Kapitel XXVIII.

Von einigen anderen Relationen und vor allem von den moralischen

[240] § 1. Philalethes. Außer den auf die Zeit, den Ort und die Kausalität gegründeten Relationen, mit denen wir uns eben beschäftigt haben, gibt es noch unendlich viele andere, von denen ich einige vorführen will. Jede einfache, der Teilung und der Steigerungsgrade fähige Vorstellung gibt Gelegenheit, die Gegenstände, an denen sie sich findet, zu vergleichen, z.B. die Vorstellung des mehr (oder weniger oder gleich) Weißen. Diese Relation kann proportional genannt werden.

Theophilus. Gleichwohl gibt es ein Übermaß ohne Proportion, und zwar hinsichtlich einer Größe, die ich unvollkommen nenne, wie z.B. wenn man sagt, daß der Winkel, welchen der Radius mit seinem Kreisbogen macht, kleiner sei als ein Rechter, denn es ist nicht möglich, daß zwischen diesen beiden Winkeln oder zwischen dem einen von ihnen und ihrem Unterschiede, welches der Nebenwinkel ist, eine Proportion stattfinde.

§ 2. Philalethes. Eine andere Gelegenheit zum Vergleich wird durch die Umstände des Ursprungs gegeben, aus denen die Relationen von Vater und Kind, Brüdern,[240] Vettern, Landsleuten entspringen. Bei uns denkt man nicht daran zu sagen: Dieser Stier ist der Großvater dieses Kalbes, oder: Diese beiden Tauben sind rechte Geschwisterkinder, denn die Sprachen richten sich nach dem Gebrauch. Aber es gibt Länder, wo die Menschen, weniger um ihre eigene Genealogie bekümmert als um die ihrer Pferde, nicht nur Namen für jedes Pferd besonders, sondern auch für deren verschiedene Verwandtschaftsgrade haben.

Theophilus. Denen der Verwandtschaft kann man noch die Vorstellung der Familie und die Familiennamen hinzufügen. Man bemerkt allerdings unter der Regierung Karls des Großen und ziemlich lange vorher oder nachher noch nicht, daß es in Deutschland, Frankreich und der Lombardei Familiennamen gibt. Es ist noch nicht lange her, daß es selbst adlige Familien im Norden gegeben hat, die keinen Namen hatten, und wo man jemand an seinem Geburtsorte nur damit bezeichnete, daß man seinen Namen und den seines Vaters nannte und übrigens, wenn er sich anderswohin begab, seinem Namen den des Ortes, woher er kam, hinzufügte. Die Araber und Turkomanen haben, wie ich glaube, noch jetzt denselben Gebrauch, da sie keine besonderen Familiennamen haben und sich begnügen, den Vater und den Großvater usw. jemandes zu nennen, und dieselbe Ehre erzeigen sie ihren kostbaren Pferden, die sie bei ihrem Namen und dem des Vaters und selbst noch weiter hinauf benennen. Auf diese Art sprach man von den Pferden, welche der Großherr der Türken dem Kaiser nach dem Frieden von Carlowitz geschickt hatte, und der selige Graf von Oldenburg, der letzte seines Stammes, dessen Marställe berühmt waren, und der ein hohes Alter erreichte, hatte Stammbäume von seinen Pferden, so daß sie ihren Adel nachweisen konnten und sogar die Porträts ihrer Vorfahren (imagines majorum) besaßen, ein bei den Römern so gesuchter Artikel. Aber um auf die Menschen zurückzukommen, so gibt es bei den Arabern und Tataren Namen von Stämmen, welche wie große Familien sind, die sich im Laufe der Zeiten ausgebreitet haben. Und diese Namen sind entweder von dem Stammvater, wie aus der Zeit des Moses, oder von dem Wohnort oder irgend einem anderen Umstand hergenommen.[241] Ein wißbegieriger Reisender Worsley, der sich von dem gegenwärtigen Zustand des wüsten Arabiens, wo er sich eine Zeitlang aufgehalten, unterrichtet hat, versichert, daß in dem ganzen Lande zwischen Ägypten und Palästina und wo Moses durchzog, es heutzutage nur drei Stämme gibt, die sich zusammen auf 5000 Menschen belaufen können. Der eine dieser Stämme nennt sich Sali von dem Stammvater her, glaube ich, dessen Nachkommenschaft das Grab wie das eines Heiligen verehrt, indem es davon Staub nimmt, den die Araber auf ihren Kopf und den ihrer Kamele streuen. Übrigens findet Blutsverwandtschaft da statt, wo derselbe Ursprung ist wie zwischen denen, deren Relation wir betrachten, aber man wird sagen können, daß verwandtschaftlicher Zusammenhang oder Affinität zwischen zwei Personen stattfindet, wenn sie mit der nämlichen Person Blutsverwandtschaft haben können, ohne sie deswegen untereinander zu haben, was sich durch Vermittlung der Heiraten so macht. Wie man jedoch nicht die Gewohnheit hat zu sagen, daß zwischen Mann und Frau Affinität stattfindet, obgleich deren Ehe Ursache der Affinität in Hinsicht auf andere Personen sein mag, so wird es vielleicht besser sein, zu sagen, daß unter denjenigen Affinität ist, die untereinander blutsverwandt sein würden, wenn Mann und Frau für eine und dieselbe Person genommen würden.

§ 3. Philalethes. Die Gründung einer Beziehung ist mitunter ein moralisches Recht, wie die eines Heerführers oder eines Bürgers. Diese Arten von Relationen, von den Verbindungen abhängig, welche die Menschen unter sich gemacht haben, sind freiwillige oder eingeführte, die man von den natürlichen unterscheiden kann. Mitunter haben die beiden gegeneinander in Relation, also in Korrelation stehenden jeder seinen besonderen Namen, die Patron und Klient, General und Soldat. Aber dies ist nicht immer so, wie man z.B. keinen Ausdruck für die hat, welche zu einem Kanzler in Beziehung stehen.

Theophilus. Es gibt mitunter natürliche Relationen, welche die Menschen mit moralischen Relationen bekleidet und bezeichnet haben, wie z.B. die Kinder das Recht haben, den gesetzlichen Teil an der Hinterlassenschaft ihrer Väter oder Mütter zu beanspruchen; junge[242] Leute haben gewisse Beschränkungen, und alte Leute gewisse Freiheiten. Indessen geschieht es auch, daß man das für natürliche Relation nimmt, was es nicht ist, wie wenn die Gesetze sagen, daß derjenige der Vater ist, welcher mit der Mutter sich innerhalb der Zeit verheiratet hat, daß das Kind ihm zugeschrieben werden kann, und dieses Setzen dessen, was eingeführte Sitte ist, an die Stelle des Natürlichen, ist mitunter nur Voraussetzung (Präsumption), also ein Urteil, wodurch das als wahr angenommen wird, was es vielleicht nicht ist, so lange man nur nicht das Gegenteil beweisen kann. Und in diesem Sinne wird der Satz: pater est, quem nuptiae demonstrant (derjenige ist Vater, den die Eheschließung als solchen nachweist), im römischen Recht und bei den meisten Völkern genommen, die ihn angenommen haben. In England aber, wie man mir mitgeteilt hat, nutzt es nichts, sein Alibi zu beweisen, wenn man nur in einem der drei Königreiche gewesen ist, so daß die Voraussetzung sich in diesem Falle in eine Fiktion oder in das verwandelt, was einige Rechtslehrer praesumtio juris et de jure nennen.

§ 4. Philalethes. Moralische Relation ist die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen den freiwilligen Handlungen der Menschen und einer Regel, welche das Urteil bestimmt, ob sie moralisch gut oder schlecht sind (§ 5), und das moralisch Gute oder moralisch Schlechte ist die Übereinstimmung oder der Gegensatz zwischen den freiwilligen Handlungen und einem bestimmten Gesetz, das uns nach Willen und Macht des Gesetzgebers (oder dessen, der das Gesetz aufrecht erhalten will) physisches Gutes oder Übles zuzieht: und dies ist dasjenige, was wir Belohnung und Strafe nennen.

Theophilus. So trefflichen Schriftstellern, wie der, dessen Ansichten Sie vertreten, ist erlaubt, die Ausdrücke nach Belieben zu wählen. Allein ebenso wahr ist, daß nach dem aufgestellten Begriff eine und dieselbe Handlung zu gleicher Zeit bei verschiedenen Gesetzgebern moralisch gut und moralisch schlimm sein kann, ganz wie unser vortrefflicher Autor vorher die Tugend für das erklärte, was gelobt wird, und folglich die nämliche Handlung, je nach den Meinungen der Leute, tugendhaft oder nicht[243] sein mag. Da dies nun der gewöhnliche Sinn nicht ist, welchen man den moralisch guten und tugendhaften Handlungen gibt, so würde ich für mich vorziehen, als Maßstab des moralischen Guten und der Tugend die unveränderliche Vernunftregel zu nehmen, welche aufrecht zu erhalten Gottes Amt ist. Auch kann man versichert sein, daß durch seine Vermittlung jedes moralische Gut ein physisches wird, oder, wie die Alten sagten, daß jedes rechtschaffene handeln nützlich sei, statt daß man, um den Begriff des Autors auszudrücken, sagen müßte, daß das moralische Gute oder Schlimme ein auferlegtes oder eingeführtes Gut oder Übel sei, welchem derjenige, der die Gewalt in Händen hat, durch Strafen oder Belohnungen Nachfolge oder Vermeiden zu verschaffen sucht. Das Gute ist, daß das, was aus Gottes allgemeiner Gesetzgebung stammt, der Natur oder der Vernunft entspricht.

§ 7. Philalethes. Es gibt drei Arten von Gesetzen: das göttliche Gesetz, das bürgerliche Gesetz und das Gesetz der Meinung oder des guten Namens. Das erste ist die Regel der Sünden oder der Pflichten, das zweite der verbrecherischen oder unschuldigen Handlungen, das dritte der Tugenden oder Laster.

Theophilus. Dem gewöhnlichen Wortsinne nach unterscheiden sich die Tugenden oder Laster von den Pflichten und den Sünden nur wie die Gewohnheiten sich von den Handlungen unterscheiden; man betrachtet die Tugend und das Laster nicht für etwas von der Meinung Abhängiges. Eine große Sünde nennt man ein Verbrechen und setzt das Unschuldige nicht dem Verbrecherischen, sondern dem Schuldigen entgegen. Das göttliche Gesetz ist von zweierlei Art, natürliches und positives. Das bürgerliche Gesetz ist positiv. Das Gesetz des guten Namens verdient den Namen Gesetz nur uneigentlich oder ist unter dem natürlichen Gesetz befaßt, wie wenn ich sagte: das Gesetz der Gesundheit, das Gesetz der Wirtschaft, wenn die Handlungen naturgemäß ein Gutes oder Übles nach sich ziehen, wie die Billigung der anderen, die Gesundheit, den Gewinn.

§ 10. Philalethes. Inder Tat behauptet man in der ganzen Welt, daß die Worte Tugend und Laster[244] Natur gute und schlimme Handlungen bedeuten, und sofern sie wirklich in diesem Sinne angewendet werden, kommt die Tugend vollständig mit dem göttlichen (natürlichen) Gesetz überein. Aber welches auch immer die Ansprüche der Menschen sein mögen, so ist klar, daß diese Worte, in ihrer besonderen Anwendung betrachtet, beständig und einzig solchen oder solchen Handlungen beigelegt werden, die in jedem Lande oder in jeder Gesellschaft als ehrenhaft oder schändlich betrachtet werden; sonst würden die Menschen sich selbst verdammen. Also ist der Maßstab dessen, was man Tugend oder Laster nennt, jene Billigung oder jene Verachtung, jenes Lob oder jener Tadel, der sich durch eine heimliche und stillschweigende Übereinstimmung bildet. Denn wenn auch die in politischen Gesellschaften vereinigten Menschen den freien Gebrauch aller Kräfte dergestalt den Händen des öffentlichen Wesens anheimgestellt haben, daß sie dieselben gegen ihre Mitbürger nicht über das hinaus, was durch das Gesetz erlaubt ist, anwenden können, so behalten sie doch immerhin die Macht für sich, gut oder schlimm von jemand zu denken, zu loben oder zu tadeln.

Theophilus. Wenn der treffliche Schriftsteller, der sich mit Ihnen in dieser Weise ausdrückt, erklärte, daß es ihm gefallen habe, diese in Rede stehende willkürliche Nominaldefinition den Worten Tugend und Lasten zu geben, so könnte man nur sagen, daß es in der Theorie zur Bequemlichkeit ihm erlaubt ist, sich vielleicht aus Mangel an anderen Ausdrücken so auszudrücken; aber es wird nötig sein, hinzuzufügen, daß diese Bedeutung dem Gebrauch nicht entspricht, daß sie selbst nicht zur Erbauung dient und in den Ohren vieler übel klingen würde, wenn sie jemand in die Praxis des Lebens und den mündlichen Verkehr einführen wollte, wie jener Schriftsteller es in der Vorrede selbst anzuerkennen scheint. Aber das würde hier zu weit gegangen sein, und wenn Sie auch zugeben, daß die Menschen von dem, was nach unveränderlichen Gesetzen von Natur tugendhaft oder lasterhaft ist, zu reden vorgeben, so behaupten Sie doch, daß sie in der Tat und Wahrheit nur von dem zu sprechen verstehen, was von der Meinung abhängt. Es scheint mir aber, daß man mit demselben Grunde auch behaupten könnte, daß die Wahrheit und[245] die Vernunft und alles, was man sonst noch Wesenhaftes nennen mag, von der Meinung abhängt, weil die Menschen, indem sie darüber urteilen, der Täuschung unterworfen sind. Ist es daher nicht in jeder Hinsicht besser zu sagen, daß die Menschen unter Tugend wie unter Wahrheit das verstehen, was der Natur entspricht, daß sie sich aber oft in der Anwendung täuschen, wobei sie sich aber doch weniger täuschen, als man denkt? Denn was sie loben, verdient gewöhnlich in gewisser Hinsicht gelobt zu werden. Die Tugend zu trinken, d.h. den Wein gut zu vertragen, ist ein Vorteil, welcher dem Bonosus dazu diente, die Barbaren sich geneigt zu machen und ihre Geheimnisse aus ihnen herauszubringen. Die nächtlichen Kräfte des Herkules, worin Bonosus auch ihm zu gleichen behauptete, waren nicht minder eine Vollkommenheit. Die List der Diebe wurde bei den Lazedämoniern belobt, und tadelnswert ist dabei nicht die Geschicklichkeit, sondern der übel angebrachte Gebrauche und diejenigen, welche man in Friedenszeit rädert, könnten mitunter in Kriegszeiten ausgezeichnete Parteigänger abgeben. So hängt alles von der Anwendung und von dem guten oder üblen Gebrauch der Vorteile, die man besitzt, ab. Auch ist es sehr oft wahr und muß nicht für etwas besonders Befremdendes genommen werden, daß die ansehen sich selbst verdammen, wie wenn sie das tun, was sie an den anderen tadeln, und oft kommt ein Widerspruch zwischen den Handlungen und den Worten vor, der dem Publikum Ärgernis gibt, da das, was ein Beamter oder ein Prediger tut und verbietet, aller Welt in die Augen springt.

§ 12. Philalethes. Überall gilt gerade dasjenige als Tugend, was man für lobenswürdig erachtet. Die Tugend und das Lob werden oft mit denselben Worten bezeichnet. Sunt hic etiam sua praemia laudi, sagt Virgil (lib. I. der Äneis v. 461), und Cicero sagt: Nihil habet natura praestantius, quam honestatem, quam dignitatem, quam decus (Quaest. Tusc. l. II. c. 20) und er fügt ein wenig darauf hinzu: Hisce ego pluribus nominibus unam rem declarare volo.

Theophilus. Allerdings haben die Alten die Tugend durch das Wort der Ehrenhaftigkeit bezeichnet, wie wenn sie lobten: inococtum generoso pectus honesto.[246] Und wahr ist auch, daß das Ehrenhafte seinen Namen von der Ehre und vom Lobe trägt. Aber das will nicht sagen, daß Tugend das ist, was man lobt, sondern daß sie das ist, was lobenswert ist, und von der Wahrheit, nicht aber von der Meinung abhängt.

Philalethes. Manche denken nicht ernstlich an das Gesetz Gottes oder hoffen, sich mit dem Urheber desselben dereinst noch versöhnen zu können, und hinsichtlich des Staatsgesetzes schmeicheln sie sich, ungestraft zu bleiben. Aber man denke nicht, daß derjenige, welcher etwas den Meinungen der Menschen seiner Umgebung und derer, denen er sich empfehlenswert machen will, entgegen tut, der Strafe ihres Tadels und ihrer Mißbilligung entgehen kann; niemand, dem noch einige Empfindung seiner eigenen Natur bleiben mag, kann unter beständiger Verachtung in Gesellschaft leben; dies ist die Stärke des Gesetzes des guten Namens.

Theophilus. Ich habe schon bemerkt, daß dies nicht sowohl die Strafe eines Gesetzes, als eine natürliche Strafe ist, welche die Handlung sich von selbst zuzieht. Freilich kümmern sich indessen viele nicht darum, weil sie gewöhnlich, wenn sie von den einen infolge irgend einer getadelten Handlung verachtet werden, Teilnehmer oder wenigstens Parteigänger finden, welche sie nicht verachten, wenn sie nur auf irgend einer anderen Seite wenn auch noch so wenig lobenswert sind. Man drückt selbst über ganz ehrlose Handlungen die Augen zu, und oft genügt es, frech und schamlos, wie jener Phormio im Terenz zu sein, damit einem alles hingehe. Wenn die Exkommunikation eine wirkliche beständige und allgemeine Verachtung hervorbringen könnte, so würde sie die Kraft eines solchen Gesetzes haben, von dem unser Autor redet, und in der Tat hatte sie bei den ersten Christen diese Wirkung und ersetzte ihnen die ihnen fehlende Gerechtigkeitspflege, um die Schuldigen zu bestrafen, ungefähr so, wie die Handwerker unter sich gewisse Gewohnheiten trotz der Gesetze aufrechterhalten, bloß durch die Verachtung, welche sie denen, die sie nicht beobachten, bezeigen. Und dies hat auch die Duelle gegen die Gesetzesbestimmungen aufrechterhalten. Es wäre zu wünschen, daß das Publikum in seinem Lob und Tadel mehr mit sich selber und der Vernunft einig wäre, und[247] daß vor allem die Großen nicht die Schlechten durch Belachen schlechter Handlungen in Schutz nehmen, wo meistens nicht der, welcher sie begangen, sondern der, welcher darunter gellten hat, durch Verachtung gestraft und ins Lächerliche gezogen zu werden scheint. Man wird auch gemeiniglich sehen, daß die Menschen nicht sowohl das Laster verachten, als die Schwäche und das Unglück. So hat das Gesetz des guten Namens wohl nötig, berichtigt und auch besser beobachtet zu werden.

§ 19. Philalethes. Ehe ich die Betrachtung der Relationen verlasse, will ich bemerken, daß wir gewöhnlich einen ebenso klaren oder noch klareren Begriff von der Relation haben, als von dem, was deren Grund ist. Wenn ich glaubte, daß Sempronia den Titus aus einem Busch geholt hat, wie man den kleinen Kindern zu sagen pflegt, und sie nachher Gajus auf dieselbe Art bekommen hat, so hätte ich einen ebenso klaren Begriff von dem brüderlichen Verhältnis zwischen Titus und Gajus, als wenn ich alles Wissen der Hebammen besäße.

Theophilus. Als man aber einmal einem Kinde sagte, daß sein kleiner, eben geborener Bruder aus einem Brunnen geholt worden sei (eine Antwort, der man sich in Deutschland bedient, um die Neugier der Kinder zu befriedigen), so antwortet das Kind, es wundere sich, daß man ihn nicht wieder in denselben Brunnen würfe, weil er so schrie und die Mutter belästigte. Jene Erklärung konnte ihm nämlich keinen Grund zu der Liebe, welche die Mutter für das Kind bezeugte, anzeigen. Man kann also sagen, daß diejenigen, welche die Gründe der Relation nicht wissen, darüber nur teilweise taube und unzureichende Gedanken haben, wie ich sie nenne, welche Gedanken indessen in gewissen Beziehungen und bei gewissen Gelegenheiten genügen können.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 240-248.
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