Kapitel XXV.

Von der Relation

[216] § 1. Philalethes. Es ist noch übrig, die Vorstellungen der Relationen in Betracht zu ziehen, welche von Wirklichkeit das Geringste enthalten. Wenn der Geist ein Ding neben einem anderen ins Auge faßt, so ist das eine Relation oder Beziehung, und die darüber gebildeten Benennungen oder Relationsbezeichnungen sind wie ebenso viele Zeichen, welche unsere Gedanken über das Subjekt hinaus auf etwas davon Verschiedenes zu richten dienen; dies beides nennt man Subjekte der Relation (Relata).

Theophilus. Die Relationen und die Ordnungen haben etwas vom Gedankenwesen an sich, obgleich sie in den Dingen selbst ihren Grund haben; denn man kann sagen, daß ihre Realität, wie die der ewigen Wahrheiten und die der Möglichkeiten, aus der höchsten Vernunft stammt.

§ 5. Philalethes. Gleichwohl kann dabei eine Veränderung der Relation vorkommen, ohne daß in dem Subjekt irgend eine Veränderung geschieht. Titius, den ich heute als Vater betrachte, hört morgen, ohne daß sich in ihm irgend eine Veränderung zuträgt, allein dadurch auf, es zu sein, daß sein Sohn stirbt.

Theophilus. Man kann dies ganz mit Recht sagen Hinsicht auf das, dessen man sich bewußt ist, obgleich metaphysisch streng genommen es allerdings zufolge der wirklichen Verknüpfung aller Dinge keine gänzlich äußerliche Bezeichnung (denominatio pure extrinseca) gibt.

§ 6. Philalethes. Ich meine, daß die Relation nur zwischen zwei Dingen stattfindet.

Theophilus. Gleichwohl gibt es Beispiele von einer Relation zwischen mehreren Dingen zugleich, wie die der Ordnung oder die eines Stammbaumes, welche den Rang und die Verknüpfung aller Teile oder Ahnen ausdrücken, und sogar eine Figur, wie z.B. die eines Vielecks, schließt das gegenseitige Verhältnis aller Seiten in sich.

§ 8. Philalethes. Es ist auch gut, in Betracht zu ziehen, daß die Vorstellungen der Relationen oft viel klarer sind[216] als die der Dinge, welche die Subjekte der Relation sind. So ist das Verhältnis des Vaters viel klarer als das des Menschen.

Theophilus. Dies ist der Fall, weil diese Relation so allgemein ist, daß sie auch anderen Substanzen zukommen kann. Wie übrigens ein Subjekt Klarheit und Dunkelheit haben kann, so wird auch die Relation auf der Klarheit begründet sein können. Wenn aber das Formelle selbst der Relation die Erkenntnis dessen, was in dem Subjekt dunkel ist, in sich enthielte, so würde sie an dieser Dunkelheit teilnehmen.

§ 10. Philalethes. Die Ausdrücke, welche den Geist notwendig auf andere Vorstellungen bringen, als diejenigen sind, welche man in dem Dinge als wirklich vorhanden voraussetzt, auf das sich der Ausdruck oder das Wort bezieht, sind relativ, und die anderen sind absolut.

Theophilus. Sie haben jenes »notwendig« mit Recht hinzugefügt, und man könnte »ausdrücklich« oder »von vornherein« hinzufügen, denn man kann z.B. an das Schwarze denken, ohne an dessen Ursache zu denken. Dies kommt daher, daß man innerhalb der Schranken einer Erkenntnis sich hält, die sich von vornherein darbietet und verworren oder, wenn auch klar, doch unvollständig ist – das erstere, wenn die Vorstellung keine Analyse erfahren hat, und das letztere, wenn man sie einschränkt. Übrigens gibt es keinen so absoluten er so abgegrenzten Ausdruck, der nicht Relationen in sich schließt und dessen vollständige Analyse nicht auf anderes und sogar auf alles andere führt, dergestalt, daß man sagen kann, die Relationsausdrücke bezeichnen ausdrücklich die Beziehung, welche sie enthalten. Ich setze dabei das Absolute dem Relativen entgegen und zwar in einem anderen Sinne, als ich es oben dem Beschränkten entgegengesetzt habe.[217]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 216-218.
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