[66] 18. Gestalt und Gehalt

Mensch und Tier

[66] Die ist oft nicht gleich, wo die Denkart gleich ist. Die Denkart ist oft nicht gleich, wo die Gestalt gleich ist. Der Berufene fragt nach der Gleichheit der Denkart und läßt die Gleichheit der Gestalt beiseite. Die große Menge hält sich an die Gleichheit der Gestalt und vernachlässigt die Gleichheit der Denkart. Wer an Gestalt mir gleicht, dem fühle ich mich nahe, den liebe ich. Wer an Gestalt von mir verschieden ist, der ist mir fremd und ich scheue ihn.

Ein Wesen, das ein Knochengerüst von sieben Fuß hat, Hand und Fuß voneinander verschieden, Haare auf dem Kopf hat und festgereihte Zähne im Mund, sich anlehnen kann und bücken, wird Mensch genannt. Aber es ist gar nicht ausgemacht, daß solch ein Mensch nicht das Herz eines Tieres hat. Aber ob er auch das Herz eines Tieres hat, so fühlt man sich wegen seiner Gestalt mit ihm verwandt. Ein Wesen, das Flügel anhat oder Hörner trägt, das geteilte Zähne hat oder gespreizte Klauen, das nach oben gerichtet ist und fliegen kann oder nach unten gerichtet ist und läuft, wird ein Tier genannt. Aber es ist gar nicht ausgemacht, daß solch ein Tier nicht das Herz eines Menschen hat. Aber ob es auch das Herz eines Menschen hat, so fühlt man sich wegen seiner Gestalt ihm fremd.

Aber Fu Hi, Nü Wa, Schen Nung, Hia Hou hatten Schlangenleib und Menschengesicht oder einen Stierkopf oder eine Tigerschnauze. Sie hatten also eine nichtmenschliche Gestalt, und doch hatten sie die geistige Kraft von Gottmenschen. Der König Gie aus dem Hause Hia, der König Dschou Sin aus dem Hause Yin, der Fürst Huan von Lu, der Fürst Mu von Tschu waren an Gestalt, Ansehen und Gesichtszügen gleich wie Menschen, aber sie hatten die Herzen von Tieren. Wenn sich die große Menge nur einzig an die Gestalt hält, um so auf die Denkart zu kommen, so kommt sie damit nicht zustande.[67]

Als der Herr der gelben Erde (Huang Di) mit dem Herrn der Feuerflammen kämpfte auf dem Felde der Hügelquelle, da führte er Bären und Wölfe, Panther und Tiger als Vorhut ins Feld und Adler und Seeadler, Falken und Weihen als Fahnenträger. Er brauchte die Tiere durch seine Macht.

Yau ließ durch Kui die Musik aufzeichnen. Er schlug die Leier, und alle Tiere des Waldes lockte er zum Tanz herbei. Wenn die Flötentöne der Schau-Musik neunmal erklangen, so kam der Vogel Phönix herbei und kreiste in der Luft. Diese wirkten auf die Tiere durch die Macht der Töne. Wie kann also das Herz der Tiere von dem der Menschen so gar verschieden sein? Ihre Gestalt und Sprache sind von denen der Menschen verschieden, und wir wissen nicht das Geheimnis, mit ihnen umzugehen. Die Gottmenschen sind allwissend und allweise, darum können sie sie zu ihrem Gebrauche leiten. Die Denkart der Tiere ist von Natur gleichartig mit der des Menschen. Sie alle streben nach Erhaltung des Lebens und borgen doch nicht diese ihre Denkart vom Menschen. Männchen und Weibchen paaren sich. Die Mütter und die Jungen lieben einander. Sie meiden die Ebene und suchen Schutz auf steilen Felsen. Sie kehren sich ab von der Kälte und kommen zur Wärme. Sie wohnen in Herden und wandern in Zügen. Die Kleinen halten sich innen, die Starken halten sich außen. Sie führen einander zur Tränke, und wenn es zu fressen gibt, rufen sie die Herde. In uralten Zeiten wohnten sie mit den Menschen zusammen und wanderten mit ihnen. Erst zur Zeit der Herren und Könige begannen sie sich zu fürchten und zerstreuten sich in die Irre. Seit den letzten Zeiten erst verstecken sie sich und laufen davon, um Leid und Schaden zu entgehen.

Im Osten ist der Staat Gie (Kiautschou). Die Leute dieses Volkes können noch vielfach die Sprache der Haustiere verstehen. Sie erreichen das wohl durch zufällige Erkenntnis. In uralter Zeit die Gottmenschen aber erkannten völlig aller[68] Wesen Eigenschaften und Zustände. Sie verstanden die Laute andersartiger Wesen. Sie waren mit ihnen zusammen und sammelten sie um sich. Sie zähmten sie und nahmen sie bei sich auf gleichwie das Menschenvolk. Darum lebten sie zusammen mit Geistern, Göttern, Kobolden und Teufeln, verstanden ferner die Menschenvölker aller Weltgegenden, und schließlich versammelten sie Vögel, Tiere, Lurche und Kerfe. Sie sagten: »Alle Geschlechter von Fleisch und Blut sind in der Denkart des Herzens nicht gar weit verschieden.« Da die Gottmenschen sie also kannten, so blieb ihre Lehre bei keinem erfolglos.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 66-69.
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