[45] 13. Zweierlei Räuber

In Tsi lebte ein Mann namens Guo, der war sehr reich. In Sung lebte ein Mann namens Hiang, der war sehr arm und ging von Sung nach Tsi, um den Mann Guo um sein Geheimnis zu bitten. Dieser sagte zu ihm: »Ich bin tüchtig im Rauben. Nachdem ich Räuber geworden, da hatte ich im ersten Jahre schon etwas, im zweiten Jahr schon genug, im dritten Jahr schon ein großes Stück Land. Von da an ging es weiter, bis zum Besitz von ganzen Dörfern und Markungen.«

Der Mann namens Hiang war hoch erfreut. Er hatte wohl die Rede vom Räubersein verstanden, aber nicht den Sinn, in dem jener Räuber war. So fing er denn an, über Mauern zu klettern und in Häuser einzubrechen, und nahm alles, was ihm unter die Hände und vor Augen kam. Nicht lange, da wurde er wegen des angehäuften Raubs bestraft und verlor so noch all seine frühere Habe dazu.

Er dachte, der Mann Guo habe ihn zum besten gehabt, ging hin und machte ihm Vorwürfe. Guo sprach: »Wie hast du denn das Räuberhandwerk betrieben?« Hiang erzählte nun, wie es ihm gegangen. Da sagte Guo: »Ei, daß du den Sinn des Räuberseins so mißverstehen konntest! Nun will ich ihn dir erklären: Ich habe sagen hören, daß der Himmel seine Zeiten und die Erde ihre Gaben hat. Ich habe des Himmels Zeiten und der Erde Gaben geraubt, die Feuchtigkeit von[45] Wolken und Regen, die Fruchtbarkeit von Berg und Tal, um mein Korn zu erzeugen und mein Getreide fett zu machen, um meine Mauern zu bauen und meine Häuser zu zimmern. Zu Lande raubte ich Vögel und Tiere, zu Wasser raubte ich Fische und Schildkröten. Alles war Raub. Denn Korn und Getreide, Erde und Holz, Vögel und Tiere, Fische und Schildkröten sind alle vom Himmel erzeugt und keineswegs mein Eigentum. Aber ich beraubte den Himmel und hatte deshalb kein Unglück. Gold aber und Edelsteine, Perlen, Kostbarkeiten, Lebensmittel, Reichtümer und Waren sind Dinge, die sich andere Menschen schon genommen haben, nicht freie Gaben des Himmels. Wenn man das raubt und wird dafür bestraft, wer kann sich darüber beklagen?«

Der Mann Hiang kam in große Zweifel und meinte, Guo wolle ihn zum zweitenmal betrügen. Da begegnete er dem Herrn Dung Go, und fragte ihn, wie das sei. Der Herr Dung Go sagte: »Ist doch schon der Gebrauch deines Leibes ein Raub. Du raubst das Gleichgewicht der beiden Weltkräfte, damit dein Leben wird und deine Gestalt besteht. Wie viel mehr sind alle äußeren Dinge Raub! In Wirklichkeit sind Himmel und Erde und alle Geschöpfe untrennbar verbunden; die die aufhäufen und besitzen wollen, sind alle im Irrtum. Der Mann namens Guo ist Räuber in selbstlosem Sinn, darum traf ihn kein Unglück; du warst Räuber aus Selbstsucht, darum wurdest du bestraft. Wer ein selbstloses Selbst hat, ist auch ein Räuber, ebenso wie der, der kein selbstloses Selbst hat, ist auch ein Räuber, ebenso wie der, der kein selbstloses Selbst hat, ein Räuber ist. Daß aber Selbstlosigkeit auf Selbstlosigkeit trifft und Selbstsucht auf Selbstsucht, ist das Wesen von Himmel und Erde. Wer das Wesen von Himmel und Erde kennt: wer ist für den ein Räuber und wer ist kein Räuber?«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 45-46.
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