[55] 7. Tierbändigung

Der Verwalter der Tiergärten des Königs Süan von Dschou hatte einen Wärter namens Liang Yang, der war tüchtig in[55] der Pflege der Tiere. Wenn er das Futter in den Hof oder Zwinger brachte, so waren selbst Tiger und Wölfe, Adler und Geier ganz zahm. Die alten Männchen und Weibchen kamen zuerst, die Jungen in Herden hinterdrein. Die verschiedenen Arten wohnten beieinander und taten sich nichts zuleide.

Der König fürchtete, daß er seine Geschicklichkeit mit ins Grab nehme, und befahl ihm, sie den Mau Kiu Yüan zu lehren. Liang Yang sprach (zu diesem): »Mein Dienst ist gering; ich wüßte keine besondere Geschicklichkeit, die ich dir sagen könnte. Doch ich fürchte, der König denkt, ich wollte es vor dir geheimhalten; darum will ich dir mit Einem Wort meine Art der Pflege der Tiger mitteilen. Geht es nach ihrem Sinn, so empfinden sie Lust; geht es gegen ihren Sinn, so werden sie wütend. Das liegt in der Natur von allem Fleisch und Blut. Aber Lust und Wut entstehen nicht grundlos, sondern nur als Gegenwirkung von Reizung.

Wer Tiger füttert, der soll sich hüten, ihnen lebende Tiere zu geben, um der Wut willen, die beim Töten erwacht. Man muß sich hüten, ihnen ganze Tiere zu geben, um der Wut willen, die beim Zerreißen erwacht. Man muß zur Zeit ihren Hunger stillen, um zum voraus ihrer Wut zu begegnen. Die Tiger sind wohl ihrer Gattung nach vom Menschen verschieden, aber freundlich gefüttert zu werden, ist auch ihnen angenehm; darum werden sie gereizt, wenn sie etwas zu töten haben. Da es also ist, so hüte ich mich, ihnen zu Willen zu sein, daß sie nicht in Lust kommen. Denn Lust schlägt sicher in Wut um, und die Wut schlägt immer wieder in Lust um; beides sind keine in sich ruhenden Zustände.

Da ich nun in meinem Gefühl sie weder reize noch ihnen zu Willen bin, so sehen mich Tiere und Vögel als ihresgleichen an, darum spazieren sie in meinem Garten und denken nicht an ihre hohen Wälder und weiten Sümpfe; sie ruhen in meinem Zwinger und sehnen sich nicht nach verborgenen Bergen und tiefen Tälern. Durch Vernunft habe ich es dahin gebracht.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 55-56.
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