, aufgegeben haben, mit einer Umschreibung zu sagen: aller à cheval.

§ 9. Philalethes. Wir gewinnen die Vorstellungen der gemischten Modi durch die Beobachtung, wie wenn man zwei Menschen kämpfen sieht; wir gewinnen sie ferner durch Erfindung (oder freiwillige Zusammensetzung einfacher Vorstellungen), wie derjenige, welcher die Buchdruckerkunst erfand, die Vorstellung davon hatte, bevor diese Kunst bestand. Endlich erwerben wir sie durch die Erklärung der den Handlungen, die man niemals gesehen hat, beigelegten Ausdrücke.

Theophilus. Man kann sie auch noch gewinnen durch Träumen und Phantasieren, ohne daß die Verknüpfung freiwillig ist, z.B. wenn man im Traume goldene Paläste sieht, ohne vorher daran gedacht zu haben.

§ 10. Philalethes. Die am meisten modifizierten einfachen Vorstellungen sind die des Denkens, der Bewegung und der Macht, von der man die Tätigkeiten herkommend vorstellt, denn die große Angelegenheit des menschlichen Geschlechts besteht in der Tätigkeit. Alle Tätigkeiten sind Gedanken oder Bewegungen. Die Macht oder Fähigkeit, etwas zu tun, welche sich bei einem Menschen findet, bildet diejenige Vorstellung, welche wir Fertigkeit nennen, wenn man diese Macht dadurch erlangt hat, daß man oft dasselbe tut; und wenn man sie bei jeder sich darbietenden Gelegenheit ausüben kann, nennen wir sie Disposition. So ist die Zärtlichkeit eine Disposition zur Freundschaft oder zur Liebe.

Theophilus. Unter Zärtlichkeit verstehen Sie hier, glaube ich, das zärtliche Herz, aber übrigens, scheint mir, betrachtet man die Zärtlichkeit als eine Eigenschaft, welche man als Liebender besitzt, wodurch der Liebende für die Güter und Übel des geliebten Gegenstandes sehr empfindlich gestimmt ist; darin, wie mir scheint, besteht die Rolle des Zärtlichen in dem trefflichen Roman Clelia. Und da die Liebreichen ihren Nächsten mit einem gewissen[202] Grad von Zärtlichkeit lieben, so sind sie gegen die Güter und Übel des Nächsten empfindlich; und überhaupt haben diejenigen, welche ein zärtliches Herz haben, die Disposition, mit Zärtlichkeit zu lieben.

Philalethes. Die Kühnheit ist das Vermögen, vor den anderen zu tun oder zu sagen, was man will, ohne sich einschüchtern zu lassen, welches Selbstvertrauen in bezug auf diesen letzteren Punkt, welcher das Reden betrifft, bei den Griechen einen besonderen Namen hatte.

Theophilus. Man würde gut tun, wenn man demjenigen Begriff, welchem man hier den Namen der Kühnheit beilegt, den man aber oft ganz anders anwendet wie bei der Bezeichnung »Karl der Kühner« ein besonderes Wort gäbe. Sich nicht einschüchtern zu lassen, ist eine Geistesstärke, welche aber die Bösen mißbrauchen, wenn sie bis zur Unverschämtheit gehen, wie, sich zu schämen, eine wenn auch entschuldbare und unter gewissen Umständen selbst löbliche Schwäche ist. Was die Parrhesie betrifft, welche Sie vielleicht mit dem griechischen Ausdruck meinen, so schreibt man sie auch den Schriftstellern zu, welche die Wahrheit ohne Scheu sagen, obgleich sie dann nicht vor den Leuten sprechen und also keine Veranlassung haben, eingeschüchtert zu sein.

§ 11. Philalethes. Wie die Macht die Quelle ist, aus der alle Tätigkeiten fließen, so gibt man den Namen Ursache den Substanzen, welche der Sitz der Macht und, wenn sie ihre Macht betätigen; und Wirkungen nennt man die auf diese Art hervorgebrachten Substanzen oder vielmehr die einfachen Vorstellungen (d.h. Gegenstände einfacher Vorstellungen), welche durch die Ausübung der Macht einem Subjekt zugeführt worden sind. Die Wirksamkeit, wodurch eine neue Substanz oder Vorstellung (Eigenschaft) hervorgebracht wird, wird in dem dies Vermögen ausübenden Subjekt Handlung genannt, und in einem Subjekt, wo eine einfache Vorstellung (Eigenschaft) verändert oder hervorgebracht wird, nennt man sie Leiden.

Theophilus. Wenn die Macht für die Quelle der Handlung genommen wird, so bedeutet sie etwas mehr als eine Fertigkeit oder Leichtigkeit, durch welche die Macht im vorigen Kapitel erklärt worden ist, denn sie schließt auch die Strebung noch in sich, wie ich schon mehr als einmal[203] bemerkt habe. In diesem Sinne pflege ich ihr darum den Ausdruck Entelechie beizulegen, welche entweder ursprünglich ist und der Seele entspricht, wenn man sie für etwas Abstraktes ansieht, oder abgeleitet, so wie man sie in dem Versuch (Conatus) und der Kraft und Strebsamkeit betrachtet. Der Ausdruck Ursache wird hier nur von der wirklichen Ursache (causa efficiens) verstanden, aber man versteht sie auch noch von den Endursachen oder dem Motiv, um hier nicht von dem Stoffe und der Form zu reden, die man in den Schulen auch Ursache nennt. Ich weiß nicht, ob man sagen kann, daß dasselbe Wesen in dem Tätigen Handlung und in dem Leidenden Leiden genannt werden und sich so in zwei Subjekten zugleich vorfinden kann, wie es bei der Beziehung der Fall ist, und ob es nicht vorzuziehen ist zu sagen, daß es zwei Wesen sind, eines in dem Tätigen und das andere in dem Leidenden.

Philalethes. Verschiedene Worte, welche eine Handlung auszudrücken scheinen, bedeuten nur die Ursache und die Wirkung, wie die Schöpfung und Vernichtung keine Vorstellung von der Handlung oder Art und Weise zu handeln, sondern einfach von der Ursache und dem hervorgebrachten Dinge in sich schließen.

Theophilus. Ich gebe zu, daß, wenn man an die Schöpfung denkt, man darunter nicht eine näherer Auseinandersetzung fähige Art und Weise zu handeln, die dabei gar nicht stattfinden kann, versteht; sondern weil wir etwas Mehreres als bloß Gott und die Welt damit ausdrücken – denn man denkt, daß Gott die Ursache und die Welt die Wirkung ist, oder eigentlich, daß Gott die Welt hervorgebracht hat – so denkt man offenbar noch an die Handlung.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 200-204.
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