[35] 3. Das Ewige im Endlichen

Meister Liä Dsï sprach: »Himmel und Erde sind nicht vollkommen, der berufene Mensch ist nicht allmächtig, und die Geschöpfe sind nicht durchaus verwendbar. Denn des Himmels Funktion ist, zu zeugen und zu schirmen, der Erde Funktion ist, zu gestalten und zu tragen, des Berufenen Funktion ist, zu lehren und umzugestalten, der Geschöpfe Funktion ist, ihrer Art zu entsprechen. Nun aber gibt es Beziehungen, wo der Himmel der Erde gegenüber im Rückstand ist, und der Berufene den Geschöpfen gegenüber begrenzt ist. Wie kommt das? Das Zeugend-Schirmende vermag nicht gestaltend zu tragen, das Gestaltend-Tragende vermag nicht belehrend umzugestalten. Der Belehrend-Umgestaltende vermag nichts wider die Natur der Dinge. Das Naturgesetzlich-Bestimmte verläßt nicht seine Stellung. Darum ist der Lauf der Welt beschränkt auf den Wechsel von Licht und Finsternis, die Lehre des Berufenen beschränkt auf Liebe und Pflicht, die[35] Art der Geschöpfe beschränkt auf Weichheit und Härte. Jedes folgt seiner Art und kann über seine Stellung nicht hinaus.

Nun aber gibt es außer dem Vorgang des Zeugens noch etwas, wodurch das Zeugen zum Zeugen wird; außer dem Vorgang des Gestaltens noch etwas, wo durch das Gestalten zum Gestalten wird; außer dem Vorgang des Tönens noch etwas, wodurch das Tönen zum Tönen wird; außer dem Vorgang der Farbenentstehung noch etwas, wodurch die Farbe zur Farbe wird; außer dem Vorgang der Geschmackserzeugung noch etwas, wodurch der Geschmack zum Geschmack wird.

Was durch das Zeugen erzeugt wird, ist der Tod; aber das, wodurch das Zeugen zum Zeugen wird, ist noch nie zu Ende gekommen. Was durch das Gestalten gestaltet wird, ist die Masse; aber das, wodurch das Gestalten zum Gestalten wird, ist noch nie ins Dasein getreten. Was durch das Tönen erzeugt wird, sind die Gehörsempfindungen; aber das, wodurch das Tönen zum Tönen wird, ist noch nie herausgekommen. Was durch die Farben erzeugt wird, sind bunte Gesichtseindrücke; aber das, wodurch die Farbe zur Farbe wird, ist noch nie sichtbar geworden. Was durch das Schmecken geschmeckt wird, sind Geschmacksempfindungen; aber das, wodurch das Schmecken zum Schmecken wird, hat sich noch niemals dargeboten.

Das alles sind die Wirkungen des Nichtseienden.

Es vermag in sich die Gegensätze zu vereinen: das Trübe und Lichte, das Weiche und Harte, das Kurze und Lange, das Runde und Eckige, das Leben und den Tod, Hitze und Kälte, Schwimmen und Untersinken, Grundton und Sekunde, Erscheinen und Verschwinden, Dunkles und Gelbes, Süßes und Bitteres, Übelriechen und Duften: Es hat kein Wissen und kein Können und ist doch allwissend und allmächtig.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 35-36.
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