[90] 8. Selbstlosigkeit als Krankheit

[90] Lung Schu wandte sich an Wen Dschï und sprach: »Eure Kunst ist fein. Ich habe eine Krankheit, könnt Ihr sie heilen?« Wen Dschï sprach: »Ich stehe zur Verfügung. Doch sagt mir erst die Zeichen Eurer Krankheit.«

Lung Schu sprach: »Das Lob meiner Mitbürger ist für mich nicht Ehre. Der Tadel meiner Landsleute ist für mich nicht Schande. Gewinn erfreut mich nicht, Verlust betrübt mich nicht. Leben und Tod gilt mir gleich. Reichtum und Armut gilt mir gleich. Die Menschen gelten mir nicht mehr als Schweine, ich gelte mir nicht mehr als andre. Ich weile in meiner Heimat wie in einer Herberge auf der Wanderschaft. Mein Vaterland ist vor meinen Blicken wie ein fremdes Land. Unter allem diesen leide ich. Titel und Lohn spornt mich nicht an. Strafen und Bußen schrecken mich nicht ab. Wohlergehen und Verfall, Gewinn und Schaden können mich nicht wandeln. Freude und Trauer können mich nicht ändern. Darum bin ich ungeschickt zum Fürstendienst, zum Verkehr mit Verwandten und Freunden, zum Walten über Weib und Kind, zum Herrschen über Diener und Knechte. Was ist das für eine Krankheit, und welches Mittel kann sie heilen?«

Wen Dschï ließ nun den Lung Schu mit dem Rücken gegen das Licht stehen. Er selbst sah ihn vom Innern (des Zimmers) her gegen das Licht an. Dann sprach er: »Ei, ich sehe Euer Herz; seine Stelle ist ganz leer. Beinahe ein Heiliger! Sechs Öffnungen Eures Herzens münden ins All, nur eine Öffnung geht nicht durch. Heutzutage hält man heilige Weisheit für eine Krankheit. Das mag es wohl sein. Das ist aber nicht etwas, das meine geringe Kunst zu heilen vermag.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 90-91.
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