Kapitel XXIX.

Von den klaren und dunklen, deutlichen und verworrenen Vorstellungen

[248] § 2. Philalethes. Wir wollen jetzt zu einigen Unterschieden der Vorstellungen kommen. Unsere einfachen Vorstellungen sind klar, wenn sie ebenso sind, wie[248] die Gegenstände selbst, von denen man sie empfängt, und dieselben mit allen zu einer wohlgeordneten Empfindung oder Wahrnehmung erforderlichen Umständen darstellen oder darstellen können. Wenn das Gedächtnis sie auf diese Art bewahrt, so sind es in diesem Falle klare Vorstellungen, und in dem Maße, als es ihnen an dieser ursprünglichen Genauigkeit fehlt, oder sie, sozusagen, von ihrer ersten Frische verloren haben und mit der Zeit getrübt und verwelkt sind, in dem Maße sind sie dunkel. – Die zusammengesetzten Vorstellungen sind klar, wenn die sie bildenden einfachen klar sind, und Zahl und Ordnung dieser einfachen Vorstellungen feststeht.

Theophilus. Ich habe in einer kleinen in die Leipziger Acta im Jahre 1684 eingerückten Abhandlung über die wahren und falschen, klaren und dunklen, deutlichen und verworrenen Vorstellungen eine Definition von den klaren Vorstellungen gegeben, die den einfachen und zusammengesetzten gemeinsam zukommend über das hier gesagte Rechenschaft gibt. Ich nenne also eine Vorstellung klar, wenn sie genügt, etwas zu erkennen und zu unterscheiden; wie ich z.B., wenn ich eine ganz klare Vorstellung von einer Farbe habe, nicht eine andere für die von mir gemeinte nehmen werde, und wenn ich eine klare Vorstellung von einer Pflanze habe, sie von andern ähnlichen unterscheiden kann; sonst ist die Vorstellung dunkel. Ich glaube, daß wir von den sinnlichen Dingen nicht vollständig klare Vorstellungen haben. Es gibt Farben, die einander so nahe stehen, daß man sie im Gedächtnis nicht voneinander unterscheiden kann, und die man gleichwohl mitunter unterscheidet, wenn man die eine neben die andere hält. Und wenn wir eine Pflanze gut beschrieben zu haben glauben, so wird man eine solche aus Indien uns bringen können, die alles das haben wird, was wir in unserer Beschreibung gesagt haben, und die sich dennoch als eine andere Spezies zeigen mag; somit werden wir niemals vollkommen die untersten Spezies (species infimas) bestimmen können.

§ 4. Philalethes. So wie eine klare Vorstellung diejenige ist, von welcher der Geist eine volle und evidente Wahrnehmung der Art hat, wie er sie von einem äußeren[249] Objekt empfängt, das auf ein richtig gestimmtes Werkzeug gehörig wirkt, ebenso ist eine deutliche Vorstellung diejenige, wo der Geist einen dieselbe von jeder anderen Vorstellung unterscheidenden Unterschied bemerkt, und eine verworrene Vorstellung diejenige, welche man nicht hinlänglich von einer anderen, von der sie verschieden sein soll, unterscheiden kann.

Theophilus. Nach dem von Ihnen gegebenen Begriff der deutlichen Vorstellung sehe ich kein Mittel, sie von der klaren Vorstellung zu unterscheiden. Ich pflege darum hierbei dem Sprachgebrauch Descartes' zu folgen, bei welchem eine Vorstellung zugleich klar und verworren sein kann, und solcher Art sind die Vorstellungen der den Sinnesorganen sich darbietenden sinnlichen Beschaffen heilen, wie die der Farbe oder der Wärme. Sie sind klar, denn man erkennt sie wieder und unterscheidet sie leicht voneinander, aber sie sind nicht deutlich, denn man unterscheidet nicht das, was sie in sich schließen. Daher kann man von ihnen keine Definition geben. Man zeigt sie nur durch Beispiele auf und muß übrigens sagen, daß es ein unbekanntes Etwas ist, bis man ihre innere Beschaffenheit entziffert. Obgleich also die deutliches Vorstellungen nach unserer Definition den Gegenstand von einem anderen unterscheiden, so nennen wir doch, da die klaren, aber in sich verworrenen Vorstellungen es auch tun, deutlich nicht alle diejenigen, welche wohl unterscheidende sind oder welche die Gegenstände unterscheiden, sondern diejenigen, welche wohl unterschieden sind, d.h. welche in sich selbst deutlich sind und in dem Gegenstande die ihn kenntlich machenden Merkmale unterscheiden, was die Analyse oder Definition ergibt: sonst nennen wir sie verworren. Und in diesem Sinne kann die in unseren Vorstellungen herrschende Verwirrung, da sie eine Unvollkommenheit unserer Natur ist, nicht getadelt werden, denn wir können z.B. die Ursache der Gerüche und Geschmäcke nicht unterscheiden, noch was diese Beschaffenheiten in sich schließen. Tadelnswert kann jedoch diese Verworrenheit sein, wenn es wichtig und in meiner Gewalt stehend ist, deutliche Vorstellung zu haben, wie wenn ich z.B. falsches Gold für echtes ansehe, indem ich die notwendigen Versuche zu machen unterlasse welche die Zeichen des guten Goldes angeben.[250]

§ 5. Philalethes. Man wird aber sagen, daß es nach Ihrem Wortsinn gar keine verworrene (oder vielmehr dunkle) Vorstellung gibt, denn sie kann immer nur so sein, wie sie vom Geiste wahrgenommen wird, und dies unterscheidet sie hinlänglich von allen übrigen. § 6. Und um diese Schwierigkeit zu heben, muß man wissen, daß die Mangelhaftigkeit in den Vorstellungen aus den Bezeichnungen stammt, und das, was sie fehlerhaft macht, der Umstand ist, daß sie mitunter ebensogut durch einen anderen Namen bezeichnet werden können als durch denjenigen, dessen man sich, um sie auszudrücken, bedient hat.

Theophilus. Mir scheint, daß man dies nicht von der Bezeichnung abhängig machen dürfe. Alexander der Große hatte (der Sage nach) im Traum eine Pflanze gesehen, welche den Lysimachus zu heilen imstande sein wollte. Sie wurde nachher Lysimachea genannt, weil sie diesen Freund des Königs in der Tat heilte. Als nun Alexander sich einen ganzen Haufen Pflanzen bringen ließ, unter denen er diejenige wiedererkannte, welche er im Traume gesehen hatte, so würde offenbar wenn er glücklicherweise nicht eine genügende Vorstellung von ihr, um sie wiederzuerkennen, gehabt und wie Nebukadnezar einen Daniel, um sich seinen Traum wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, nötig gehabt hätte, die Vorstellung, welche er davon gehabt hatte, dunkel und unvollkommen gewesen sein – denn so möchte ich sie lieber nennen, als verworren – nicht etwa, weil er auf irgend eine Benennung sie richtig zu beziehen versäumt hätte, denn es gab eine solche gar nicht, sondern aus Mangel an Beziehung auf die Sache d.h. auf die zur Teilung bestimmte Pflanze. In diesem letzteren Falle würde sich Alexander gewisser Umstände erinnert haben, aber über andere wäre er im Zweifel gewesen, und da die Benennung uns dazu dient, etwas zu bezeichnen, so irren wir uns, wenn wir uns in der Beziehung auf die Benennung irren, gewöhnlich hinsichtlich der Sache, die man sich unter dieser Benennung vorstellt.

§ 7. Philalethes. Da die zusammengesetzten Vorstellungen diesem Mangel am meisten unterworfen sind, so mag er daher stimmen, daß eine Vorstellung aus zu wenig Vorstellungen besteht, wie z.B. die Vorstellung[251] eines Tieres mit geflecktem Fell zu allgemein ist und nicht genügt, um den Luchs, Leopard oder Panther zu unterscheiden, welche man doch durch besondere Namen unterscheidet.

Theophilus. Befänden wir uns auf dem Standpunkte, welchen Adam einnahm, bevor er den Tieren Namen gegeben hatte, so würde dieser Mangel nichtsdestoweniger stattfinden. Denn angenommen, man wüßte, daß es unter den gedeckten Tieren eines von außerordentlich scharfem Gesicht gäbe, von dem man aber nicht wüßte, ob es ein Tiger oder ein Luchs oder eine andere Art wäre, so ist das eine Unvollkommenheit, sie nicht unterscheiden zu können. Es handelt sich also nicht sowohl um den Namen, als um das, was dessen Gegenstand sein kann und das Tier einer besonderen Bezeichnung würdig macht. Man ersieht auch daraus, daß die Vorstellung eines gedeckten Tieres an sich selbst gut und ohne Verworrenheit und Dunkelheit ist, wenn sie nur zur Bezeichnung der Gattung dienen soll; aber wenn sie, mit einer anderen Vorstellung, deren man sich nicht hinreichend erinnert, verbunden, die Art bezeichnen soll, so ist die daraus zusammengesetzte Vorstellung dunkel und unvollkommen.

§ 8. Philalethes. Es gibt einen entgegengesetzten Mangel, wenn die einfachen Vorstellungen, welche die zusammengesetzte Vorstellung bilden, zwar in hinreichender Anzahl, aber zu verwirrt und vermengt miteinander sind, wie es Gemälde gibt, die auch verworren erscheinen, wie wenn sie nur die Darstellung des mit Wolken bedeckten Himmels sein sollten, in welchem Falle man auch nicht sagen würde, daß Verwirrung darin wäre, ebensowenig, als wenn dies ein anderes, jenes nachzuahmen gemachtes Gemälde wäre; aber wenn man sagt, daß dies Gemälde ein Porträt zeigen soll, so wird man zu sagen ein Recht haben, es sei verworren, weil man nicht bestimmen kann, ob es das eines Menschen oder Affen oder Fisches ist. Indessen kann die Verwirrung möglicherweise verschwinden, wenn man es durch einen zylindrischen Spiegel betrachtet und erkennt, es sei ein Julius Cäsar. So kann auch keines der geistigen Bilder, wenn ich mich so auszudrücken wagen darf, verworren genannt werden, wie auch immer seine Teile[252] miteinander verbunden sein mögen; denn wie diese Bilder auch immer beschaffen sind, so werden sie offenbar von jedem anderen unterschieden werden können, bis sie unter einen gewöhnlichen Ausdruck gebracht sind, von dem man nicht einsehen kann, daß sie ihm mehr als irgend einem anderen Ausdruck von anderweitiger Bedeutung angehören.

Theophilus. Jenes Gemälde, dessen Teile man deutlich sieht, ohne aber das Ganze zu erkennen, wenn man sie nicht auf eine bestimmte Art betrachtet, gleicht der Vorstellung eines Steinhaufens, welche in der Tat nicht allein in Ihrem, sondern auch in meinem Sinne verworren ist, bis man Anzahl und andere Eigentümlichkeiten deutlich aufgefaßt hat. Wären z.B. 36 Steine darin, so würde man, indem man sie aufeinandergehäuft sieht, ohne daß sie geordnet sind, nicht erkennen können, daß sie ein Dreieck ebensogut als ein Viereck geben können, wie sie es in der Tat können, weil sechsunddreißig sich durch vierteilen läßt wie durch drei. So wird man auch, wenn man eine Figur von 1000 Seiten betrachtet, nur eine verworrene Vorstellung davon haben, bis man die Zahl der Seiten weiß, welche die Kubikzahl von 10 ist. Also handelt es sich nicht um Worte, sondern um bestimmte Eigenschaften, die sich in der Vorstellung finden müssen, wenn man deren Verworrenheit aufgelöst hat. Und mitunter ist es auch schwer, den Schlüssel davon zu finden oder die Art, von einem bestimmten Standpunkt aus oder durch die Vermittelung eines gewissen Spiegels oder Glases sie zu betrachten, um den Zweck dessen, der das Ding gemacht hat, zu erkennen.

§ 9. Philalethes. Man kann gleichwohl nicht leugnen, daß in den Vorstellungen noch eine dritte Art von Mangel verkommt, welche in Wahrheit von dem schlechten Gebrauch der Ausdrücke abhängt, wann nämlich unsere Vorstellungen ungewiß oder unbestimmt sind. So kann man alle Tage Leute sehen, welche, indem sie ohne Schwierigkeit sich der in ihrer Muttersprache gebräuchlichen Worte bedienen, ehe sie deren genauen Sinn gelernt haben, die Vorstellung, welche sie damit verbinden, fast ebensooft wechseln, als sie sie in ihrer Rede anwenden. § 10. So sieht man, wie sehr die Worte zu jener Bezeichnung deutlicher und verworrener Vorstellungen beitragen, und[253] daß ohne die Inbetrachtnahme bestimmter Ausdrücke, welche als Zeichen bestimmter Dinge gebraucht werden, es sehr schwer sein würde, zu sagen, was eine verworrene Vorstellung ist.

Theophilus. Dennoch habe ich das eben erklärt, ohne die Worte in Betracht zu ziehen, sei es in dem Falle, daß Verworrenheit mit Ihnen für das genommen wird, was ich Dunkelheit nenne, sei es in dem, wo sie in meinem Sinne für den Mangel der Analyse des Begriffs, den man hat, genommen wird. Und ich habe auch gezeigt, daß jede dunkle Vorstellung in der Tat undeutlich und unsicher ist, wie in jenem angezogenen Beispiel von dem gedeckten Tiere, wo, wie man weiß, diesem allgemeinen Begriff noch etwas hinzugefügt werden muß, dessen man sich nicht klar erinnert, dergestalt, daß der erste und dritte der von Ihnen bezeichneten Fehler auf dasselbe hinausläuft. Allerdings ist der Mißbrauch der Worte noch eine bedeutende Quelle von Irrtümern, denn es entsteht eine Art Rechnungsfehler daraus, wie wenn man beim Rechnen einen Zahlpfennig nicht an den rechten Ort setzte, oder die Zahlzeichen so schlecht hinschriebe, daß man eine 2 nicht von einer 7 unterscheiden könnte, oder wenn man sie ausließe oder aus Versehen verwechselt. Dieser Mißbrauch der Worte besteht darin, daß wir entweder gar keine Vorstellungen oder nur eine unvollkommene, teilweise leere und sozusagen offen gebliebene damit verbinden; und in diesen beiden Fällen gibt es etwas Leeres und Taubes im Denken, was nur durch das Wort ausgefüllt wird. Oder endlich der Fehler ist, mit dem Worte verschiedene Vorstellungen zu verbinden, sei es, daß man unsicher ist, welche davon gewählt werden muß, was die Vorstellung ebensogut dunkel macht, als wenn ein Teil davon taub ist, sei es, daß man sie wechselsweise wählt und sich bald der einen, bald der anderen Vorstellung für den Sinn desselben Wortes in demselben Gedankenzusammenhang auf eine Art bedient, welche Irrtum zu verursachen fähig ist, ohne zu bedenken, daß die Vorstellungen nicht zueinander passen. So ist das unsichere Denken entweder leer und ohne Vorstellung oder zwischen mehr als einer Vorstellung schwankend. Dies ist schädlich, sei es, daß man dem Worte einen gewissen Sinn beilegen will, welcher[254] dem bereits gebrauchten entspricht, oder dem, dessen sich die anderen, besonders in der gewöhnlichen, allen oder den Leuten vom Fach gemeinsamen Sprache bedienen. Daraus entstehen denn auch unendlich viele vage und leere Streitigkeiten in der Unterhaltung, in den Hörsälen und in den Büchern, die man mitunter durch Distinktionen beschwichtigen will; aber diese dienen meistens nur dazu, die Sache noch mehr zu verwirren, indem sie an die Stelle eines vagen und dunklen Ausdrucks andere noch vagere und noch dunklere setzen, wie häufig durch diejenigen geschieht, welche von den Philosophen in ihren Distinktionen angewandt werden, ohne daß sie gute Definitionen davon haben.

§ 12. Philalethes. Wenn es noch eine andere Art Verworrenheit in den Vorstellungen gibt, als die, welche eine geheime Beziehung zu den Bezeichnungen hat, so bringt diese wenigstens mehr als irgend eine andere in den Gedanken und Gesprächen der Menschen Unordnung hervor.

Theophilus. Das gebe ich zu, aber es mischt sich meistens irgend ein Begriff der Sache und der Absicht, in welcher man sich des Ausdrucks bedient hat, dabei ein, wie z.B. wenn man von der Kirche spricht, einige eine Regierungsgewalt im Auge haben, während andere an die Wahrheit der Lehre denken.

Philalethes. Das Mittel, dieser Verirrung zuvorzukommen, besteht darin, stets denselben Ausdruck auf einen gewissen Sammelbegriff einfacher, in bestimmter Zahl und festgesetzter Ordnung vereinigter Vorstellungen anzuwenden. Aber da dies weder der Trägheit noch der Eitelkeit der Menschen zusagt, es auch nur zur Entdeckung und Verteidigung der Wahrheit dienen kann, welches nicht immer das ihnen vorgesteckte Ziel ist, so ist eine solche Genauigkeit eines von den Dingen, die man mehr wünschen als hoffen muß. Die vage Beziehung der Ausdrücke auf undeutliche, veränderliche und fast bloßen Nichtigkeiten (in den tauben Gedanken) gleichende Vorstellungen dient auf der einen Seite dazu, unsere Unwissenheit zu bemänteln und auf der anderen Seite, die übrigen zu verwirren und in Verlegenheit zu bringen, was dann als wahres Wissen und Zeichen überlegener Gelehrsamkeit gilt.

[255] Theophilus. Zu dieser Sprachverwirrung hat auch noch das affektierte Streben nach Eleganz und gutem Ausdruck viel beigetragen; denn um die Gedanken auf eine schöne und angenehme Weise auszudrücken, trägt man kein Bedenken, den Worten durch eine Art von Tropen einen von dem gewöhnlichen ein wenig abweichenden Sinn zu geben, der bald allgemeiner, bald beschränkter, was man Synekdoche nennt, bald nach der Beziehung der Dinge, deren Bezeichnung man wechselt, übertragen ist, was bei der Zusammenstellung Metonymie, bei der Vergleichung Metapher heißt, nicht zu reden von der Ironie, deren man sich beim Gegensatz des einen gegen das andere bedient. So nennt man diese Veränderungen, wenn man sie wirklich entdeckt, aber man entdeckt sie nur selten. Und bei dieser Unbestimmtheit der Sprache, wo man jene Art von Gesetzen vermißt, welche die Wortbedeutung regeln, wie es etwas derartiges in dem Digestentitel des Römischen Rechtes: de verborum significationibus (über die Wortbedeutungen) gibt, würden die urteilsvollsten Leute, wenn sie für gewöhnliche Leser schreiben, sich dessen, was ihrem Ausdruck Reiz und Kraft verleiht, berauben, sofern sie sich an feste Bedeutungen der Ausdrucke strenge halten wollten. Sie müssen sich nur in acht nehmen, daß ihre Abwechslung keinen Irrtum und keine falsche Gedankenverknüpfung hervorbringe. Hier hat die Unterscheidung der Alten zwischen der exoterischen d.h. populären Schreibweise und der acroamatischen d.h. derjenigen statt, welche für die mit der Entdeckung der Wahrheit Beschäftigten ist. Und wenn jemand in der Metaphysik oder in der Moral als Mathematiker schreiben wollte, so würde ihn nichts hindern, dies mit aller Strenge zu tun. Manche haben sich dies zur Aufgabe gemacht und uns mathematische Beweise außerhalb der Mathematik vorgelegt, aber es ist nur sehr selten geglückt. Ich glaube, man ist der Mühe überdrüssig geworden, welche man für einen kleinen Leserkreis aufwenden mußte, wo man wie bei Persius fragen konnte: Qui leget hœc? und antworten: Vel duo, vel nemo. Gleichwohl glaube ich, daß, wenn man es gehörig angriffe, man nicht Ursache haben würde, es zu bereuen. Auch ich bin in Versuchung gewesen, es zu probieren.[256]

§ 13. Philalethes. Sie werden mir indessen beipflichten, daß die zusammengesetzten Vorstellungen auf der einen Seite sehr klar und sehr bestimmt und auf der anderen sehr dunkel und verworren sein können.

Theophilus. Daran ist nicht zu zweifeln. Wir haben z.B. von einem großen Teile der festen sichtbaren Teile des menschlichen Körpers sehr deutliche Vorstellungen, aber von den Flüssigkeiten, welche durch denselben gehen, haben wir solche nicht.

Philalethes. Wenn jemand von einer tausendseitigen Figur spricht, kann deren Vorstellung in seinem Geiste sehr dunkel sein, obschon darin die der Zahl sehr deutlich sein mag.

Theophilus. Dies Beispiel paßt hier nicht. Ein regelmäßiges tausendseitiges Vieleck kann ebenso deutlich erkannt werden wie die Zahl tausend, weil man darin alle Arten Wahrheit entdecken und beweisen kann.

Philalethes. Man hat aber keine genaue Vorstellung von einer tausendseitigen Figur, so daß man sie von einer anderen unterscheiden könnte, die nur 999 Seiten hat.

Theophilus. Dies Beispiel zeigt, daß hier Vorstellung und Bild verwechselt werden. Zeigt mir jemand ein regeln mäßiges Vieleck, so lassen mich Blick und Einbildungskraft nicht die Tausendzahl, die darin ist, fassen; ich habe nur eine verworrene Vorstellung, sowohl von der Figur als von ihrer Zahl, bis ich die letztere durch Zählen unterscheide. Habe ich sie aber gefunden, so kenne ich sehr gut die Natur und die Eigenschaften des vorliegenden Vielecks, sofern sie die des Tausendecks sind, und folglich habe ich diese Vorstellung davon; aber das Bild des Tausendecks kann ich nicht haben, und man müßte feinere und geübtere Sinne und Einbildungskraft besitzen, um durch sie das Tausendeck von einem Polygon von weniger Seiten zu unterscheiden. Aber die Kenntnis der Figuren hängt ebensowenig wie die der Zahlen von der Einbildungskraft ab, obgleich sie dazu diente und ein Mathematiker kann die Natur eines Neunecks und eines Zehnecks genau erkennen, weil er sie zu konstruieren und zu untersuchen versteht, wenn er sie auch nicht durch das Gesicht zu unterscheiden imstande ist. Allerdings wird ein Arbeiter oder ein Ingenieur, der ihre Natur vielleicht nicht erkennt, über einen großen[257] Mathematiker den Vorteil haben, daß er sie bloß durch das Gesicht, ohne sie zu messen, unterscheiden kann, wie es Lastträger gibt, welche das Gewicht dessen, was sie trügen müssen, angeben können, ohne sich um ein Pfund zu irren, worin sie den geschicktesten Statistiker der Welt übertreffen werden. Diese durch eine lange Übung erworbene erfahrungsmäßige Erkenntnis kann zum schnellen Handeln großen Nutzen haben, was ein Ingenieur der Gefahr wegen, welcher er sich durch Zögern aussetzt, oft nötig hat. Indessen besteht dies klare Bild oder diese Empfindung, die man von einem regelmäßigen Zahneck oder einem Gewicht von 99 Pfund haben kann, nur in einer verworrenen Vorstellung, da sie nicht dazu dient, die Natur und die Eigentümlichkeiten jenes Gewichts oder jenes regelmäßigen Zehnecks zu enthüllen, wie eine deutliche Vorstellung dies verlangt. Jenes Beispiel dient auch dazu, den Unterschied der Vorstellungen oder vielmehr den zwischen Vorstellung und. Bild besser zu verstehen.

§ 15. Philalethes. Ein anderes Beispiel: Wir sind zu glauben geneigt, daß wir eine positive und vollständige Vorstellung von der Ewigkeit haben, was ebensoviel ist, als wenn wir sagten, daß es in dieser Zeitlänge keinen Teil gibt, der in unserer Vorstellung nicht klar erkannt werde; aber so groß die vorgestellte Dauer auch sein mag, so ist, da es sich um eine schrankenlose Ausdehnung handelt, immer ein Teil der Vorstellung über das wirklich Vorgestellte hinaus übrig, der dunkel und unbestimmt bleibt und daher kommt es, daß wir in den die Ewigkeit oder anderes Unendliche betreffenden Streitigkeiten und Vernunftbetrachtungen dem Übel unterworfen sind, uns in offenbare Widersinnigkeiten zu verstricken.

Theophilus. Dies Beispiel scheint mir auch nicht besser für Ihren Zweck zu passen, wohl aber für den meinigen, welcher darin besteht, Ihre Begriffe über diesen Punkt zu berichtigen. Denn es herrscht darin dieselbe Verwechslung des Bildes mit der Vorstellung. Wir haben eine vollständige oder richtige Vorstellung der Ewigkeit, weil wir deren Definition haben, obschon wir davon kein Bild haben; aber man bildet nicht die Verteilung des Unendlichen durch Zusammensetzung der Teile, und die bei der denkenden Betrachtung über das Unendliche[258] begangenen Irrtümer kommen nicht vom Fehlen des Bildes her.

§ 16. Philalethes. Haben wir aber nicht, wenn wir von der Teilbarkeit der Materie ins Unendliche reden, falls wir auch klare Vorstellungen von der Teilung haben, doch nur sehr dunkle und sehr verworrene Vorstellungen der Teile selbst? Denn ich frage, ob jemand, wenn er den kleinsten Staubteil, den er jemals gesehen hat, nimmt, eine deutliche Vorstellung von dem Unterschiede zwischen dem zehntausendsten und dem zehnmillionsten Teil dieses Stäubchens hat?

Theophilus. Das ist wieder dieselbe Vertauschung des Bildes mit der Vorstellung, welche ich mich wundere so verwechselt zu sehen; es handelt sich gar nicht darum, ein Bild von so großer Kleinheit zu haben. Ein solches ist unserer gegenwärtigen Körperbeschaffenheit zufolge unmöglich, und wenn wir es haben könnten, so würde es ungefähr so sein, wie dasjenige von den Dingen, die uns jetzt bewußtbar erscheinen; dafür würde aber das, was gegenwärtig Gegenstand unserer Einbildung ist, uns entgehen und zu groß werden, um Gegenstand derselben zu sein. Die Größe an sich hat keine Bilder; und die Bilder, welche man davon hat, hangen nur von der Vergleichung zwischen den Organen und anderen Gegenständen ab; und es ist dabei unnütz, die Einbildungskraft anzuwenden. Aus allem, was Sie mir hier noch gesagt haben, geht also hervor, daß man sich Schwierigkeiten ohne Grund zu machen erfinderisch ist, indem man mehr fragt, als nötig ist.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 248-259.
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