[49] 3. Selbstvergessen

Liä Dsï hatte zum Lehrer den alten Schang und zum Freunde den Be Gao. Als er den SINN der beiden Meister innehatte, fuhr er auf dem Winde nach Hause. Der Scholar Yin hörte davon und folgte dem Liä Dsï nach. Er blieb mehrere Monate bei ihm wohnen, ohne nach seinem Hause zu sehen; denn er hatte nichts zu tun. Er bat ihn, ihm zu eröffnen, wie man das (auf dem Winde Fliegen) mache. Zehnmal kam er zu ihm, und zehnmal sagte er ihm nichts. Da ward der Scholar Yin böse und erbat seinen Abschied. Liä Dsï sagte wieder nichts. Der Scholar Yin zog sich ein paar Monate zurück. Da er aber den Gedanken nicht loswerden konnte, wandte er[49] sich wieder an ihn. Liä Dsï sprach: »Was kommst du schon wieder?« Der Scholar Yin sprach: »Damals habe ich den Meister gefragt, und der Meister hat mir nichts gesagt, darum war ich böse auf den Meister. Das bin ich nun aber wieder los, und darum komme ich wieder.«

Liä Dsï sprach: »Damals dachte ich, du seiest hinter die Sache gekommen, und nun war es nur eine kleinliche Laune von dir! Setz' dich, ich will dir sagen, was ich bei meinem Meister gelernt habe. Nachdem ich mich an meinen Meister gewandt und Freundschaft geschlossen mit jenem andern, vergingen drei Jahre. Ich wagte im Herzen nicht über Recht und Unrecht nachzudenken noch mit meinem Munde über Vorteil und Nachteil zu reden. Da erst bekam ich von meinem Meister einen einzigen Blick. Nach fünf Jahren dachte ich in meinem Herzen wieder an Recht und Unrecht und redete mit meinem Munde wieder über Vorteil und Nachteil. Da erst heiterte sich die Miene des Meisters auf, und er lächelte. Nach sieben Jahren machte ich mir im Herzen wieder keine Gedanken mehr über Recht und Unrecht und redete mit meinem Munde keine Worte mehr über Vorteil und Nachteil. Da erst ließ mich mein Meister auf derselben Matte mit ihm sitzen. Nach neun Jahren, da machte ich einen Strich durch die Gedanken meines Herzens und die Worte meines Mundes. Ich wußte nicht mehr, ob es sich um mein Recht und Unrecht, um meinen Vorteil und Nachteil handle oder um die von andern. Noch wußte ich mehr, daß der Meister mein Lehrer war, oder jener andere mein Freund. Der Unterschied von Ich und Nicht-Ich war zu Ende. Danach hörten auch die Unterschiede der fünf Sinne auf, alle wurden sie einander gleich. Da verdichteten sich die Gedanken, der Leib ward frei, Fleisch und Bein lösten sich auf, ich hatte keine Empfindung mehr davon, worauf der Leib sich stützte, wohin der Fuß trat: ich folgte dem Wind nach Osten und Westen wie ein Baumblatt oder trockene Spreu, und wirklich weiß ich nicht, ob der Wind mich trieb oder ich den Wind.[50]

Nun sieh: Du weilst im Hause des Lehrers, und ehe noch ein Jahr herum ist, wirst du zwei-, dreimal unwillig. Kein Teil deines Leibes kann die Luft aufnehmen, keines deiner Glieder kann die Erde tragen. Kannst du da hoffen, ins Leere treten zu können und auf dem Winde zu reiten?«

Der Scholar Yin schämte sich sehr, also daß er ganz stille ward und eine lange Zeit nicht mehr zu reden wagte.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 49-51.
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