Kapitel XXXIII.

Von der Assoziation der Vorstellungen

[266] § 1. Philalethes. Man bemerkt oft im Denkverfahren der Menschen etwas Sonderbares, und jedermann ist dem unterworfen. Das ist nicht bloß Eigensinn oder Eigenliebe, denn oft machen die wackersten Leute sich dieses Fehler schuldig. Selbst das genügt nicht immer, ihn der Erziehung und den Vorurteilen beizumessen, – § 4 vielmehr ist es eine Art Wahnsinn, und wenn man immer[266] so handelte, würde man närrisch sein. – § 5. Dieser Fehler nun kommt von einer unnatürlichen Verbindung der Vorstellungen, die ihren Ursprung im Zufall oder in der Gewohnheit hat. – § 6. Die Neigungen oder Interessen tragen dazu bei. Gewisse Spuren des häufigen Laufs der Lebensgeister werden gebahnte Wege, wie wenn man eine bestimmte Melodie, die man verfolgt, findet, wenn man sie einmal angefangen hat. – § 7. Daher kommen die Sympathien und Antipathien, die mit uns nicht geboren werden. Ein Kind hat zu viel Honig gegessen, sich danach übel befunden und kann nun, nachdem es erwachsen ist, das Wort Honig nicht hören, ohne Ekel zu bekommen. Die Kinder sind solchen Eindrucken außerordentlich leicht zugänglich, worauf zu achten wichtig ist. Diese unregelmäßige Assoziation der Vorstellungen hat auf alle unsere Handlungen und Leidenschaften, natürliche wie moralische, einen großen Einfluß. Finsternis erweckt bei Kindern die Vorstellung von Gespenstern wegen der ihnen von diesen gemachten Erzählungen. Man denkt an jemand, den man hat, nicht ohne zugleich an das Üble, das er uns zugefügt hat oder zufügen kann, zu denken. Man meidet das Zimmer, worin man einen Freund sterben gesehen hat. Eine Mutter, die ein sehr teures Kind verloren hat, verliert mit ihm zuweilen alle ihre Freudigkeit, bis daß die Zeit den Eindruck dieser Vorstellung verwischt, was mitunter niemals geschieht. Ein Mensch, der durch eine äußerst schmerzliche Operation von der Raserei geheilt worden war, hielt sich sein Lebenlang dem verpflichtet, welcher die Operation vollzogen hatte; aber dessen Anblick zu ertragen, war ihm unmöglich. Manche hassen die Bücher ihr ganzes Leben der schlechten Behandlung wegen, welche sie in den Schulen erfahren haben. Jemand, der über einen anderen bei einer gewissen Gelegenheit eine Überlegenheit gewonnen hat, behauptet sie wohl für immer. Es ist vorgekommen, daß jemand ganz gut tanzen gelernt hatte, aber es doch nicht ausführen konnte, wenn er in dem Zimmer nicht einen Koffer hatte, demjenigen ähnlich, welcher sich in dem Zimmer, wo er gelernt, befunden hatte. – § 17. Derselbe nicht natürliche Zusammenhang der Vorstellungen findet sich bei den intellektuellen Fertigkeiten; man verknüpft z.B. die Materie[267] dergestalt mit dem Sein, als ob es nichts Immaterielles gäbe. – § 18. Man verknüpft mit seinen Meinungen den Parteistandpunkt in der Philosophie, Religion und im Staate.

Theophilus. Diese Bemerkung ist wichtig und ganz nach meinem Geschmack, und man könnte sie durch unzählige Beispiele erhärten. Descartes hatte in seiner Jugend eine Neigung für eine schielende Person gehabt und konnte sich sein ganzes Leben nicht enthalten, Personen von gleichem Fehler zugetan zu sein. Ein anderer großer Philosoph, Hobbes, konnte, wie man sagt, nicht allein an einem dunklen Ort bleiben, ohne durch die Bilder von Gespenstern erschreckt zu werden, obgleich er nicht daran glaubte – da ihm dieser Eindruck von den Erzählungen, wie man sie den Kindern vormacht, geblieben war. Manche gelehrte und verständige Leute, die durchaus über dem Aberglauben stehen, würden sich nicht entschließen, zu dreizehn bei einem Mahle zu sein, ohne dadurch aufs äußerste beunruhigt zu werden, da sie im Voraus von der Einbildung, daß einer davon im Laufe des Jahres sterben müsse, eingenommen sind. Es hat einen Edelmann gegeben, der, weil er vielleicht in seiner Jugend von einer schlecht gesteckten Nadel verwundet worden war, nicht mehr eine solche an ähnlicher Stelle sehen konnte, ohne mit Ohnmacht zu kämpfen. Ein erster Minister, welcher am Hofe seines Herrn den Rang eines Präsidenten hatte, fand sich durch den Titel des Buches von Ottavio Pisani, Lycurgus genannt, beleidigt und ließ dagegen schreiben, weil der Verfasser, indem er gegen die von ihm für überflüssig gehaltenen großen Justizbeamten redete, auch die Präsidenten genannt hatte obgleich diese Bezeichnung in der Person jenes Ministers etwas ganz anderes bezeichnete so hatte er dergestalt das Wort mit seiner Person verknüpft, daß er dadurch beleidigt war. Und dies ist einer der gewöhnlichsten Fälle von nicht natürlichen, leicht zu Täuschungen veranlassenden Assoziationen bei diesen Beziehungen der Worte auf die Gegenstände, sogar dann, wenn eine Zweideutigkeit dabei stattfindet.

Um die Quelle der nicht-natürlichen Verbindung der Vorstellungen besser zu verstehen, muß man das von mir schon oben, als ich von dem Denken der Tiere sprach[268] (Kap. XI, § 11), Bemerkte in Betracht ziehen, daß der Mensch so gut wie das Tier dem Gesetz unterworfen ist in seinem Gedächtnis und seiner Einbildungskraft das miteinander zu verbinden, was er in seinen Wahrnehmungen und seinen Erfahrungen als miteinander verluden bemerkt hat. Darin besteht der Denkprozeß der Tiere, wenn es ihn so zu nennen erlaubt ist, und oft auch der der Menschen, sofern sie sich an die Erfahrung halten und nur durch Sinnlichkeit und Beispiele geleitet werden, ohne zu prüfen, ob noch derselbe Grund obwaltet. Und da uns die Gründe oft unbekannt sind, so müssen wir auf die Beispiele in dem Maße Bezug nehmen, als sie häufig sind, denn dann ist die Erwartung oder Wiedererinnerung einer anderen gewöhnlich damit verbundenen Wahrnehmung vernünftig, vor allem, wenn es sich darum handelt, vorsichtig zu sein. Aber da die Wucht eines sehr starken Eindruckes oft ebensoviel Wirkung auf einmal hat, als die Häufigkeit und Wiederholung mehrerer mittelmäßiger Eindrücke in längerer Zeit hätten haben können, so geschieht es, daß diese Wucht in die Phantasie ein ebenso tiefes und lebhaftes Bild eingräbt, als die lange Erfahrung hätte verursachen können. Daher kommt es, daß ein zufälliger, aber gewaltsamer Eindruck in unserer Einbildungskraft und in unserem Gedächtnis zwei Vorstellungen verbindet, die schon vorher darin verbunden waren, und uns dieselbe Neigung gibt, sie zu verbinden und das Eintreten der einen nach der anderen zu erwarten, als wenn eine lange Gewohnheit ihre Verknüpfung bestätigt hätte. Also zeigt sich dabei dieselbe Wirkung der Assoziation, obgleich nicht derselbe Grund dabei stattfindet. Autorität und Gewohnheit haben auch dieselbe Wirkung wie die Erfahrung und die Vernunft; und es ist nicht leicht, sich von solchen Neigungen loszumachen. Aber es würde nicht sehr schwer zu vermeiden sein, in seinen Urteilen davon getäuscht zu werden, wenn die Menschen sich mit rechtem Ernste der Erforschung der Wahrheit befleißigten oder mit Methode verfahren wollten, wenn sie erkennen, daß diese aufzufinden für sie von Wichtigkeit ist.[269]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 266-270.
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