[36] 4. Die Totengebeine

Kreislauf des Lebens

[36] Der Meister Liä Dsï ging nach We. Er aß unterwegs. Seine Jünger sahen hundertjähriges Totengebein. Sie bogen das Gestrüpp zurück und zeigten es ihm. Er wandte sich und sprach zu seinem Jünger Be Feng: »Ich und dieser da: wir beide haben erkannt, daß es etwas gibt, das noch nie gezeugt und noch nie gestorben ist: das ist jenseits von aller Nahrung, jenseits von aller Freude.«

Der Lebenskeim (das Plasma) hat Metamorphosen. Er wandelt sich in Pflanzen und Tiere, je nach den Bedingungen, die er vorfindet. Auch der Mensch erscheint im Lauf dieser Metamorphosen und kehrt wieder in diesen Kreislauf zurück. Alle Geschöpfe kommen aus diesem Kreislauf hervor und gehen wieder in diesen Kreislauf zurück.

Im Buche des Herrn der gelben Erde steht: »Wirkt die Form, so entsteht nicht Form, sondern Schatten; wirkt der Ton, so entsteht nicht Ton, sondern Echo; wirkt das Nichtsein, so entsteht nicht Nichtsein, sondern Sein.« Die Form ist etwas, das notwendig endet; Himmel und Erde werden vergehen, zusammen mit uns vergehen. Ob es dann ganz zu Ende ist? Wir wissen es nicht. Wie sollte der Sinn des Weltgeschehens enden, da er doch seinem Wesen nach ohne Anfang ist? Wie sollte er an eine äußerste Grenze kommen, da er doch seinem Wesen nach jenseits des zeitlichen Daseins ist? Was Leben hat, kehrt wieder zum Nichtleben; was Form hat, kehrt wieder zum Formlosen. Dieses Nichtlebende ist aber nicht seinem Wesen nach jenseits des Lebens; dieses Formlose ist aber nicht seinem Wesen nach jenseits der Formenwelt. Alles Lebendige muß nach notwendigen Gesetzen endigen. Es ist etwas, das endigt und nicht anders kann als endigen, ebenso wie das Erzeugte nicht anders kann als leben.

Wer sein Leben bewahren möchte und seine Ende verhindern, der irrt sich in den Naturverhältnissen. Was geistig ist, ist Teil des Himmels, was leiblich ist, ist Teil der Erde. Was[37] dem Himmel angehört, ist rein und flüchtig; was der Erde angehört, ist trübe und haftend. Wenn der Geist die Form verläßt, so kehrt beides zurück zu seinem wahren Wesen. Darum heißen sie die Heimgegangenen. »Heimgegangene« kommt von »heimgehen«, heimgehen in seine wahre Behausung.

Der Herr der gelben Erde sprach:


»Der Geist geht ein zu seinen Toren,

Der Leib kehrt heim zu seiner Wurzel,

Wie soll das Ich da dauern können?«


Der Mensch macht von seiner Geburt bis zu seinem Ende vier große Wandlungen durch: Kindheit, Jugend, Alter, Sterben. In der Kindheit ist die Lebenskraft gesammelt, der Wille einheitlich, der innere Friede ist auf seinem Höhepunkt. Die Außenwelt schadet nicht, das Wesen ist in sich vollkommen. In der Jugend wallt die Lebenskraft des Blutes; Wünsche und Sorgen erheben sich, die Außenwelt stürmt ein, daher reibt sich das Wesen auf. Im Greisenalter werden Wunsch und Sorge schwach. Der Leib sucht Ruhe, die Welt tritt zurück. Wohl ist die Völligkeit der Kindheit nicht erreicht, doch ist ein Abstand von der Jugendzeit. Im Sterben, da geht es zur Ruhe und kehrt zu seinem Anfang zurück.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 36-38.
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